Für ein Jahr in die Wüste
„Was mache ich nach dem Abi? Was fange ich mit meinem Leben an? Ich weiß doch noch gar nicht richtig, was mir Spaß macht, aber habe gleichzeitig noch keine Lust, direkt mit dem Lernstress weiterzumachen und ein Studium zu beginnen. Ich will die Welt sehen – sehen und erleben, nicht nur Urlaub machen.“ All diese Gedanken gingen mir kurz vor meinem Schulabschluss durch den Kopf.
Also fing ich an, mich mit den mittlerweile endlosen Möglichkeiten auseinanderzusetzen. Nach Recherchen im Internet, dem Lesen von Erfahrungsberichten und Besuchen auf Informationsveranstaltungen entschied ich mich letzten Endes für einen Au-Pair-Aufenthalt in den USA. Für mindestens ein Jahr den deutschen Alltag hinter mir zu lassen, bei einer Gastfamilie in einem fremden Land zu leben und in eine neue Kultur einzutauchen, hörte sich für mich unglaublich spannend an. Und so fiel mir die Entscheidung für das Au-Pair-Programm leicht, da es mir eine gewisse Sicherheit im Ausland bot. Neben einem festen Einkommen war ich froh über die Gewissheit, immer ein Dach über dem Kopf zu haben. Man fliegt zwar immer noch mehr oder weniger ins Ungewisse, kann sich aber besser darauf vorbereiten, indem man zum Beispiel schon vor der Abreise mit der Gastfamilie in Kontakt tritt und sich über die Umgebung informiert. So schien mir das AuPair-Programm unkomplizierter als beispielsweise Work and Travel, das für mich Unsicherheiten bezüglich der Unterkunft, der Jobsuche oder aber der schwindenden Geldreserven barg.
Dennoch kann man sich, egal wie sehr man sich mit dem Thema auseinandergesetzt hat, erst ein Bild von dem eigentlichen Au-Pair-Dasein machen, wenn man schon mittendrin steckt. Während einige Menschen einen belächeln und den Job als Urlaub abtun, haben wieder andere ein Bild im Kopf von dem reisenden Kindermädchen, das ab und an mal etwas kocht und ein bisschen hier und da auf die Kinder aufpasst. Doch so einfach ist es dann auch nicht, denn es gibt Gesetze, Regeln und Voraussetzungen, welche besonders in den USA, dem Land meiner Wahl, sehr klar formuliert sind. Wenn man als Au-Pair in die USA möchte, muss alles über eine Organisation laufen, die von der US-Regierung anerkannt ist, da ein Au-Pair-Aufenthalt ohne Organisation illegal ist. Zudem darf man als Au-Pair maximal 45 Stunden pro Woche arbeiten, bekommt wöchentlich ein festes Gehalt, hat geregelte Frei- und Urlaubszeit und verbringt einige Stunden am College. Dank der Organisation, die ich wählte, wurde ich nicht alleine ins kalte Wasser geworfen, sondern von Anfang bis zum Ende gut betreut. Ich musste anfangs eine Bewerbung erstellen, die aus mehreren Teilen bestand. So musste ich Stunden in der Kinderbetreuung nachweisen, ein kurzes Video über mich drehen und einen Brief an die potenzielle Gastfamilie formulieren, in dem ich mich vorgestellt und beschrieben habe. Darauf folgte dann ein kurzes Interview. Alles in allem kann man festhalten, dass es nicht mal eben schnell in die USA geht, sondern die Vorbereitung mit einem guten Teil Arbeit verbunden ist.
Im Gastland angekommen, ging es für mich erst einmal zu einem viertägigen Seminar der Organisation, bei dem man alles Wichtige rund um den Auslandsaufenthalt erfuhr und erste Kontakte zu anderen Au-Pairs knüpfen konnte. Der Abschied von Deutschland war doch viel schwerer als erwartet. Meine Freunde und meine Familie organisierten als Überraschung mehrere Abschiedspartys und ich bekam viele Erinnerungsgeschenke. Plötzlich wurde mir schmerzlich bewusst, was ich alles zurücklasse, und die monatelange Vorfreude wurde von Zweifeln abgelöst. Das Gefühlschaos fand den Höhepunkt in einer tränenreichen Verabschiedung von meiner Familie und allen Freunden, die mit zum Flughafen gekommen waren. Doch sobald ich die Sicherheitskontrolle hinter mir gelassen hatte, verschwanden auch die Tränen wieder und meine Vorfreude meldete sich zurück. Nach Monaten des Planens und Organisierens war der große Tag endlich gekommen und mein Auslandsabenteuer hatte begonnen. Nach vier lehrreichen Tagen mit Mädchen aus der ganzen Welt stand schon bald der zweite große Tag, das Kennenlernen meiner Gastfamilie, an. Und obwohl ich bereits seit einigen Monaten Kontakt zu meiner Gastfamilie hatte und bereits viel erfahren hatte, war es doch etwas anderes, den Personen gegenüberzustehen, mit denen man das nächste Jahr zusammenleben würde.
„Als hätte man noch nie etwas anderes getan, als Englisch zu sprechen“
Meine Nervosität wurde mir durch die herzliche Begrüßung allerdings genommen. Und da ich bereits das 13. Au-Pair meiner Gastfamilie war, verlief alles recht routiniert. Meine Gastkinder waren gut erzogen und haben besser gehört, als ich es jemals erwartet hatte. Hinzu kam, dass meine Gastfamilie zur Hälfte deutsch war, da mein Gastvater in seiner Jugend mit seiner Familie in die USA ausgewandert war. Zunächst hatte ich befürchtet, in einer bilingualen Familie mein Englisch nicht verbessern zu können, was sich jedoch als Fehlschluss entpuppte. In und auch außerhalb der Familie ergaben sich unzählige Möglichkeiten, Englisch zu sprechen und natürlich zu hören. Alles vom Einkaufen im Supermarkt, dem Kinobesuch bis hin zum Reisen bot mir die Möglichkeit, an meinen Sprachkenntnissen zu arbeiten. Und auch wenn das Englisch vor dem Jahr noch nicht gut ist, lernt man, umgeben von der Sprache, relativ schnell und fühlt sich bald, als hätte man noch nie etwas anderes getan, als Englisch zu sprechen. Als richtiges Arbeiten habe ich das Au-Pair-Dasein nie empfunden. Dazu machte es mir einfach zu viel Spaß, Zeit mit den Kindern zu verbringen. Allgemein hatte ich durch das Alter meiner zwei Gastkinder, 10 und 13 Jahre, eher die Aufgabe, sie zur Schule und allen Aktivitäten zu fahren und ihnen beim Erledigen ihrer Hausaufgaben zu helfen.
„Ich zog für ein Jahr wortwörtlich in die Wüste, nach Phoenix, Arizona“
Weder Kochen noch Putzen fielen in meinen Aufgabenbereich, sodass ich wirklich viel Freizeit hatte, die ich meistens mit Fitnessstudio- und Kinobesuchen oder Shopping- und Wandertouren füllte. Nicht nur bei den Wandertouren bemerkte ich, dass ich landschaftlich gesehen keinen größeren Kontrast hätte wählen können. Vom bewaldeten und oftmals leider auch regnerischen Heimatort in Deutschland zog ich für ein Jahr wortwörtlich in die Wüste, nach Phoenix, Arizona. Dort machte ich „enge“ Bekanntschaften mit Tieren, die ich bis zu diesem Zeitpunkt nur hinter Glas gesehen hatte, bekam unzählige exotische Kakteenarten zu Gesicht und lernte mit Temperaturen bis zu 50°C in den Sommermonaten zu leben. Besonders erinnere ich mich noch an die erste Schlange, die mir, die ich nichts ahnend am Pool entspannte, um die Füße schlängelte, den ersten Skorpion, den ich um 4 Uhr morgens einfing, oder den Tag, an dem es so heiß war, dass in den Nachrichten gezeigt wurde, wie ein Ei auf dem Beton gebraten wird. Meine Gastfamilie wohnte sehr weit außerhalb, also fast schon mitten in der Wüste, ohne richtige Straßen, Nachbarn oder Straßenlampe. Da sich selten jemand dorthin verirrte, war es doch recht einsam, aber auch dementsprechend ruhig. Die Häuser sehen sich, anders als an der Ostküste zum Beispiel, alle zum Verwechseln ähnlich: einstöckig, also in die Breite gebaut, und sandfarben, um aus der Wüste nicht herauszustechen.
In meinem Jahr habe ich viele „firsts“ erlebt, sei es der erste Arbeitstag als Au-Pair oder mein erstes amerikanisches Sportereignis. All das hat es so einzigartig gemacht, denn wann bekommt man schon mal die Chance, alles um sich herum neu zu entdecken? Der wohl passendste Begriff, um ein Au-Pair-Jahr, und damit auch meins, zu beschreiben, ist „Achterbahnfahrt“. Denn neben all den Hochs, für die es sich lohnt, gibt es natürlich auch einige Tiefs. Dazu gehören beispielsweise Heimweh, Streit mit der Gastfamilie, ungezogene Kinder, Kulturschock und Einsamkeit. Mit beiden Extremen muss jedes Au-Pair rechnen, das anhand von meinen eigenen Erfahrungen bin ich so zum Schluss gekommen, dass ich die 365 Tage in vollsten Zügen genossen habe und meine Entscheidung keinen einzigen Tag bereut habe. So schlimm das Heimweh auch gewesen sein mag, insbesondere zu Beginn des Jahres, und so sehr ich meine Liebsten zu Hause vermisst habe, weiß ich dennoch, dass es das wert war.
„Ich wollte plötzlich gar nicht mehr heim“
Auch wenn man Momente hat, in denen man alles hinschmeißen möchte, ist es doch nur ein Jahr, 365 Tage, gefüllt mit neuen Erfahrungen, Bekanntschaften und Erlebnissen, die einem keiner mehr nehmen kann und die einen ein ganzes Leben lang begleiten werden. Was ist also schon ein Moment Zweifel oder Heimweh gegen ein Leben voller toller Erinnerungen? Es lohnt sich, aus jedem einzelnen Tag das Beste zu machen. Am Ende wird man feststellen, dass das Jahr doch schneller vorbeigegangen ist als anfangs gedacht. Ich wollte plötzlich gar nicht mehr heim und hätte am liebsten die Zeit zurückgedreht. Und dennoch ist in mir auch die Vorfreude auf meine Familie und Freunde in Deutschland und mein vertrautes Umfeld ins Unermessliche gestiegen. Richtig zu Hause wird man nach einer solch prägenden Zeit aber nicht mehr sein können. Das ist der Preis, den man für seine Wanderlust zu zahlen hat. Man ist nicht mehr nur an einem Ort in der Welt zu Hause. Es ist eben doch nicht nur ein langer Urlaub, sondern ein richtiges zweites Leben, das man sich innerhalb des Jahres aufgebaut hat.
Nadja Knollmann, 23, hat ein weiteres Jahr als Au-Pair angehängt und möchte danach in den Tourismusbereich gehen. Nach wie vor hat sie Fernweh und möchte so viel von der Welt sehen wie möglich.
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