Ein Auslandssemester in Israel
An was denkt ihr, wenn ihr an Israel denkt? Unruhen? Krieg? Auf jeden Fall gefährlich, oder? Dachte ich auch. Getrieben von der Neugier, was von dem, was so oft über Israel in den Medien vermittelt wird, wirklich der Wahrheit entspricht, machte ich mich auf den Weg.
Für mich ist Israel das Zentrum der Kulturen – der Punkt, an dem Asien, Europa und Afrika aufeinandertreffen, sowohl geografisch als auch kulturell, und das hatte mich schon immer fasziniert. So stieg ich in den Flieger mit nur einem Koffer und doch recht viel Angst. Aber schon kurz nach meiner Landung in Tel Aviv verflog meine Angst. Die Lebensfreude der Israelis ist ansteckend und für Touristen beruhigend. Die erste Woche übernachtete ich bei einer Couchsurferin und erledigte alles Organisatorische: Ich schloss einen Handy-Vertrag ab, beschaffte eine Buskarte und besichtigte Wohnungen. Mein Zimmer in einer WG fand ich ziemlich schnell über eine Facebook-Gruppe, und so spontan und flexibel wie die Israelis sind, konnte ich noch am selben Abend einziehen. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass alles so schnell gehen würde. Schließlich hatte ich – typisch deutsch – bereits vier Monate vor Aufbruch eine Zwischenmieterin für mein Zimmer in Köln gefunden. Meine neue WG in Israel lag im Zentrum von Tel Aviv. Am vierten Tag hörte ich zum ersten Mal die Sirene, die vor einem Bombenangriff warnt. Sobald man diese hört, muss man sofort einen Bunker oder das Treppenhaus eines Gebäudes aufsuchen. Ich stand direkt erschrocken aus dem Bett auf und begab mich ins Treppenhaus unseres Hauses, wo ich etwa sechs Minuten ausharrte, bis es aufhörte – später sagte mir mein Mitbewohner, dass es nur ein Probealarm war. Die Erleichterung war groß, aber immerhin wurde ich so direkt am Anfang auf die Probe gestellt.
Ein Kulturschock jagte den anderen: Am Bahnhof angekommen, sah ich so viele uniformierte Soldaten mit riesigen Gewehren wie noch nie zuvor. Mit aufgerissenen Augen blickte ich um mich herum, wie die Menschen wohl darauf reagieren würden. Da fiel mir auf, dass niemand außer mir sich wunderte und sie die vielen Soldaten gar nicht erst beachteten. Schnell wurde mir klar, diese Situation gehört zum Alltag Israels. Und ich gewöhnte mich schneller an diesen Anblick als erwartet. Beim Betreten eines Einkaufszentrums, Bahnhofs oder Hochhauses wurde man kontrolliert und durchgescannt, wie ich es nur von den Flughafenkontrollen kannte. Auch daran gewöhnte ich mich, sodass ich automatisch meinen Rucksack aufs Band legte und meine Tasche leerte, als wäre es das Natürlichste auf der Welt. Der Campus meiner Partneruniversität, des Holon Institutes of Technology, hat mir unglaublich gut gefallen, denn er ist grün, bietet viele Sitzgelegenheiten und hat sogar auf dem Gelände Fitnessgeräte. „Sportlich“, dachte ich mir, als ich das sah. „Sportlich“ waren auch die einzelnen Kurse, die ich belegt hatte. Es ging zügiger und anspruchsvoller zu, als ich es von meiner deutschen Universität gewohnt war. Vor allem aber waren die meisten Kurse auf Hebräisch. Im Selbststudium hatte ich mir vor dem Flug einige Wörter und das Alphabet angeeignet, aber um den Professoren zu folgen, dafür reichte es natürlich nicht.
Glücklicherweise waren die israelischen Studenten sehr bemüht, dass alle Austauschstudenten dem Unterricht folgen konnten, und übersetzten, so gut es ging, das Wichtigste ins Englische. Es war erstaunlich, wie gut alle Israelis die englische Sprache beherrschten und mit welcher Selbstverständlichkeit sie für uns übersetzten. Dies ermöglichte mir einen schnellen Kontakt zu den Israelis und viele meiner „Übersetzer“ wurden zu guten Freunden. Mit ihnen verbrachte ich tolle Abende am Strand mit einer Flasche Wein, bei denen sie mir über die jüdischen Feste, Traditionen, ihre Zeit beim Militär – auch Frauen müssen in Israel zur Armee – berichteten und mir meine vielen Fragen beantworteten. Aus diesen Gesprächen nahm ich unheimlich viel mit und einige Bekanntschaften inspirierten mich sehr. Eines meiner Highlights war, als mich Dana, meine israelische Freundin, zum Shabbat-Abendessen zu ihrer Familie einlud. Dieses Abendessen begann ganz traditionell mit einem hebräischen Gebet, mit Brot und Salz und einem Glas Rotwein, das herumgereicht wird und von dem jeder einen Schluck nimmt. Ich empfand es als schönen Brauch, der die Familie zusammenhält. Und egal, ob man religiös ist oder nicht, dieser Brauch wird in den meisten jüdischen Familien jeden Freitag praktiziert. An diesem Abend fühlte ich mich so heimisch und glücklich, Teil dieser Familie zu sein. Neu war an diesem Abend für mich, dass es zwei unterschiedliche Bestecke gab, welche zwar dieselbe Form und Größe, aber eine andere Farbe hatten. Mir wurde erklärt, dass die Familie koscher isst, was bedeutet, dass sie Milchprodukte und Fleisch mit unterschiedlichem Besteck essen und diese streng voneinander trennen. Es gibt auch bestimmte Töpfe, die nur zur Zubereitung von Fleisch verwendet werden, und welche, die nur mit Milchprodukten in Kontakt kommen.
„Vor allem aber waren die meisten Kurse auf Hebräisch“
Was mich von Anfang an an Israel faszinierte, waren die Menschen. Mit solch einer Hilfsbereitschaft, Offenheit und Herzlichkeit hatte ich nicht gerechnet. Als Deutsche wusste ich nicht, wie man auf mich reagieren würde und ob Deutsche überhaupt willkommen seien. Diese Zweifel legten sich allerdings in den ersten Tagen. Alle Einheimischen, die mir begegneten, waren sichtlich froh, dass man ihr Land interessant findet und es besucht. Mein Alltag bestand oftmals darin, alle landestypischen Gerichte zu kosten und mir unbekannte Lebensmittel auf dem Markt zu probieren. So entdeckte ich den besten Hummus, leckere Falafel, Schakschuka, Halva und viele andere Leckereien. Tel Aviv ist solch eine lebendige Stadt: Die Israelis lieben es auszugehen, zu tanzen und zu feiern, laut zu lachen, im Park zu grillen und am Strand Ballspiele zu spielen. Kinder spielen überall, in der ganzen Stadt laufen wilde Katzen hin und her, Marktverkäufer preisen lautstark ihre Ware an, Autos hupen grundlos im Konzert – man hat das Gefühl, dass immer etwas los ist. Und so ist es auch. Zu Beginn kaufte ich mir ein eigenes Fahrrad, um mich schnell in der ganzen Stadt fortbewegen zu können und flexibel zu sein. Mit dem Fahrrad erkundete ich ganz Tel Aviv und fuhr häufig zum Strand. Ich sah so viel und es gab mir immer das Gefühl von Freiheit, an der Strandpromenade entlang zu fahren. Noch nie beobachtete ich so häufig Sonnenuntergänge wie in diesen Monaten.
„So entdeckte ich den besten Hummus, leckere Falafel, Schakschuka, Halva und viele andere Leckereien“
Nach ungefähr sechs Wochen, als ich mich bereits eingelebt hatte und so langsam der Alltag einkehrte, wagte ich mit einer anderen Austauschstudentin eine erste Tour. Es ging in die Negev-Wüste. Wir wanderten durch die steinerne Wüste und durch einen Krater, schliefen in Beduinenzelten und Lehmhütten und begegneten Steinböcken und anderen Tieren, deren Namen wir nicht kannten. Die Landschaft und die Stille in dieser Woche waren faszinierend. Zwei Tage verbrachten wir sogar in einem Selbstversorger-Dorf, einem Kibbuz, in dem wir kostenlos schlafen durften und als Gegenleistung auf der Dattelplantage halfen. Andere Ausflüge brachten mich ans Rote Meer, an dem ich schnorchelte, in den Norden, wo ich Avocados und Bananen pflückte, und ans Tote Meer, in dem ich schwebend eine Zeitschrift las. Außerdem unternahm ich sogar Kurztrips nach Nazareth und Bethlehem. Jerusalem, das ich insgesamt vier Male besuchte, ist die schönste Stadt, die ich je gesehen habe. Man spürte beim Schlendern durch die Gassen, wie alt und historisch bedeutend diese Stadt ist – eine ganz besondere Atmosphäre umgibt sie. Jedoch zeitweise auch eine sehr angespannte Atmosphäre, wie ich feststellen musste. Denn zu der Zeit meines Aufenthaltes gab es mehrere Messerattacken in Jerusalem auf israelische Soldaten durch Palästinenser.
„Jerusalem ist die schönste Stadt, die ich je gesehen habe“
Meine Eltern machten sich oft Sorgen, insbesondere einmal, als sie in den deutschen Nachrichten von einem Messerangriff an der Strandpromenade in Tel Aviv hörten, oder auch, als es eine Schießerei zwei Straßen von meiner Wohnung entfernt gab, bei der vier Menschen starben. Das waren wirklich schreckliche und traurige Vorfälle. Doch die Lebenseinstellung der Israelis ist bewundernswert. So sind sie bemüht, am nächsten Tag genau an diese Orte des Schreckens zurückzukehren, um ihr Mitgefühl und Beileid zu bekunden und zu zeigen, dass sie sich von Terrorangriffen nicht einschüchtern lassen. Als meine Eltern mich dann in Israel besuchten, waren sie beruhigt. Auch sie spürten nichts von der Angst und den Unsicherheiten. Zurück in Deutschland, dauerte es einige Wochen, bis ich mich wieder an alles gewöhnt hatte, wie zum Beispiel das regnerische kalte Wetter Europas. Ich hatte meine Familie und Freunde natürlich sehr vermisst und war froh, alle endlich wiederzusehen. Wenn ich an die vier Monate in Israel zurückdenke, kann ich nicht verstehen, wie ich jemals an der Entscheidung, das Auslandssemester dort zu verbringen, zweifeln konnte. Die vielen Erinnerungen und Eindrücke, die ich von der israelischen und jüdischen Kultur und Tradition in dieser Zeit gewonnen habe, sowie die Menschen, die ich kennengelernt habe, möchte ich nie missen. Ich habe jeden Tag in Israel genossen und kann ein Auslandssemester nur weiterempfehlen. Das ist meines Erachtens die Zeit, in der sich die Persönlichkeit am stärksten entwickelt. Also: Nehmt es mit! Genießt! Seid offen!
Lina Pfander, 26, hat vor Kurzem ihren Bachelor abgeschlossen und arbeitet nun in einer Online-Marketing-Agentur in Köln. Sie plant zudem alle europäischen Hauptstädte vor ihrem 30. Lebensjahr zu bereisen und ihre Erlebnisse in einem Reiseblog, den sie derzeit neu aufbaut, zu dokumentieren.
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