Auslandsjahr in Brasilien

Mein zweites Zuhause

GESCHRIEBEN VON: LEA DEISSENBERGER
LAND: BRASILIEN
AUFENTHALTSDAUER: 1 JAHR
ERSCHIENEN IN: (NIX FÜR) STUBENHOCKER.
DIE ZEITUNG FÜR AUSLANDSAUFENTHALTE,
NR. 10 / 2020, S. 10-11

Es war vielleicht ein Wunsch, ganz tief in mir drin, dass so etwas doch wirklich schön wäre. Auf der anderen Seite konnte ich es mir aber gar nicht vorstellen … Aber ich konnte mir früher vieles nicht vorstellen, denn als meine Mutter mir vor ein paar Jahren den Flyer von einer Austauschorganisation unter die Nase hielt und meinte, das sei doch was für mich, war meine Antwort: „So etwas mache ich doch nie im Leben!“

Und schau an, nur ein Jahr später wollte ich gerne ein Auslandsjahr in Brasilien machen. Nicht nur meine Eltern, sondern viele waren davon ziemlich überrascht. Ich glaube, einige dachten bis zu meiner Abreise immer noch, dass ich das bestimmt nicht machen würde. Doch meine Entscheidung war getroffen und ich verfolgte sie zielstrebig, auch wenn es immer wieder zahlreiche Hindernisse auf meinem Weg gab. So zum Beispiel die Finanzierung. Doch glücklicherweise stieß ich auf ein Stipendienprogramm, für welches ich mich auch gleich bewarb. Danach begannen die acht Monate des unendlichen Wartens und der schrecklichen Ungewissheit. Nicht selten kamen mir auch schon mal die Tränen, wenn ich wieder mal alle außer mir im August nach Brasilien aufbrechen sah. Aber es waren auch acht Monate, in denen ich schon vor meinem Auslandsjahr unfassbar gewachsen bin und die mich stärker gemacht haben. Dann, komplett überraschend, wie ein nachträgliches Geburtstagsgeschenk, bekam ich meine Zusage. Endlich die Gewissheit: Ich werde nach Brasilien fliegen!

Dort angekommen, fiel mir als Erstes die wunderschöne Natur auf: Überall, wo ich hinschaute, war es saftig grün, und von Meer über Palmen bis zu Obstbäumen gab es alles, was man sich wünschen konnte. Schon in diesem Moment war ich tief beeindruckt. Und genauso ging es weiter. Ich erinnere mich noch genau daran, als ich das erste Mal am türkisblauen Meer mit weißem Sandstrand stand, es fühlte sich an wie Urlaub. Oder auch, wie ich mit dem Schulbus am Meer vorbeifuhr, das erste Mal baden ging oder den Sonnenaufgang am Meer bestaunte. Egal, ob der gigantische Wasserfall oder die endlosen Strände, die brasilianische Natur hatte mich mit ihrer unfassbaren Schönheit bald in ihren Bann gezogen. Und ich bin mir sicher, dadurch wurde mein Herz bunter und reicher. Doch natürlich war nicht immer alles bunt und schön. Es gab Momente, in denen ich mich bei meiner Gastfamilie nicht wohlgefühlt habe und mich gefragt habe, warum sie mich überhaupt aufgenommen hatten. Aber trotzdem brachte mich jeden Tag etwas zum Lächeln. Egal, ob ein Wort mehr in Portugiesisch, eine Umarmung oder etwas Neues zu entdecken, all das konnte meine tägliche Portion Freude sein.

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Dennoch wechselte ich meine Gastfamilie. Leider war das aber noch nicht das Ende meiner Probleme. Es wurde zwar erstmal besser und ich fühlte mich einigermaßen wohl, doch am Ende wurde es dafür umso schlimmer. Noch nie zuvor musste ich so auf mich allein gestellt für etwas kämpfen. Meine Eltern in Deutschland waren selbstverständlich für mich da, aber so richtig natürlich auch wieder nicht. Denn es ging ja gar nicht. Natürlich hörte ich dann auch noch von anderen Austauschschülern, wie perfekt ihr Jahr war, mit der liebsten Familie, den tollsten Freunden, der besten Schule! Und da stellte ich mir die Frage, warum das bei mir nicht der Fall war. Doch jetzt weiß ich, dass alles, was die anderen erlebten oder zumindest behaupteten, nicht wichtig war. Es war mein Abenteuer und für mich war es so, wie es nun mal war. Vielleicht sollte ich durch mehr Schwierigkeiten die Möglichkeit haben, auch mehr zu lernen und stärker zu werden. Vielleicht habe ich es mehr gebraucht als andere, wer weiß. Auf jeden Fall rate ich euch, euer Auslandsjahr nicht mit dem von anderen zu vergleichen. Denn jeder ist anders und somit ist auch das Auslandsjahr individuell.

„A casa é sua, fica a vontade“ – Es ist dein Haus, fühle dich zu Hause.“

Manchmal ist an dem Spruch „Am Ende wird alles gut!“ doch etwas dran, wie man an meinem Beispiel sehen kann. Noch passend dazu ist das gleichbedeutende „tudo vai dar certo“ in Brasilien wirklich Standard. Ich weiß nicht, wie oft ich das von Freunden und Familie gehört habe – egal auf welches Problem, immer kam diese Antwort. Doch es ist wahr, denn als ich schon nicht mehr daran geglaubt hatte, kam ich in die perfekte Gastfamilie. Und es wurde noch besser: Meine Schule war fantastisch und ich lernte die besten Freunde kennen, die man sich vorstellen kann. Aber jetzt erstmal von Anfang an: Der Tag, an dem ich von meiner zweiten zur dritten Gastfamilie wechselte, veränderte alles. Ich kam in die Hauptstadt Vitória, im Bundesstaat Espiríto Santo im Südosten Brasiliens. Dort begrüßte meine Gastfamilie mich sehr herzlich mit den Worten „A casa é sua, fica a vontade“ – Es ist dein Haus, fühle dich zu Hause. Dieser Satz hat eine so große Bedeutung für mich und ich habe mir vorgenommen, ihn auch hier in Deutschland zu teilen. Ich finde es einfach nur schön, jemanden so zu empfangen, und ich konnte das erste Mal die Herzlichkeit der Brasilianer so richtig hautnah erleben.

„Ab diesem Zeitpunkt empfand ich dieses Zusammengehörigkeitsgefühl und ich war nicht mehr nur „die Deutsche“.“

Nun aber zu meinem ersten Schultag an der neuen Schule. Natürlich war ich sehr aufgeregt, meine Klasse kennenzulernen. Was mich wirklich beeindruckt hat, war, dass ich allen Mitarbeitern und sogar der Direktorin vorgestellt und von allen umarmt wurde. Der Unterricht fing schon um 7:00 Uhr an, meiner Meinung nach doch etwas zu früh. Der Nachmittagsunterricht konnte dann allerdings auch bis um 18:30 Uhr dauern. Ansonsten handelte es sich komplett um Frontalunterricht und dadurch wurde es manchmal etwas langatmig. Die Lehrer waren größtenteils nicht sehr streng, aber das bedeutete nicht, dass die Schüler keinen Respekt gehabt hätten. Stattdessen ist das Schüler-Lehrer-Verhältnis unfassbar herzlich, alle umarmen sich und die Lehrer werden auch nicht gesiezt. Ich weiß nicht mehr genau, wann es passierte, aber irgendwann fühlte ich mich komplett wohl in meiner Klasse. Ab diesem Zeitpunkt empfand ich dieses Zusammengehörigkeitsgefühl und ich war nicht mehr nur „die Deutsche“. In Vitória fiel es mir dementsprechend nicht schwer, Freunde zu finden. Meine beste Freundin lernte ich durch meinen Gastvater kennen und schloss sie schon bei der ersten Begegnung ins Herz. So eine Freundin wie sie hatte ich noch nie in Deutschland.

„Brasilien ist voller purer Lebensfreude, Energie und Gelassenheit.“

Portugiesisch sei eine schwierige Sprache, das hörte ich oft. Doch ich kam sehr gut zurecht und finde sie wunderschön. Im Laufe meines Aufenthalts wurde ich immer besser, was sicherlich auch an der großen Geduld meiner Gasteltern lag, die immer wieder alle meine Fehler verbesserten. Und der schönste Moment war für mich, als ich anfing, komplett auf Portugiesisch zu denken und zu träumen. Das wiederum half sehr in der Beziehung zu meiner Gastfamilie und Freunden, denn ich verstand ab diesem Zeitpunkt fast alles und konnte mich sehr gut verständigen. Ein anderes tolles Erlebnis war mein 16. Geburtstag, der durch eine kleine Feier mit meiner Gastfamilie und einem Treffen mit all meinen Freunden unvergesslich wurde. Ich war selbst überrascht, aber ich hatte an diesem Tag überhaupt kein Heimweh. Denn ich war in diesem Moment so dankbar für meine einzigartige Chance, diesen Tag anders und doch im Kreis lieber Menschen zu feiern. Durch drei große Reisen nach Rio de Janeiro, Sao Paulo und Florianópolis sowie kleineren Ausflügen mit meiner Gastfamilie konnte ich immer wieder neue Seiten von Brasilien entdecken. Nicht nur die bekannten Sehenswürdigkeiten, sondern auch die ärmeren Viertel lernte ich so kennen. Insgesamt bekam ich durch mein Auslandsjahr die Chance, eine Sicht auf Brasilien zu entwickeln, wie man sie als Tourist nicht bekommt. Denn ich lernte ein Land kennen, das nicht nur von Problemen wie Korruption, einer schwierigen Politik, großer Armut und Gewalt geprägt ist, wie es so oft in den Medien porträtiert wird. Nein, Brasilien ist viel mehr. Brasilien ist voller purer Lebensfreude, Energie und Gelassenheit. Es steht für Offenheit, Schönheit und Herzlichkeit.

Das Schwierigste war daher auch der Abschied von Brasilien. Die Zeit verging so schnell – unfassbar. Vollkommen überrascht wurde ich zum Abschied von meinen Freunden gleich doppelt, die eine Abschiedsparty in der Schule und am Abend organisiert hatten. Viel zu viele Tränen flossen vor Rührung! Brasilien hat mich stärker und mutiger gemacht und meine Sicht auf die Welt und mich selbst verändert. Ich habe dieses Land lieben gelernt und jetzt gehört „saudades“ zu meinem Leben – ein Wort, das nur in Brasilien existiert und ungefähr mit Sehnsucht zu übersetzen ist. „Saudades“ nach meiner brasilianischen Familie und Freunden, nach meinem Leben auf der anderen Seite der Welt. Brasilien hat einen Platz tief in meinem Herzen und begleitet mich daher auch hier in Deutschland weiter auf meinem Weg.

Lea Deißenberger, 16, geht momentan wieder in Deutschland zur Schule, um hier ihr Abitur zu machen. In den nächsten Sommerferien möchte sie auf jeden Fall nach Brasilien zurückfliegen, um ihre Familie und Freunde zu besuchen. 

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