Auslandsjahr auf „Québécois“

Im Mix der Kulturen Montreals

weltweiser · Austauschschülerin vor der Skyline von Montreal
  • GESCHRIEBEN VON: PHILOMENA HINDERMANN
  • LAND: KANADA
  • AUFENTHALTSDAUER: 12 MONATE
  • PROGRAMM: SCHÜLERAUSTAUSCH
  • ERSCHIENEN IN: (NIX FÜR) STUBENHOCKER.
    DIE ZEITUNG FÜR AUSLANDSAUFENTHALTE,
    Nr. 5 / 2015, S. 14-16

Stellt euch einen Ort vor, an dem die verschiedensten Extreme vereint sind: einsame kanadische Weite und Großstadtflair voller Trubel, eisige Winterkälte und schweißtreibende Sommerhitze, französische Romantik und „American Way of Life“. Stellt es euch genau vor. Ihr habt es vor Augen?

„Bienvenue“, „welcome“ und willkommen in Montreal! Als ich vor meiner Abreise meinen Aufenthaltsort in Kanada erfuhr, war ich außer mir vor Freude. Es erschien mir beinahe unwirklich, dass ich mein Auslandsjahr ausgerechnet in der lebendigsten Stadt von Quebec verbringen würde, in einer Provinz, die fünf Mal so groß ist wie Deutschland und trotzdem nur ein Zehntel der Einwohner hat. Schon bald sollte mir klar werden, dass Montreal viel mehr ist als nur die zweitgrößte kanadische Stadt und die zweitgrößte französischsprachige Metropole der Welt. Die erste Herausforderung war jedoch die beim Vorbereitungstreffen lang diskutierte und von allen Austauschschülern gefürchtete Einreise am Flughafen. Wir waren zu fünft, ein Haufen wild durcheinanderschnatternder Teenager, nach der Trennung von Familie und Freunden in einem Wechselbad der Gefühle und müde von einem zermürbenden, neunstündigen Flug. All die Hinweise, die wir uns nur wenige Wochen zuvor von zahlreichen ehemaligen Austauschschülern mit verständnisvollem Nicken angehört hatten, schienen weit entfernt und kaum greifbar.

In der Schlange vor dem Immigration Centre, in dem wir unsere Visa erhalten sollten, wurden die Zweifel lauter: Was passierte, wenn der Grenzbeamte unser Englisch nicht verstand? Wie gut würden wir uns verständigen können, wenn er nur Französisch sprach? Würden unsere Papiere anerkannt werden? Oder müssten wir mit dem nächsten Flugzeug nach Deutschland zurückkehren, um bereits morgen früh wieder bei unseren Eltern vor der Haustür zu stehen? War dieses Auslandsjahr überhaupt eine gute Idee? Ein hünenhafter Grenzbeamter namens Martin nahm mir meine Bedenken. Gut gelaunt sah er meine Unterlagen durch, scherzte gleichermaßen mit mir wie mit seinen Kollegen und nahm es mit Humor, als ich im Glauben, der Papierkram sei erledigt, den Schalter verließ, und er mir meinen Reisepass hinterherbringen musste. Von grimmigen Grenzbeamten und ewigen Befragungen gab es keine Spur. Die darauffolgende erste Woche war mit einem wild wuchernden Garten vergleichbar. Die Ereignisse überhäuften sich, Emotionen schlugen aus, Ideen, Bedenken und Freuden schossen aus dem Boden, manche gingen sofort wieder ein, andere sollten dauerhaft bleiben. Alles war so neu, faszinierend und ungewohnt, dass ich kaum wusste, was ich eigentlich sagte oder tat. Ich ließ mich einfach treiben im Strom der Ereignisse. Ich erblickte zum ersten Mal den Mont Royal, den königlichen Hügel, der sich hinter dem Stadtzentrum erhebt, und nahm an den Abendessen meiner großen italienischen „Welcome Family“ teil. An meinem ersten Schultag beim Betreten des alten Gebäudes fragte mich ein Junge, der Gitarre spielend am Eingang saß, nach meinem Namen. Meine Klassenlehrerin stellte gleich Pläne auf, wie sie mir ein Date für den Abschlussball verschaffen könnte.

junger Mann sitzt an Holztisch und tippt auf Laptop
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In der zweiten Woche holte mich die Wirklichkeit ein. Der Wechsel zu meiner endgültigen Gastfamilie erwischte mich plötzlicher und heftiger als erwartet. Mit einem Mal waren die italienische Großfamilie und die ständige Gesellschaft zweier weiterer Austauschschüler eingetauscht gegen eine alleinerziehende Gastmutter, deren einzige Tochter ein Jahr in Italien verbrachte. Vorbereitet waren wir beide nicht. Meine Vorstellung von der fröhlichen, unternehmungslustigen Gastfamilie, die mir von so vielen Prospekten zum Schüleraustausch entgegengelächelt hatte, stellte sich als ziemlich unrealistisch heraus. Auch meine Gastmutter hatte keinerlei Erfahrungen mit derartigen Situationen und versuchte, unangenehmes Schweigen zu vermeiden, indem sie das Abendessen kurzerhand vor den Fernseher verlegte. Doch auch, nachdem sich die anfängliche Schüchternheit und die Sprachbarrieren gelegt hatten und wir uns schließlich etwas näher kamen, stand immer ein Gefühl von Fremdheit zwischen uns. Mein sicherer Hafen war die Schule, ein quirliger Anlaufpunkt für Kunstbegeisterte jeder Art, mitten im Herzen von Montreal gelegen. Hier sah man nicht nur Graffiti-Künstler und Liebhaber der klassischen Musik Seite an Seite, sondern traf auch auf junge Menschen mit selbstgefärbten Batik-T-Shirts und Rastalocken, die ihre Geigen aus den mit Graffiti besprühten Schließfächern nahmen und mitten auf dem Gang Bachs Doppelkonzert in d-Moll spielten.

„Meine Vorstellung von der fröhlichen, unternehmungslustigen Gastfamilie stellte sich als ziemlich unrealistisch heraus.“

Ich war mittendrin, und belegte neben Französisch, Mathe und Englisch auch außergewöhnliche Kurse wie Theater, Chor, Orchester und Kino. Und während ich dienstagabendliche Orchesterproben besuchte, mehrmals die Woche in verschiedenen Chören auf Auftritte hinarbeitete, mühsam Texte für Theaterstücke auswendig lernte und in kleinen Gruppen Stummfilme drehte, begann ich allmählich, mich als Teil meiner Schule, der großen „Famille de FACE“, zu fühlen. Sicherlich gab es auch Tage, an denen einfach überhaupt nichts zu klappen schien. An diesen Tagen entpuppte sich das Französisch der Lehrer als unverständliches „Québecois“ und sämtliche meiner neu gewonnenen Freunde waren in der Mittagspause, dem sozialen Höhepunkt eines jeden Schultages, wie vom Erdboden verschluckt. Doch wenn meine mühsam herausgebrachten Sätze auf Französisch tobenden Applaus in der ganzen Klasse hervorriefen, wenn mich der kleine Klavierlehrer jeden Morgen an der Tür auf Deutsch begrüßte oder wenn mich wildfremde Schüler auf dem Gang umarmten und mir versicherten, ich sei eine tolle Austauschschülerin, wurde mir immer wieder bewusst, dass ich an diesem Ort willkommen war.

Und so wurde der Name FACE, eigentlich eine Abkürzung für „Fine Arts Core Education“, für mich zu einem Sinnbild der vielen außergewöhnlichen Gesichter, die mich im Laufe des Jahres begleiteten: Ein Lehrer, der mich vom Unterricht abhielt, um sich mit mir über die Zubereitung von Feuerzangenbowle zu unterhalten, und der mich dennoch in der nächsten Stunde wegen Zuspätkommens zum Direktor schickte. Spontane Talentshows auf dem Schulhof. Der Fußballcoach, der als Hüter des „spirit“ der Schule galt, da er mit seinen emotionalen Reden Berge versetzen konnte. Rund sechzig Jungen, die mit hautengen Leggins bekleidet synchron zu den Spice Girls tanzten, um Geld für die Abschlussfahrt zu sammeln. Das letzte Konzert, bei dem ein ganzer Abschlussjahrgang über das nahe Ende einer unvergesslichen Schulzeit vor Rührung in Tränen zerfloss. Die Mischung unterschiedlicher Ideen und Meinungen innerhalb der Schulmauern zeigte sich auch außerhalb in einer Vielfalt von Künsten, Kulturen und Sprachen. Man musste nicht erst bis Chinatown oder Little Italy laufen, um den Klang anderer Sprachen als Englisch oder Französisch zu hören. Die Mehrsprachigkeit zeigte sich nicht nur in den Straßen und auf Verkehrsschildern, sondern ebenso in den Köpfen der Menschen. Wenn meine Mitschüler einen Satz auf Französisch begannen, einige spanische Wörter einfließen ließen und schließlich auf Englisch endeten, war ich immer noch mit den ersten Worten beschäftigt und versuchte herauszufinden, welche Sprache hier eigentlich gesprochen wurde.

„Die Mehrsprachigkeit zeigte sich ebenso in den Köpfen der Menschen.“

Seltsamerweise verfolgte die Provinzregierung bei der Sprachentwicklung ganz andere Ziele. Während die Kinder in Montreal mehrsprachig dachten, träumten und lebten, liefen sogenannte Sprachpolizisten durch die Stadt und prüften mithilfe von Maßbändern, ob französische Inschriften tatsächlich die dreifache Größe der englischen hatten, und ob die Verkäufer zuerst auf Französisch grüßten. Der auf unzähligen Speisekarten geläufige italienische Begriff Pasta galt plötzlich als ernst zu nehmende Bedrohung für die Entwicklung der französischen Sprache in Quebec. Patriotismus und nationale Identität waren Begriffe, die ich zuvor bestenfalls aus dem Geschichtsunterricht gekannt hatte, nicht jedoch aus meinem Alltag in Deutschland. Vom Nationalstolz der Nordamerikaner hatte ich bereits gehört, dass dieser jedoch auch eine französische Variante hatte, war mir nicht klar gewesen. Doch ein echter „Québecois“ war stolz: auf die enorme Fläche der Provinz, auf „Les Canadiens“, die einst glorreiche Eishockeymannschaft Montreals, auf die Tatsache, weder kanadisch noch französisch, weder europäisch noch amerikanisch zu sein, und stolz auf die „Poutine“, die mit Bratensoße und Käse überbackenen Pommes frites. Doch auch die Herkunft, die eigenen Wurzeln, spielten eine wichtige Rolle. Viele Schüler meiner Klasse hatten Vorfahren aus Lateinamerika, Italien, Südkorea, Nordafrika, Haiti und China. Die meisten von ihnen beherrschten die Sprache ihrer Groß- oder Urgroßeltern und feierten zu Hause die traditionellen Feste ihres Herkunftslandes. Und zur Fußballweltmeisterschaft feuerten sie mit Herzblut und Leidenschaft die Mannschaften von Kolumbien, Brasilien und Chile an. Allerdings konnte ich auch einige meiner Freunde seufzen hören: „Ach, hätte Quebec doch nur eine eigene Nationalmannschaft!“

Auf dem Heimweg nach Deutschland blickte ich zurück auf die 357 Tage, die ich in Kanada verbracht hatte. Mein Blut war zu dickflüssigem Ahornsirup geworden und meine Augen erkannten jede Filiale der kanadischen Schnellrestaurantkette Tim Horton’s auf den ersten Blick. Ich erlebte einen eisigen Winter und einen Sommer, dessen Hitze mich tatsächlich den Winter herbeiwünschen ließ. Ich war ebenso an die unbeschreibliche Enge in der Metro gewohnt wie an den Anblick von endlosen Wäldern und Feldern, nur wenige Minuten von der Île de Montreal entfernt. Doch vor allen Dingen waren all die Eigenarten Quebecs und Kanadas zu einem wichtigen Teil meines Lebens geworden. Ich aß den Speck zum Frühstück mit Ahornsirup, vermischte ständig Englisch, Deutsch und Französisch und wusste, für welche Eishockeymannschaft ich jubeln musste. Auch wenn in Deutschland mein altes Leben auf mich wartete, blieben die Erinnerungen, die ich mitnahm, ein wichtiger Teil von mir. Das „Snowtubing“ auf Reifen mit meiner Gastmutter und ihren Freundinnen, der Schlussapplaus nach einer gelungenen Theateraufführung oder die Metrofahrten mit meinen Freunden, bei denen wir sechsstimmig „O Fortuna“ schmetterten – dies sind nur einige Beispiele der zahlreichen glücklichen Erlebnisse während meines Auslandsjahres in Montreal.

Philomena Hindermann, 17, will nach ihrem Abitur ein Studium beginnen, vielleicht geht sie dafür wieder ins Ausland.

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