Austauschjahr in Ecuador
Man kann wohl sagen, dass Ecuador oder generell ein Austauschjahr wie Früchte sind. Manche sehen schon von außen lecker aus, andere muss man erst aufschneiden oder reifen lassen, bevor sie genießbar sind. Schneidet man dann aber die Frucht auf, wird man von einem berauschenden Geruch oder Geschmack überrascht, der alle Sinne betört.
Einige Monate bin ich nun schon hier in Ecuador. Dem kleinen Land mit seiner wunderschönen Landschaft, die von den Anden über Regenwälder bis zum Meer reicht. Dem Land, das als das artenreichste Land der Erde gilt. Es kommt mir einerseits so vor, als würde ich schon sehr lange hier leben, andererseits, als wäre es erst gestern gewesen, dass ich von Quito, der höchstgelegenen Hauptstadt der Welt, zu meiner Gastfamilie gereist bin. Die Zeit vergeht wie im Flug und jeder Tag bringt neue Eindrücke, Erlebnisse und Gedanken. In Quito fing das Austauschjahr mit den ,,Orientation days“ an. Tagsüber haben wir viel über die ecuadorianische Kultur und die Unterschiede zu unseren Heimatländern geredet. Abends haben wir dann Salsa getanzt. Die Tage haben sich angefühlt wie ,,eine schützende Blase“, wie eine andere Austauschschülerin es passend formuliert hat, bevor es dann mit dem Bus oder dem Flugzeug zu den Gastfamilien ging. In meinem Fall brachte mich ein einstündiger Flug ans Ziel. Vom Flugzeug aus verabschiedete ich mich von den hohen Bergen der Anden, die Quito umgeben. In Portoviejo, einer Stadt an der Küste in der Provinz Manabí, nur 30 km vom Pazifik entfernt, traf ich dann auf meine Gastfamilie.
Meine Gastfamilie brachte mir neben zwei großen Brüdern auch eine große Schwester, die bereits Mutter ist. So bin ich nicht nur Schwester und Tochter geworden, sondern auch gleich Tante. Schon gleich in den ersten Stunden fühlte ich mich aufgenommen. Und dennoch fühlte ich mich total benommen, da so viele Leute gleichzeitig auf mich einredeten und Fragen stellten. Zudem waren meine Spanischkenntnisse eher spärlich. Plötzlich war ich mittendrin – in Ecuador. In dem kleinen Land in den Anden eine halbe Welt von Deutschland entfernt. Das Leben hier in Ecuador ist ein ständiger Lernprozess – seien es neue Wörter, die ich im Spanischen lerne, oder Gewohnheiten und Traditionen meiner Gastfamilie und des Landes. Außerdem sind die Leute von ihrer Art her viel überschwänglicher und fröhlicher als in Deutschland. So kann es passieren, dass Schüler aus einer anderen Klasse, die du gar nicht kennst, auf dich zukommen, dich umarmen und tausend Fragen haben. Fragen wie ,,Hast du einen Freund?“, „Wie viele Sprachen sprichst du?“ und „Gefällt dir Ecuador?“. Allgemein ist alles viel spontaner und der Spruch: „Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen“ scheint hier keinerlei Gültigkeit zu haben. Ganz im Gegenteil, das Motto scheint hier eher zu lauten: Was du heute machen könntest, mache besser morgen oder irgendwann. Das war am Anfang etwas schwierig, aber mittlerweile habe ich mich daran gewöhnt. Auch dass meine Freunde immer zu spät kommen, war am Anfang schwer zu verstehen, da ich selber nicht wusste, wann ich zum Treffpunkt kommen sollte. Pünktlich, 15 Minuten zu spät oder gar eine halbe Stunde bis dreiviertel Stunde später?
Dennoch treffe ich mich gerne und regelmäßig mit anderen zum Sport. Jeden Samstagmorgen trainiere ich Fußball in der Mädchenmannschaft meiner Schule. Wir sind sogar ,,Provinciales“, so etwas wie Meister der Provinz oder in Deutschland des Bundeslandes, geworden, sodass ich eine Medaille mit nach Deutschland nehmen kann. Am Nachmittag gehe ich dann noch mit meinen Brüdern, dem Mann meiner Schwester und meinem Vater Fußball spielen. Auf dem Platz treffen wir noch viele ihrer Freunde, sodass wir richtig Großfeld spielen können. Spaß ist da garantiert. Ich bin immer das einzige Mädchen, was auch sehr lustig ist. Vor allem scheint es sehr schlimm zu sein, wenn man getunnelt wird, dazu noch von einem Mädchen. Neben dem Fußball gehe ich dreimal die Woche zum Baseball, da es mir gefällt, eine Sportart zu machen, die es in Deutschland nicht gibt. Selbstverständlich treffe ich mich auch fernab des Sports gerne mit anderen und unternehme viel mit meiner Cousine, da sie im gleichen Alter ist wie ich und wir gemeinsame Interessen haben. Oft gehen wir zum Beispiel in den Park oder ins Kino. Manchmal treffen wir uns auch auf der Farm unserer Großmutter, wo es heiße Schokolade aus eigenen Kakaobohnen gibt und frisch gepflückte Mangos von den Bäumen.
„Das Leben hier in Ecuador ist ein ständiger Lernprozess“
Natürlich gibt es neben den tollen Erlebnissen auch Momente, in denen man Sachen nicht versteht oder sich unverstanden fühlt. In diesen Momenten rufe ich mir immer den Rat eines Teamers von den ,,Orientation days“ in Erinnerung: „Nichts ist besser oder schlechter hier als in euren Heimatländern, alles ist nur anders.“ Mit anderen Worten setzt das Sprichwort „Andere Länder, andere Sitten“ alles wieder in Relation und man betrachtet alles aus einer anderen Perspektive. Durch diesen Blickwechsel nehme ich vieles direkt viel lockerer und leichter. Mir ist auch aufgefallen, dass es manchmal kleine Dinge gibt, die mich total bedrücken, nur um am darauffolgenden Tag festzustellen, dass sie absolut unwichtig sind. Dann gibt es jedoch auch diejenigen Kleinigkeiten, über die man sich extrem freut. Die Unterschiede in der Wahrnehmung äußern sich gerade im emotionalen Bereich: Kleine Errungenschaften und Erlebnisse scheinen einem hier näher zu gehen als in der gewohnten Umgebung zu Hause – ob positiv oder negativ. Weiterhin stellt man sich natürlich auch viele Fragen, wenn man in eine neue Kultur eintaucht. Fragen, die mich beschäftigen, sind mitunter folgende: „Warum wird der Motor des Autos laufen gelassen, auch wenn man für längere Zeit auf jemanden wartet?“, „Warum liegt an manchen Stellen so viel Müll herum?“, „Warum gibt es im Supermarkt oder in den Läden immer so viele Plastiktüten?“ und „Warum sind freilaufende Hunde so normal?“ Und dennoch machen genau diese Fragen und dieser Perspektivenwechsel den Austausch aus.
Neue Eindrücke und Erlebnisse im Austauschjahr bietet auch der Schulbesuch. Die Schule, die ich besuche, gefällt mir sehr gut. Meine Mitschüler haben mich schon gleich am ersten Tag in die Klassengemeinschaft integriert und mich zu Unternehmungen eingeladen. Sobald ich etwas nicht verstehe, wird es mir geduldig erklärt. Alle Schüler tragen eine Schuluniform und immer, wenn ein Lehrer den Klassenraum betritt, muss man aufstehen. Ich mag meine Uniform und der Vorteil liegt darin, dass ich mir nicht jeden Morgen überlegen muss, was ich anziehen soll. Alle sehen ,,gleich“ aus, was zur Folge hat, dass niemand über die Kleidung charakterisiert werden kann. Gleich in der ersten Woche habe ich meine Hausaufgabe in ,,Lengua“, dem dortigen Spanisch-Unterricht, vor der Klasse vorgestellt. Nachdem ich fertig war, hat die ganze Klasse geklatscht und auch die Lehrerin hat sich sichtlich gefreut, mich sogar umarmt und mir die Note 10 gegeben. Das Notensystem ist hier sehr anders. Die Spanne reicht von 0 bis 10, wobei 10 die beste Note ist. Zwischen dem Unterricht ist es sehr entspannt und man kann mit seinen Freunden und Mitschülern reden oder überlegen, was man am Wochenende macht.
„Sobald ich etwas nicht verstehe, wird es mir geduldig erklärt“
Aber was ist ein Austausch eigentlich ohne kulinarische Eindrücke? Ich finde das Essen hier einfach „ricissima“, also sehr, sehr lecker. Es gibt zum Beispiel viele verschiedene Bananen mit jeweils unterschiedlichen Zubereitungsarten. Generell gibt es hier viel mehr Früchte. Diejenigen, die man auch in Deutschland kennt, wie beispielsweise Mango, werden hier teilweise anders gegessen. So isst man Mango hier auch schon unreif mit Salz und Pfeffer. Dann gibt es noch eine Reihe anderer leckerer Früchte, deren Namen ich mir noch nicht gemerkt habe. Selbstverständlich macht man aus den Früchten auch leckere und erfrischende Säfte. Oft gibt es hier Saft aus Tamarinden, den Hülsen der Tamarindenbäume, da Portoviejo auch als ,,Stadt der königlichen Tamarindenbäume“ bekannt ist. Weitere Köstlichkeiten sind das „Pan de Almidón“ und das „Pan de Yuca“, eine Art Brötchen mit Yucca, einer Wurzelknolle, oder auch Käse. Das Gericht ,,Gato encerrado“ sorgte zunächst für einige Verwirrung, denn zu Deutsch heißt es ,,eingeschlossene Katze“. Als mein Bruder dann meinte, heute Abend gibt es Katze, habe ich natürlich geantwortet, dass ich keine Katze essen möchte, bis mir dann meine Mutter erklärte, dass das Gericht aus Bananen mit Käse besteht, die in einem Teigmantel in Öl gebraten werden. Am Abend habe ich dann mit meiner Mutter zusammen gekocht und mein Urteil war: ,,qué rico“, wie lecker! Natürlich konnte ich dann auch meine Eltern beim nächsten Skypen damit schocken, dass ich Katze gegessen habe.
„Ich habe eine zweite Heimat gefunden“
Aber nicht nur das Essen ist eine Offenbarung, auch die verschiedenen Festivitäten sind ein Erlebnis. Hier wird viel mehr gefeiert und es gibt wesentlich mehr Feiertage. Sei es der ,,Tag der Flagge“, der ,,Tag der Unabhängigkeit“ oder der ,,Tag der Toten“. Zu meinem Geburtstag wurde ich natürlich auch von meiner Schwester mit dem Gesicht in die Torte gedrückt, da das hier so Tradition ist. Alles, was ich in meinem Austauschjahr erlebt habe, erlebe und erleben werde, lässt mich dem Zitat „Reisen ist das Einzige, was man kauft, das einen reicher macht!“ (Anonym) nur noch mehr zustimmen. Mit diesem Zitat kann ich gut enden. Ich bin so viel reicher an Erlebnissen, Eindrücken, Freunden und Erfahrungen geworden. Und ich weiß jetzt schon, dass es die richtige Entscheidung war, nach Ecuador zu gehen. Ich weiß jetzt schon, dass ich Ecuador mit seinem leckeren Essen, der wunderschönen Landschaft, der zum Tanzen und Mitsingen auffordernden Musik und den netten, glücklichen und überschwänglichen Leuten vermissen werde. Denn ich habe bis jetzt hier eine so schöne Zeit verbracht und Sachen erlebt, die ich nie woanders hätte erleben können, bin Teil von einer Familie geworden, die am Anfang fremd für mich war, bin Teil einer Kultur und eines Landes geworden, das ich nur aus Büchern und Erzählungen kannte, und habe eine zweite Heimat gefunden, sodass ich sagen kann: Im Herzen bin ich jetzt auch Ecuadorianerin, genauer gesagt Manabíta aus der Provinz Manabí.
Johanna Heindl, 17, besucht das Hansa-Gymnasium in Stralsund und schreibt in ihrer Freizeit für die ,,Junge Seite“ der Ostseezeitung Stralsund. Nach dem Abi möchte sie ein FSJ machen und dann voraussichtlich Jura studieren mit dem Schwerpunkt Internationales Recht oder Menschenrechte.
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