Sechs Monate Erasmus an der Sorbonne in Paris

Im Palast der Bildung

weltweiser · Erasmus · Studium · Paris
  • GESCHRIEBEN VON: PAULA STIEGLER
  • LAND: FRANKREICH
  • AUFENTHALTSDAUER: 6 MONATE
  • PROGRAMM: STUDIUM IM AUSLAND
  • ERSCHIENEN IN: (NIX FÜR) STUBENHOCKER.
    DIE ZEITUNG FÜR AUSLANDSAUFENTHALTE,
    Nr. 9 / 2019, S. 59-60

Ich packe meinen Koffer und nehme mit … Moment, nein. Ich muss mir selbst Einhalt gebieten und mich der stumpfen Einfallslosigkeit wegen schelten. Ein wenig Originalität muss gewahrt werden, dem Funken Stolzes zuliebe, der irgendwo tief in meiner Brust schlummert. Ich packe also meine kleine IKEA-Box aus weißem Karton und nehme mit: Queneau, Diderot, Zola und natürlich Camus, Sartre und de Beauvoir. Vor mir liegen sechs Monate Erasmus in Paris, ein Gaststudium der Soziologie an der Sorbonne und die selbstauferlegte, vage und gleichzeitig überwältigende Aufgabe, bestmöglich von diesem Aufenthalt zu profitieren.

Die Erwartungen an das Studium sind hoch gesteckt. Die Chance, an einer solch geschichtsträchtigen und renommierten Institution studieren zu können, bietet sich nicht alle Tage, zumal diese Gelegenheit einen lange gehegten Traum wahr werden lässt. Die Vorbereitungen laufen glatt. Fast ohne mein Zutun – so fühlt es sich zumindest an – arrangieren sich die Dinge. Zugegebenermaßen wäre ich argwöhnischer gewesen angesichts dieses unverschämten Glücks in der Wohnungs- und Jobsuche in Paris, wäre diese Sorge nicht in den seidenen Falten der Zeit entglitten. So plötzlich und unwirklich scheint mir der Moment, als ich endlich vor den sandfarbenen Mauern der Sorbonne stehe – dieses Palastes der Bildung und Stätte des Waltens meiner philosophischen Idole. Nun ja. Eine an gegenwärtige Verhältnisse angepasste Formulierung wäre Festung der Bildung. Zwei uniformierte Männer verwehren mir den Zutritt.

Die erste Hürde ist also weder eine sprachliche noch eine kulturelle, sondern eine physische und noch dazu bewaffnete. So habe ich mir das nicht ausgemalt. Nach einigen stotternden Telefonaten und der überaus freundlichen Hilfe der dortigen Erasmus-Koordinatorin werde ich an der menschlichen Schranke vorbei in die heiligen Hallen der Universität geführt. Ein erster überwältigender Blick auf den Ort, an dem ich einen nicht allzu großen Teil meiner Zeit in den kommenden Monaten verbringen werde. Ich möchte nicht verheimlichen, dass ich mir in diesem Augenblick sehr besonders vorkam. So plötzlich sich mir der Glanz der Zukunft erwartungsvoll dargeboten hat, so schnell stellt sich der Pariser Alltag ein. Nach der ersten Woche, in der ich von einem Büro ins nächste, von einer Vorlesung in die andere, von zuständiger Person zu zuständiger Person eile, nehme ich mir vor, dieses Semester langsam anzugehen. Sehr langsam. Ich wähle drei Seminare, so interessant wie irrelevant für meine heimischen Studien, und einen Sprachkurs. Meine Freizeit will ich der Lektüre der in meiner kleinen weißen IKEA-Box enthaltenen Bücher widmen.

junger Mann sitzt an Holztisch und tippt auf Laptop
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Ein gewöhnlicher Reisebericht über kurzlebige Abenteuer, mit einigen urlaubshaften Malheurs gespickt, würde meinem Pariser Leben aber keineswegs gerecht. Schließlich gilt es, mir hier eine Alltagsroutine zu eigen zu machen. Viel Zeit, mich im Vorhinein für diese nicht zu unterschätzende Aufgabe zu wappnen, hatte ich, wie bereits erwähnt, nicht. Mit der glänzenden Freude, nun tatsächlich in dieser traumhaften Stadt zu sein, geht also eine schleichende Unruhe einher, die sich im Laufe der ersten Wochen unaufhaltsam steigert. Scheinbar insignifikante Entscheidungen werden plötzlich zu unlösbaren Rätseln. Welche der zahlreichen französischen Supermarkt-Ketten hat das günstigste und gleichzeitig qualitativ akzeptabelste Sortiment? Ist es zeitsparender, mit den Metrolinien drei, elf, vier und zehn oder, einen längeren Fußweg in Kauf nehmend, nur mit der Drei und der Vier zur Uni zu fahren? Und natürlich quälen mich die typisch studentischen finanziellen Sorgen, die in Paris dazugehören. Wird mein doch recht bescheidenes Budget mir auch am Ende des Monats noch mein tägliches Eclair vom Bäcker an der Ecke erlauben? Nun ja. Letztendlich fällt es mir nicht schwer, in dieser Sache den Gürtel etwas enger oder konsequenterweise eher weiter zu schnallen, erstaunlicherweise werde ich dieses Plaisirs recht schnell überdrüssig. Fast ohne es zu merken, füge ich mich nach und nach dem Rhythmus meiner Tage und schließlich Wochen.

Sogar für meinen kleinen Geldbeutel lassen sich schonende Alternativen finden. Bald frequentiere ich den Wochenmarkt im Viertel regelmäßig, eine Routine, die mir nicht nur aus Sparsamkeit große Freude bereitet. Wenn ich jeden Mittwoch und Montag sehr früh morgens aufstehe, um noch von der Auswahl an frischem Gemüse zu profitieren, das an meine präferierte Markthändlerin geliefert wird, spüre ich eine beruhigende Vertrautheit. Abermals habe ich dieses Gefühl meiner kleinen weißen IKEA-Box zu verdanken: Zolas detailgetreue Beschreibung der Pariser Markthallen in Der Bauch von Paris spiegelt sich in meiner Realität. Die Stände, überquellend mit Farben und Düften, umschwirrt von feilbietenden, feilschenden Händlerinnen und Händlern, beäugt von allerlei unscheinbaren bis skurrilen, gleichermaßen geschäftigen Käuferinnen und Käufern, wirken dank meiner Lektüre altbekannt. Das Leben im Viertel ist mir schnell vertraut geworden. Variierende Gerüche im Treppenhaus, dessen sechs Stockwerke ich täglich mehrmals erzwinge; verschrobene Nachbarinnen und Nachbarn; der Tabakladen an der Kreuzung mit seinen Betreibern, die jeden Tag mit neuen Anekdoten über die Kundinnen und Kunden aufwarten können; der an regnerischen und kalten Nächten in unserem Hauseingang Zuflucht suchende Mensch, über den ich mit angehaltener Luft vorsichtig hinwegsteige, um ihn nicht aufzuwecken. All jene zweifelhaften Freuden sind mir über die Monate lieb geworden.

„So plötzlich sich mir der Glanz der Zukunft erwartungsvoll dargeboten hat, so schnell stellt sich der Pariser Alltag ein.“

Doch Paris ist größer als mein Quartier zwischen Périphérique und Père Lachaise, es gilt, die zahlreichen Gesichter der Stadt zu entdecken. Mit dem 900-seitigen dritten Band der Memoiren von Simone de Beauvoir in meiner Tasche ziehe ich also durch die Straßen. Es macht mir Spaß, die Orte aufzusuchen und manchmal auch zufällig darüber zu stolpern, an denen die Schriftstellerin und ihre Bande aus hellen Köpfen gewirkt und gewaltet haben. Jedes Mal, wenn ich ein Detail der erzählten Vergangenheit geistig mit meiner Gegenwart verknüpfen kann, regt sich in mir so etwas wie unvoreingenommener Stolz: Hier zu sein, und nirgends anders. Doch so ungetrübt, wie ich mich anfangs selbst glauben mache, ist diese Freude nicht. Als ich, erstaunt über meine leise Enttäuschung angesichts der fast nachlässig wirkenden Schlichtheit dieser Stätte des Gedenkens, vor dem Grabmal Simone de Beauvoirs und Jean-Paul Sartres stehe, fällt mir auf, wie gerne ich meine Erlebnisse teilen möchte und wie alleine ich in Gesellschaft meiner toten Ikonen, in dieser großen Stadt, bin. Das Einzelgängerinnentum habe ich mir selbst zuzuschreiben, ich habe es vielleicht etwas zu voreilig abgelehnt, mit den anderen Erasmus-Studierenden Kontakt zu knüpfen, da ich der Meinung war, durch solche Bekanntschaften die Möglichkeiten des Französisch-Lernens und die authentische Paris-Erfahrung zu missen. Nun ja, Letzteres mag mir durch diese Strategie vergönnt gewesen sein, doch ohne einen Austausch darüber scheinen mir meine Erlebnisse fad.

„Mit dem 900-seitigen dritten Band der Memoiren von Simone de Beauvoir in meiner Tasche ziehe ich also durch die Straßen.“

Bisher haben sich meine Dialoge auf das Kritzeln in ein altes Notizbuch und auf die Lektüre der Bücher in meiner kleinen weißen IKEA-Box beschränkt. Es ist Zeit, meine zugegebenermaßen etwas überhebliche Einstellung zu meinen Mitstudierenden zu überdenken. Trotz meiner schüchternen, aber beherzten Versuche, Kontakt mit allen möglichen interessant wirkenden Menschen in meinem Umfeld aufzunehmen, zeigen sich die Pariserinnen und Pariser unnahbar. An der Universität fällt es mir schwer, Anschluss zu finden, da zum einen meine Kommilitoninnen und Kommilitonen sehr jung und noch dazu in ihren festen Freundeskreisen integriert sind und zum anderen ein Großteil der Kurse aufgrund der Blockaden und Streiks an den Universitäten suspendiert wird. Das ist spannend und ich wittere eine Gelegenheit, Kontakte zu knüpfen, doch schnell stellt sich heraus, dass diese Bewegung so arkan ist, wie es ihr Zweck verlangt. Abermals verfolge ich das Geschehen also nur von außen und beschließe, mich mittels der Lektüre von tagesaktuellen Artikeln sowie historischen Analysen der politischen Situation indirekt zu beteiligen. Außerhalb des universitären Umfelds kann ich größere Erfolge in meiner Suche nach zwischenmenschlicher Interaktion verbuchen. In einer kleinen Bar im Marais lerne ich eine Gruppe von Menschen kennen, die mich unter ihre Fittiche nehmen. Für einige Wochen erlebe ich Paris aus der Sicht von seinen ureigensten Kreaturen und schnell geht mir auf, wie hart das Pflaster hier sein kann. Claire zieht bald darauf in den Süden, Cécile verschwindet im Strudel des Leistungsdrucks an den Eliteschulen, Nicolas arbeitet täglich zwei Jobs, um sich über Wasser zu halten. Ich bin wieder alleine mit meinen Büchern.

Aber je mehr ich mich mit den geschriebenen Worten aus meiner kleinen weißen IKEA-Box befasse, desto mehr verwebe ich mich auch in die Geschichten der Stadt. Auf meinen Streiftouren durch die sympathisch-chaotischen Second-Hand-Buchläden in Belleville, durch die noblen Antiquitäten-Geschäfte in Saint-Germain-des-Prés, durch die unsortierten Bücherstapel der Flohmärkte an der Porte de Clignancourt oder durch die kitschigen Souvenirshops Montmartres sammele ich wertvolle Schätze aus bedrucktem Papier an. Bald schließt der Deckel meiner besagten Bücherbox nicht mehr. Wenn ich Paris verlasse, werde ich mit mindestens zwei Kartons voller Bücher zurückkehren. Und hier lässt sich diese unsägliche Metapher von der kleinen weißen IKEA-Box vollends ausreizen: So blank und normiert ein Erasmus-Aufenthalt vor der Abreise wirken mag, so viel Potenzial für ganz persönliche Erfahrungen birgt diese Zeit. Für mich ist das eben die Gelegenheit, mir Zeit zu nehmen für meine Lektüre, die Worte für mich lebendig werden zu lassen und auf diese Weise Paris zu entdecken.

Paula Stiegler, 23, ging mit dem Erasmusprogramm für ein Semester nach Paris. Sie plant ihren Abschluss in Frankfurt und Paris zu machen. Im Anschluss möchte sie ein Praktikum im französisch- beziehungsweise englischsprachigen Raum mit Fokus auf Journalismus und Medien absolvieren.

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Koala Bär
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