Unterwegs mit dem Working-Holiday-Visum
Da sitze ich nun in der riesigen Abflughalle mit fast 23 Kilogramm Gepäck, einem Rucksack und meiner Winterjacke am Frankfurter Flughafen. Mein Bruder erzählt mir irgendetwas über Geldwechselkurse, während Menschenmassen an mir vorbeiströmen und ich mich beklommen an meinem Stuhl festkralle.
Der Kaffee ist mir an diesem Morgen schlecht bekommen und ich fühle mich recht appetitlos. Meine Gedanken beginnen sich im Kreis zu drehen. Habe ich denn wirklich alles Wichtige eingepackt? Ist alles Notwendige geregelt worden und habe ich den Herd ausgemacht? Ich schmunzle bei diesem Gedanken, atme tief ein und erlebe einen dieser seltenen, kostbaren Momente, in denen man für den Bruchteil einer Sekunde das Gefühl hat, die Zeit würde langsamer laufen. Ich lasse in diesem Augenblick alles Unwichtige hinter mir und lasse los, was nicht mehr zu mir gehört, denn vor mir liegt ein Land voller Weite und unzähliger Möglichkeiten – Kanada! Freiheit, ich komme!
Gerade einmal sechs Wochen zuvor hatte ich die Entscheidung gefällt, endlich meinem Herzen zu folgen und mich in die weite, große Welt aufzumachen. Mein Studium war abgeschlossen und nur der Vernunftgedanke, einen guten und sicheren Arbeitsplatz in Aussicht zu haben, hielt mich noch davon zurück, loszuziehen. Ich unterhielt mich mit meinem guten Freund Moritz, der sich zu diesem Zeitpunkt in Ottawa aufhielt, und als er mich fragte, ob ich mir nicht ein Jahr Kanada vorstellen könnte, schrie alles in mir „Ja!“. Danach überschlugen sich die Ereignisse. Über die Internetseite der kanadischen Botschaft beantragte ich direkt das Working-Holiday-Visum und hatte Glück, dass das Kontingent von 4.200 Plätzen für das Jahr, in dem ich ausreisen wollte, noch nicht ausgeschöpft war. Da die reguläre Bearbeitungszeit des Antrags bei sechs Wochen lag, entschied ich mich, als Touristin einzureisen und mir meinen Antrag nachschicken zu lassen, denn es ist möglich, an jedem Grenzübergang in Kanada das Working-Holiday-Visum zu aktivieren, indem man kurz in die USA ein- und wieder ausreist.
Danach hieß es, schnell einen passenden Nachmieter für mein Apartment in der Krefelder Innenstadt sowie einen neuen Eigentümer für mein Auto zu finden. Mein Arbeitgeber war zu Beginn nicht begeistert, als ich um einen Auflösungsvertrag bat, zeigte aber großes Verständnis und wünschte mir viel Glück für meinen Sprung über den großen Teich. Ich las zahlreiche Berichte in verschiedenen „Backpacker“-Foren und erledigte alle administrativen Dinge. Ich buchte einen Flug, kümmerte mich noch um das große Thema Reisekrankenversicherung und meldete mich bei der gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland ab. To-Do-Listen halfen mir, des großen Wirrwarrs im meinem Kopf Herr zu werden und mir wurde recht schnell bewusst, dass es gar nicht so lange dauern würde, mein altes Leben aufzulösen. Zwei Tage vor meinem Abflug feierte ich dann eine Abschiedsparty mit meinen engsten Freunden. Da gerade einen Tag zuvor die Übergabe meiner Wohnung stattgefunden hatte, blieb mir nicht viel Zeit für die Vorbereitungen, geschweige denn für das Packen. Da es nun einmal nicht möglich war, für zwölf Monate alles Nötige mitzunehmen, musste ich einplanen, viele Dinge vor Ort zu kaufen. Fünf Stunden vor meiner Abreise war ich schließlich halbwegs reisefertig. Der Abschied war traurig und schön zugleich. Meine Freunde und meine Familie stellten mir ein Survival-Paket für Kanada zusammen, schenkten mir ein Reisetagebuch und wir schrieben Dinge, die wir loslassen wollten, auf kleine Zettel, um sie im Lagerfeuer symbolisch zu verbrennen. Ich muss zugeben, dass ich das eine oder andere Tränchen vergoss, aber zum Glück war ich damit nicht allein. Trotz des Abschiedsschmerzes und einiger Unsicherheit zweifelte ich nie lange an meiner Entscheidung. Und hielt das ungute Gefühl doch etwas länger an, sprach ich mit meiner Familie oder mit meinen Freunden, die mich alle nochmals in meiner Entscheidung bestärkten.
„An einem kleinen Grenzübergang aktivierte ich schließlich mein Working-Holiday-Visum“
Und dann war es so weit und mein Abenteuer in Kanada begann. Die ersten vier Wochen hielt ich mich an der Ostküste von Kanada auf. Mit Freunden, mit denen ich von da an in Kanada immer unterwegs war, reiste ich von Ottawa über Montreal, Quebec, Matane und durch die Halbinsel Gaspesie nach Bonaventure. Wir mieteten uns ein Auto und fuhren unsere Kontakte, die wir über einige Ecken kannten, ab. Die Tour war schön, aber alle Kanadier, die wir auf unserem Weg trafen, fragten uns, wieso wir nicht in British Columbia an der Westküste seien. Wir fragten uns das dann auch irgendwann und stiegen kurz-entschlossen in den nächsten Flieger nach Vancouver. Und der erste Eindruck war direkt eine Offenbarung! Durch die Nähe zum Meer und zur subtropischen Windströmung aus Hawaii bildet sich in Vancouver und auf Vancouver Island ein Mikroklima, das für milde Winter und angenehme Temperaturen im Sommer sorgt. In den Sommermonaten regnet es recht wenig, dafür allerdings umso mehr den Rest des Jahres. Die Gegend zählt zu den kühleren Regenwaldgebieten und ist deshalb sehr grün und üppig im Bewuchs. Ich selbst bin zwar kein Städtefreund, aber von allen Metropolen, die ich in meinem Leben besucht habe, ist Vancouver mein absoluter Favorit. Weitläufig, grün, und angeblich soll es dort mehr Sushibars als in Tokio geben. Am Point Roberts, einem kleinen Grenzübergang, aktivierte ich schließlich mein Working-Holiday-Visum. Die ESTA-Einreisegenehmigung, die man für die USA braucht, hatte ich mir ein paar Tage zuvor über das Internet geholt und die fälligen Gebühren per Kreditkarte bezahlt. Die ganze Prozedur an der Grenze kostete mich zwar zwei Stunden, wider Erwarten waren die amerikanischen Grenzbeamten aber entspannt und freundlich, ganz im Gegenteil zu den Kanadiern, die sehr genau erfragten, was ich denn in Kanada tun wollte und eine Kontaktadresse sowie einen Nachweis darüber verlangten, wie viel Geld ich besaß. Dass ich einen halbwegs aktuellen Kontoauszug in der Reisetasche dabei hatte, kam mir in diesem Moment sehr zugute.
„Die Kanadier sind ein äußerst hilfsbereites, freundliches und offenes Volk“
Über das weltweite Netzwerk „World Wide Opportunities on Organic Farms (WWOOF)“ fanden wir zunächst Arbeit auf einem ökologischen Hof auf Vancouver Island und erhielten im Gegenzug Unterkunft und Verpflegung vom Arbeitgeber. Um längerfristig auch etwas Geld zu verdienen, hängten wir im kleinen Örtchen Metchosin in einem Tante-Emma-Laden eine Annonce aus und verschafften uns auf diese Weise verschiedene Jobs als Gartenarbeiter. Außerdem knüpften wir Arbeitskontakte über den einen oder anderen Tipp eines Einheimischen. Unsere Arbeit bestand größtenteils darin, Unkraut zu rupfen und eine Schädlingspflanze mit dem Namen „scottish broom“ zu bekämpfen. An Spitzentagen, die aber auch sehr anstrengend waren, verdienten wir jeder knapp über $100. Für circa vier Wochen lebten wir bei den Eltern eines „Wwoofing“-Arbeitgebers und handelten mit ihnen aus, dass wir für die Unterkunft, die sie uns boten, zwei Tage pro Woche in ihrem Obstgarten mithalfen. Die anderen Tage nutzten wir für verschiedene Tätigkeiten bei unseren anderen Arbeitgebern. Unter anderem kümmerte ich mich für ein paar Tage um eine kleine Farm, deren Besitzer im Urlaub waren. Das Vertrauen, das mir dabei von den Farmbesitzern entgegengebracht wurde, beeindruckte mich sehr. Ein anderes Mal half ich einer Dame dabei, einen alten Wohnwagen aufzuräumen. Wir sind inzwischen Freunde und sie verkaufte mir ihren gut erhaltenen Van aus dem Jahre 1978 für einen guten Preis. Die Kanadier sind ein äußerst hilfsbereites, freundliches und offenes Volk. Eine Kanadierin erklärte mir, das läge an dem vielen Platz, den die Menschen hier zum Leben haben, und daran, dass – mit Ausnahme der „First Nations“, wie die Ureinwohner Nordamerikas hier genannt werden – alle irgendwann einmal von woanders herkamen. In Vancouver lernte ich sehr nette Ureinwohner kennen. Sie zeigten mir die beste Sushibar in Downtown und wir verbrachten einen sehr netten Nachmittag miteinander. Ich hoffe, dass ich vor meiner Rückreise mit ihnen zusammen das Staatsmuseum der „First Nations“ in Vancouver besuchen kann.
„Regeln gibt es nur insoweit, als man auf die anderen Rücksicht nimmt und an den täglich anfallenden Aufgaben teilnimmt“
Inzwischen bin ich in Slocan Valley eingetroffen und habe hier in der Nähe von Nelson in den Rocky Mountains eine wunderbare Gemeinschaft von Menschen angetroffen, die sich „GreenSong Sanctuary“ nennt. Die Gegend ist ein beliebtes Ziel für Aussteiger, Hippies, Künstler und bekannt für biologische Landwirtschaft und alternative Lebensentwürfe. Die Ziele der Gemeinschaft sind es, einen Ort der Nachhaltigkeit, der ökologischen Landwirtschaft und des kreativen Ausdrucks zu erschaffen. Sie arbeiten dabei mit Konzepten der Permakultur, die im Gegensatz zur Monokultur auf der Annahme beruht, dass unterschiedliche Pflanzen sich gegenseitig unterstützen. Die Gemeinschaft möchte sich in den nächsten Jahren in Richtung Selbstversorgung entwickeln und sich irgendwann vom Geldsystem ablösen. Auch hier mache ich so etwas wie „Wwoofing“, nur dass ich dabei das Gefühl habe, in einer Familie zu leben und ein volles Mitglied der Gemeinschaft zu sein. Kernpunkt der Gemeinschaft ist die Familie Mead, bestehend aus Hope, Randy sowie dem Sohn Eli. Regeln gibt es nur insoweit, als man auf die anderen Rücksicht nimmt und an den täglich anfallenden Aufgaben teilnimmt. Dabei kann aber jeder das übernehmen, was er gerne macht, denn die Gemeinschaft basiert vor allem auf Freiheit, Offenheit und Toleranz – egal, wer man ist, woran man glaubt oder woher man kommt. Ich weiß nicht, ob es an den malerischen Bergen oder dem kristallklaren Wasser der Flüsse und Seen hier liegt, aber diese Gegend scheint mir verzaubert zu sein. Der Dalai Lama war vor ein paar Jahren in Nelson zu Besuch und sprach davon, dass dieses Gebiet das neue spirituelle Zentrum der Welt nach Tibet werden würde. Vielleicht ist da was dran. Ich weiß nur, dass ich auf diesem wundervollen Fleckchen Erde viel Zeit verbringen und helfen werde, diese Gemeinschaft weiter aufzubauen. Erst gestern haben wir das aus Strohballen bestehende Hausfundament für die zukünftigen „Wwoofer“ fertiggestellt.
Ich bin inzwischen mit einem der hiesigen Künstler, Mark Hobson, befreundet. Seine naturrealistischen Gemälde findet man in British Columbia u.a. auf einigen Briefmarken und ich freue mich darauf, noch ein paar Tage auf seinem Hausboot verbringen zu können. Demnächst besuchen mich einige Freunde und mein Bruder. Wir werden mit zehn Leuten einen einwöchigen Kanutrip auf dem Kootney Lake in der Nähe von Nelson machen. Ich freue mich schon sehr darauf, weit draußen, abgeschieden von der Zivilisation, über einen riesigen See zu paddeln und einfach die pure Freiheit zu genießen. Danach schauen wir in Tofino auf Vancouver Island vorbei. Tofino ist bekannt für die besten Surfer-Wellen Kanadas und entwickelt sich langsam zu einer kleinen Touristenstadt. Sie liegt abgelegen auf einer Landzunge, umgeben von unzähligen Inseln, zwischen denen sich Wale und Delfine tummeln. Wenn mein Bruder dann wieder nach Hause fliegt, mache ich mich mit meinem Van, den ich übrigens Skyhopper getauft habe, wieder zurück auf den Heimweg in die Gemeinschaft nach Slocan. Im Winter suche ich mir eventuell einen Job in einem der hiesigen Skigebiete. Bis mein Working-Holiday-Visum ausläuft, habe ich noch viel Zeit, Kanada zu erkunden. Zu keinem Zeitpunkt habe ich meine Entscheidung bisher bereut und ich bin mir vollkommen sicher, dass ich das auch nie tun werde. Kanada hat mit seinen endlosen Weiten sprichwörtlich meinen Horizont erweitert und mein Herz geöffnet. Und wer weiß, vielleicht werde ich Kanada irgendwann einmal meine Heimat nennen.
Mara Blank, 27, kommt aus Willich nahe Krefeld. Sie hat Sozialpädagogik in Nimwegen in den Niederlanden studiert. Genaue Pläne für die Zukunft hat sie noch nicht, sie kann es sich aber vorstellen, eines Tages in Kanada zu leben, und möchte weitere Länder bereisen. Auf ihrem Blog http://maraontour.wordpress.com berichtet sie über ihre Erfahrungen in Kanada.
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