Erfahrungsbericht zu Menschenrechtsarbeit in Mexiko
Ich habe gemerkt, dass Auslandsaufenthalte, gerade wenn man jung ist, eine ganz große Tücke haben: Es fällt schwer, nach dem ersten Mal der Versuchung zu widerstehen, wieder ins Ausland zu gehen. So sehr man sein Heimatland beim Vergleich mit einem anderen Land zu schätzen und zu lieben lernt, so anfällig ist man für erneutes Fernweh.
Während einem Austauschjahr in der 10. Klasse in Wisconsin, USA, war ich begeistert von der Erfahrung eines anderen Lebensstils. Zwar vermisste ich meine Familie in Deutschland, wollte aber am Ende des Schuljahres trotzdem nicht wieder zurück. Der Abschied von Land und Leuten war einer der bittersten Momente, den ich bis dato erlebt hatte und etwas, das ich eigentlich nicht noch einmal durchleben wollte. Nun tue ich es doch. Es rückt wieder einmal ein schwerer Abschied näher: Zurzeit beende ich meinen einjährigen „weltwärts“- Freiwilligendienst in Mexiko. In der Hauptstadt Mexiko-Stadt, einer der größten Metropolregionen der Welt, lebe und arbeite ich als Freiwilliger bei Amnesty International Mexiko.
Obwohl ich schon nach dem Abitur wusste, dass ich Politikwissenschaft studieren würde, wollte ich die Zeit nach meinem Schulabschluss nutzen, um erneut für ein ganzes Jahr ins Ausland zu gehen. Ein Freiwilligendienstprogramm schien mir perfekt, um nach zwölf Jahren Schule erst einmal eine für mich neue Tätigkeit auszuüben und für längere Zeit ein Land zu erleben, das sich kulturell sehr von Deutschland unterscheidet. Die Bandbreite von Freiwilligendienststellen ist groß. Bei den Vorbereitungsseminaren und hier in meinem Gastland habe ich Freundschaften mit vielen anderen Freiwilligen geschlossen, die alle in sehr verschiedenen Bereichen arbeiten. Der durchschnittliche deutsche Freiwilligendienstleister scheint etwas Soziales machen zu wollen, mit Nähe zu Menschen: sei es Englisch- und Deutschunterricht an Schulen erteilen, in einem Waisenhaus oder Altersheim mitarbeiten, ein Straßenkinderprojekt unterstützen oder Umweltbildungsprogramme organisieren. Fast niemand entscheidet sich für eine Bürotätigkeit. Ich hingegen bin sehr froh über meine Arbeit im Büro von Amnesty International Mexiko. Ich hätte keine passendere Freiwilligendienststelle für mich finden können. Meiner Einsatzstelle habe ich zum großen Teil zu verdanken, dass meine Zeit in Mexiko so erfüllend ist.
Bei Amnesty International sind wir ein großes Team von Freiwilligen, die alle in verschiedenen Bereichen arbeiten und von hauptamtlichen Mitarbeitern betreut werden. Bei vielen Freiwilligen handelt es sich um mexikanische Studenten, die halbtags für mehrere Monate mitarbeiten, und um Leute aus aller Welt, die ein unbezahltes Praktikum machen. Bei uns übernimmt jeder Freiwillige einen konkreten Aufgabenbereich, wie zum Beispiel das Schreiben von Petitionen an Regierungen, das Erstellen von Grafiken für Kampagnen, das Aktualisieren der Homepage oder die Kommunikation mit Aktivistengruppen im ganzen Land. Als Vollzeitfreiwilliger für ein Jahr habe ich den Vorteil, mehrere Tätigkeitsfelder kennenlernen zu können. Verwaltungsaufgaben wie zum Beispiel Abbuchungen machen einen Teil meiner Arbeit aus. Der andere Schwerpunkt meiner Arbeit besteht in der Aufnahme der Anzeigen von Menschenrechtsverletzungen, die uns betroffene Personen zukommen lassen. Das sind zwei sehr verschiedene Arbeitsbereiche, die auch unterschiedlich spannend klingen, aber sich im Endeffekt gut ergänzen. Wenn man sich in der Anzeigenaufnahme täglich Berichte von Folter, ungerechten Prozessen, verschwundenen Personen, Vergewaltigungen, angegriffenen Menschenrechtsverteidigern, ermordeten Journalisten und bedrohten indigenen Gemeinden durchliest, lernt man zwar einiges und wird sich vieler Dinge bewusst, aber man bekommt eben auch vieles sehr Frustrierendes mit. Die Arbeit im Verwaltungsbereich oder außerhalb des Büros empfinde ich deshalb als wichtige Abwechslung. So habe ich zum Beispiel an einer Unterschriftenaktion im Stadtzentrum, einem Informationsstand auf einem Musikfestival, einem Promotionstand auf einer Buchmesse oder einer Protestaktion vor einer Botschaft mitgewirkt.
„Dabei bin ich oft an meine Grenzen gestoßen“
Schnell habe ich festgestellt, dass meine Arbeit doch sehr viel mit Menschen zu tun hat und nicht nur mit deren Rechten. Durch das Netzwerk von Aktivistengruppen, Mitgliedern, ehemaligen und neuen Freiwilligen habe ich in den vergangenen Monaten sehr viele interessante Leute kennengelernt und vieles über die Strukturen einer Bewegung erfahren, die von ihren Mitgliedern getragen wird: Nicht-Regierungsorganisationen sind eine Welt für sich. Auch habe ich immer wieder Momente erlebt, in denen die Fälle von zu bearbeitenden Menschenrechtsverletzungen ein Gesicht bekommen haben, nämlich dann, wenn betroffene Personen oder deren Angehörige persönlich in unser Büro kamen, um ihre Anzeige aufzugeben. Dabei bin ich oft an meine Grenzen gestoßen. Es fällt schwer, eine Antwort zu finden, wenn mich die Mutter eines gefolterten Häftlings fragt: „Und wer hilft mir, wenn nicht ihr?“ Trotz oder gerade wegen der Herausforderungen ist eine einjährige Tätigkeit bei einer Menschenrechtsorganisation in Mexiko eine der wertvollsten Erfahrungen, die man machen kann. Zurzeit zählt Mexiko leider zu den Ländern mit einer sehr heiklen Menschenrechtssituation. Verdächtige und auch unschuldige Personen werden oft wahllos festgenommen, Polizisten und Soldaten lassen zahlreiche Menschen verschwinden und falsche Geständnisse werden durch Folter erzwungen. Aufgrund der Korruption im Land Wieder weltwärts Menschenrechtsarbeit in Mexiko kann es vorkommen, dass Opfer und ihre Familien selbst vor Gericht keine Gerechtigkeit erhalten. Nationale und internationale Organisationen müssen immer wieder feststellen, dass der mexikanische Staat die fundamentalsten Rechte des Menschen nicht ausreichend schützt. Eigentlich unvorstellbar für ein Schwellenland und für einen Staat, der der G20 angehört.
„Wusstest du, dass Mexiko zurzeit das gefährlichste Land der Welt ist?“
Aufgrund dessen, was man in den Nachrichten hört, wurde mir während meiner Vorbereitung auf das Jahr viel Panik gemacht. Die häufigste Frage war, ob ich angesichts der Sicherheitslage, die zurzeit in Mexiko herrsche, denn keine Angst hätte. Der ein oder andere Bekannte entpuppte sich bei solchen Konversationen plötzlich als angeblicher Sicherheitsexperte: „Wusstest du, dass Mexiko zurzeit das gefährlichste Land der Welt ist? Noch schlimmer als Afghanistan und der Irak!“ Hätte ich mich von solchen Kommentaren zu sehr beeinflussen lassen, wäre mir eine der großartigsten Erfahrungen meines Lebens durch die Lappen gegangen. Alle, die an einem Freiwilligendienst interessiert sind, kann ich nur dazu ermutigen, nach Mexiko zu gehen. Natürlich achte ich hier ein bisschen mehr auf meine Sicherheit, als es in Deutschland der Fall ist, aber das sollte man in jedem „fremden“ Land tun, auch in Europa. Vor einem Überfall ist man letztlich in keinem Land wirklich sicher. Selbst Freiwillige, die in der Nähe der Grenze zu den USA oder in abgelegenen Dörfern ihr Jahr verbringen, berichten fast nur von tollen Erfahrungen und weniger von Sicherheitsbedenken.
„Das kulturelle Angebot ist riesig, das Nachtleben unfassbar“
Ich nehme Mexiko als sehr lebenswert wahr und Mexiko-Stadt erst recht. Trotz ihrer Größe ist die Hauptstadt, anders als man denkt, zurzeit einer der sichersten Orte Mexikos. Auch wenn ich nachts kein Taxi von der Straße nehme und in der U-Bahn nicht leichtsinnig meine Wertgegenstände zeige, kann ich doch fast uneingeschränkt mein Leben hier genießen. Das kulturelle Angebot ist riesig, das Nachtleben unfassbar. In allem spiegelt sich die Vielfältigkeit der Stadt wider: Jedes Viertel ist anders und hat seinen eigenen Stil. Man überquert eine Straße und erlebt eine andere Atmosphäre. Ein paar U-Bahn-Stationen weiter betritt man sogar eine andere Welt. Manche Viertel sehen etwas heruntergekommen aus, andere sehen aus wie moderne Städte in Europa, einige Gegenden sind Villenviertel, andere sind eine bunte Mischung aus allem. Einen Kulturschock erlebe ich hier nicht nur in Bezug auf die Unterschiede zwischen Deutschland und Mexiko, sondern auch aufgrund der Unterschiede innerhalb einer einzigen Stadt! Aber es ist ein sehr schöner Schock. Die Gegensätze und die Vielfalt ziehen sich durch das ganze Land. Während des Freiwilligendienstes sollte man daher die freien Momente nutzen, um zu reisen. Zu Mexiko gehören nun einmal auch Regenwald, Pyramiden, koloniale Altstädte, Strände, verschiedene Bräuche, unterschiedliches Essen und regionale Musik. So abschreckende Seiten das Land aufgrund der derzeitigen Sicherheitslage auch hat, so faszinierend sind die kulturellen Facetten, die man hier kennenlernen kann.
Trotz meiner Begeisterung für Mexiko war auf der Suche nach einer passenden Freiwilligendienststelle für mich vor allem wichtig, dass mir die Tätigkeit gefällt, und das hat sich für mich erfüllt. Wenn man ein ganzes Jahr im Ausland verbringt, ist es vor allem der Alltag, der einen prägt: die Arbeit, der Einkauf auf dem Markt, die Suche nach einer WG oder das Eingewöhnen in die Sprache. Ein Freiwilligendienst ist vor allem eine Zeit des Lernens über sich selbst. Ich habe gemerkt, dass ich an meinen Erfahrungen gewachsen bin und einen großen Schritt in Richtung Erwachsenwerden gemacht habe. Als letzte Erfahrung hier in Mexiko bleibt mir der Abschied von meinen neu gewonnenen Freunden, dem Land und meinem Leben hier. Hoffentlich wird auch das eine neue Erfahrung. Mein Freiwilligendienst war nicht zum Weinen, sondern zum Lachen. So kann ich lachen über die vielen verrückten Erlebnisse, positiven Erfahrungen, überkommene Probleme und auch unbewältigte Herausforderungen. Dieser Abschied soll nicht bitter werden wie der letzte: Diesmal werde ich den Abschied feiern, da das Jahr mein Leben um so Vieles bereichert hat und nun einfach der nächste Lebensabschnitt auf mich wartet. Wer weiß, wann das nächste Auslandsjahr ansteht und wie bald ich Mexiko vielleicht schon wiedersehe.
Fabian Lischkowitz, 19, kommt aus der Nähe von Offenburg. Seit Oktober 2012 studiert er Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin.
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