Gastschulaufenthalt in Kanada

Inmitten von unzähligen Kulturen

weltweiser · Gastschulaufenthalt · Kanada · Montreal
  • GESCHRIEBEN VON: CLAUDIUS SEITER
  • LAND: KANADA
  • AUFENTHALTSDAUER: 10 MONATE
  • PROGRAMM: SCHÜLERAUSTAUSCH
  • ERSCHIENEN IN: (NIX FÜR) STUBENHOCKER.
    DIE ZEITUNG FÜR AUSLANDSAUFENTHALTE,
    Nr. 9 / 2019, S. 15-16

Ich wusste schon früh, dass ich ein Jahr im Ausland verbringen möchte, obwohl ich eigentlich nie so der typische Austauschschüler gewesen bin. Ich war nie der Extrovertierteste, nie der Lauteste, doch die Abenteuerlust trieb mich von zu Hause weg. Es stellte sich natürlich die Frage, wo es hingehen sollte, und als ich von der Möglichkeit eines Austausches nach Montréal, Kanada, hörte, wurde mir klar, wo ich mein Abenteuer verbringen würde.

Das bilinguale Zusammenleben und die Chance für mich, zwei Sprachen auf einmal zu lernen beziehungsweise zu verbessern, zogen mich magnetisch an. Sprachen sind mir schon immer recht leichtgefallen und der Sprachunterricht in der Schule hat mir immer am meisten Spaß gemacht. Aus dem Grund waren die Sprachen für mich ein wichtiger Entscheidungsfaktor. Als es dann nur noch ungefähr vier Monate bis zum großen Aufbruch waren, wurde ich langsam etwas nervös. Nicht weil ich Angst hatte, mich zu verabschieden, sondern weil es einfach eine komplett neue Situation war, die dort auf mich zukam. Dann plötzlich hatte ich mich aber auch schon von meinem alten Leben verabschiedet und saß im Flugzeug nach Montréal, wo ich gar keine Nervosität mehr spürte. Es war einfach nur sehr schwierig zu realisieren, dass ich jetzt tatsächlich ein Jahr an diesem Ort, 6.000 km entfernt von zu Hause, verbringen würde. Dieses Gefühl hielt auch noch die gesamte erste Woche an. Jedenfalls wurde ich von meinem Gastvater am Flughafen empfangen und habe zu Hause meine Gastmutter und Gastschwester kennengelernt. Ich hatte eigentlich noch drei andere Gastgeschwister, die waren jedoch schon ausgezogen.

Meine Gastfamilie ist jüdisch und ich teilte mir ein Zimmer mit einem Brasilianer namens Felipe. Also insgesamt eine recht bunte Mischung. Mit Felipe verstand ich mich sehr gut, wir gingen auf die gleiche Schule und fanden die gleichen Freunde. Mit meinen Gasteltern hatte ich auch immer ein gutes Verhältnis, wir haben regelmäßig zusammen Dinge unternommen, konnten jedoch nicht so schnell eine engere Beziehung aufbauen. Nach einiger Zeit sind wir uns aber immer näher gekommen. Als dann der erste Schultag kam und es eine Versammlung für alle internationalen Schüler gab, war ich geschockt, wie viele andere Austauschschüler zu meiner Schule gingen. Bei meinem Vorbereitungsseminar wurde mir erzählt, dass die lokalen Schüler auf einen zugehen würden, aber das war natürlich nicht der Fall bei so vielen externen Schülern. Anfangs war es etwas schwierig, kanadische Freunde zu finden, da man sich zuerst mit den anderen aus aller Welt zusammengefunden hat, die in derselben Situation steckten. Jedoch habe ich mich nach ein paar Wochen auch mit Kanadiern angefreundet, die für mich eine gute Repräsentation der Stadt und des Landes waren und mir viele Erkenntnisse nahegebracht haben. Aber wie ich nach einer Weile herausfand, waren selbst unter den Kanadiern nur wenige, die mit ihren Familien seit mehreren Generationen schon in Montréal lebten. Jeder hatte seine eigene Geschichte der Migration, die ihn zu dem machte, was er ist.

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Das alltägliche Leben in Montréal empfand ich als sehr angenehm und in der Schule herrschte eine gute Atmosphäre. Diverse Sportteams, AGs und Aktivitäten sorgten für den ‚school spirit’. Insgesamt sind alle freundlich zueinander, man grüßt den Busfahrer und Hilfe wird einem überall angeboten. Kanadier sind verrückt nach Eishockey und das Team der Stadt, die Montréal Canadiens, ist allgegenwärtig. Ich habe mehrere Spiele im Stadion gesehen und sonst immer gerne die Liga mit meinem Gastvater im Fernsehen verfolgt. So bin ich auch ein Hockeyfan geworden und die stadteigenen kulinarischen Spezialitäten, wie Poutine und Smoked Meat, sind zu meinem Lieblingsessen geworden. Anfang November brach der Winter ein und nach nächtlichen Schneestürmen wurde die Schule geschlossen. Die Temperaturen gingen mit dem in Kanada berüchtigten Windchill-Faktor bis auf -30°C runter und während dieser Zeit war es schwierig, Beschäftigungen in der Stadt zu finden. Ende Januar reiste mein brasilianischer Zimmergenosse ab und meine Gastschwester zog aus, weswegen es bei mir zu Hause zeitweise etwas langweilig wurde. Zu dieser Zeit hatte ich auch das erste Mal Heimweh. Ich vermisste die Weihnachtszeit bei meiner Familie und generell fühlte sich irgendwie alles zwecklos an, aber das ging nach einer kurzen Weile wieder vorbei, da ich mich einfach darauf konzentrierte, das Beste aus meiner Zeit zu machen. Schließlich ist man nur einmal im Leben Austauschschüler. Und einen Monat später zog bei uns ein Schüler aus Mexiko ein, mit dem ich mich auch sehr gut angefreundet habe.

„Anfangs war es etwas schwierig, kanadische Freunde zu finden“

Der Winter hielt ungefähr bis Mitte April an, als wir das letzte Mal schulfrei wegen Glatteis hatten. Danach wurde das Wetter schlagartig wärmer und die Stadt blühte auf. Jedes Wochenende gab es unterschiedlichste Festivals mit den Schwerpunkten Essen, Musik, Kunst und Unterhaltung. Diese Zeit stellte auch gleichzeitig die letzten Monate meines Auslandsjahres dar, deswegen wollte ich so viele Teile der Stadt wie möglich erkunden und Zeit mit all meinen Freunden und meiner Gastfamilie verbringen. Im Nachhinein denke ich, dass das die beste Zeit meines Jahres war, da es in Montréal einfach immer etwas zu tun gab und ich gleichzeitig einfach die Momente genoss, ohne daran zu denken, dass es bald zurück nach Deutschland gehen würde. Zum Ende des Schuljahres kam der aus amerikanischen High-School-Filmen bekannte Abschlussball, Prom, und das war nicht nur für mich ein Abschied von vielen Lehrern und Freunden, sondern gleichzeitig der Abschied der ganzen Klassenstufe von der Schule. Ein paar Tage später flog ich nach Vancouver im Westen Kanadas, wo ich meine Eltern wiedertraf. Und es war ganz anders als erwartet. Ich dachte, es würde komisch sein, sie nach so langer Zeit wiederzusehen, aber es fühlte sich so an, als wäre ich nie weg gewesen.

„Diese Vielfalt ist eine Bereicherung im Leben einer jeden Person“

Zusammen bereisten wir den Westen des Landes mit „Whale Watching“ auf Vancouver Island, Wandern inklusive Bärensichtung in den Rocky Mountains und natürlich musste es nach typisch kanadischer Manier Mitte Juli schneien. Die Natur und die unendliche Weite Kanadas sind atemberaubend und waren ein großartiges Erlebnis. Nach dieser Reise konnte ich meinen Eltern die Stadt, in der ich ein Jahr gelebt hatte, zeigen und sie konnten meine Gastfamilie kennenlernen. Es bereitete mir sehr viel Freude, sie durch die Stadt zu führen und diesmal selbst als Touristenführer in meiner neuen Heimat zu fungieren. Dann war es so weit und ich musste mich verabschieden – mich verabschieden von einem Ort, der mir so sehr ans Herz gewachsen ist, von so vielen neuen Menschen, die alle zu diesem Jahr beigetragen haben, und von einer unglaublichen Erfahrung in meinem neuen Zuhause. Das war natürlich sehr schwierig und dementsprechend tränenreich. Als ich im Flugzeug auf dem Weg nach Deutschland saß, freute ich mich einerseits, meine Geschwister und Freunde wiederzusehen, aber andererseits fühlte es sich so an, als würde ein Teil von mir fehlen, da ich nun tatsächlich meine zweite Heimat verlassen hatte und wohl für eine längere Zeit nicht wiederkommen würde.

Wenn ich jetzt auf das Jahr zurückblicke, dann sehe ich zuerst die Stadt Montréal. Einen Ort, an dem alle möglichen Kulturen, Sprachen und Religionen zusammenkommen, sich vermischen und in Frieden zusammenleben. Kanada wird durch starke Werte repräsentiert und nicht in erster Linie durch Musik, Essen und Mode. Mir wurde klar, dass diese kanadische Identität etwas sehr Besonderes ist und ich mir sie langsam aneignete. Die dort bestehende Multikulturalität ist überall gegenwärtig. Ich persönlich lebte in einer überwiegend jüdischen Nachbarschaft, aber es gibt auch chinesische, italienische, portugiesische und natürlich französische Gegenden, in denen man immer etwas Neues entdecken kann. Wenn man durch die Stadt läuft und alle möglichen Sprachen hören kann oder in den Gängen der eigenen Schule alle Hautfarben sieht, bei der Gastfamilie statt Weihnachten Chanukka feiert und Freunde von allen Kontinenten findet, dann lebt man Vielfalt. Und ich denke, dass diese Vielfalt eine Bereicherung im Leben einer jeden Person ist. Bevor ich nach Kanada ging, stellte ich mir meine Zukunft so vor, dass ich mein ganzes Leben wohl in Deutschland leben würde. Doch nun bin ich begeistert von der Idee, im Ausland zu leben, wo man neue Kulturen und Ansichten kennenlernen kann und im Austausch seinen Teil zur Völkerverständigung leisten kann.

„Letztendlich kann man aus jeder Erfahrung, egal ob positiv oder negativ, etwas mitnehmen“

Mein Auslandsjahr hat mir eine komplett neue Weltsicht gegeben, die mich jetzt zu einem sehr offenen und abenteuerlustigen Menschen macht. Ich glaube, dass die Entwicklung, die ich als Austauschschüler gemacht habe, mir als Mensch viel geholfen hat und mich zu einer stärkeren Persönlichkeit gemacht hat. Während des Auslandsjahres muss man sich vielen Herausforderungen stellen und daran wächst man und lernt fürs ganze Leben. Generell habe ich so viele Erfahrungen gemacht. Erfahrungen, die ich nie vergessen werde, da ich durch sie vieles gelernt habe, das ich unter anderen Umständen nicht hätte lernen können. Es ist ein einzigartiges Erlebnis, an einen komplett unbekannten Ort zu kommen und sich dort so einzuleben, dass man ihn sein zweites Zuhause nennen kann. Ich weiß, dass ich jederzeit wieder in Montréal willkommen bin, und werde definitiv dorthin zurückkehren, um meine kanadischen Freunde und Familie zu besuchen. Ich bin sehr dankbar, dass ich die Chance hatte, diese Erfahrung zu erleben, und dass ich so gut aufgenommen wurde. Ich kann es nur jedem empfehlen, dieses Abenteuer zu wagen, denn die Erinnerungen und Erlebnisse bleiben ein Leben lang. Als Austauschschüler hat man die Möglichkeit, viele neue Dinge zu probieren und ich denke, dass man das auch immer tun sollte und vor nichts zurückschrecken sollte, denn letztendlich kann man aus jeder Erfahrung, egal ob positiv oder negativ, etwas mitnehmen. Deswegen sage ich jedem, der überlegt, ins Ausland zu gehen, wagt den Sprung heraus aus eurer Wohlfühlzone und hinein in die Welt.

Claudius Seiter, 16, besucht derzeit die gymnasiale Oberstufe und möchte nach seinem Abitur ein freiwilliges Jahr im Ausland, am liebsten in Lateinamerika, machen. Danach möchte er Wirtschaft studieren, auch gerne im Ausland.

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