Mein Ahornmärchen

Fünf Monate als Austauschschülerin in Kanada

  • GESCHRIEBEN VON: LAURA KLEMM
  • LAND: KANADA
  • AUFENTHALTSDAUER: 5 MONATE
  • PROGRAMM: SCHÜLERAUSTAUSCH
  • ERSCHIENEN IN: (NIX FÜR) STUBENHOCKER.
    DIE ZEITUNG FÜR AUSLANDSAUFENTHALTE,
    NR. 10 / 2020, S. 21-22

Dass Städte viel mehr sind als nur Ansammlungen unzähliger Häuser, beweisen all die Assoziationen, die wir mit ihnen verbinden. Paris ist die Stadt der Liebe, New York ist die Stadt, die niemals schläft, und Los Angeles ist für viele die Stadt, in der Träume in Erfüllung gehen. Vancouver, eine Millionenstadt, die an Kanadas Westküste im Bundesstaat British Columbia liegt, hat den Ruf, eine der multikulturellsten und schönsten Städte der Welt zu sein.

Ich hatte die Chance, dies auf eigene Faust zu überprüfen – indem ich für fünf Monate als Austauschschülerin bei einer Gastfamilie in Vancouver lebte, dort zur Schule ging und so viele Eindrücke sammelte wie möglich. Natürlich war die Entscheidung, nach Vancouver zu fliegen und somit mein alltägliches Leben in Deutschland, meine Freunde und meine Familie für fünf Monate aufzugeben, keine, die zu treffen mir leicht gefallen war. Zwei Jahre dauerte es, bis ich schließlich in dem Flieger saß, der mich ans andere Ende der Welt bringen sollte. Doch selbst diese lange Zeit reichte nicht aus, um all meine Zweifel an meinem Vorhaben aus der Welt zu räumen. Denn die Wahrheit ist, dass man nie perfekt auf sein Auslandsjahr vorbereitet sein wird. Man kann so viele Erfahrungsberichte lesen, mit so vielen ehemaligen Austauschschülern reden und so oft seiner Austauschorganisation schreiben, wie man will: Am Ende wird man so oder so ins kalte Wasser geworfen.

Das Gefühl, so richtig ins kalte Wasser geworfen worden zu sein, hatte ich das erste Mal, als ich von meiner multikulturellen Gastfamilie am Flughafen empfangen wurde. Diese bestand aus meiner indonesisch-chinesischen Gastmutter, meinem österreichisch-kanadischen Gastvater, ihren beiden Töchtern, meiner aus Italien stammenden Gastschwester Giorgia sowie dem deutschen Mädchen, das meine Gastfamilie für eine Woche bei sich aufgenommen hatte. Wir alle checkten uns kurz gegenseitig ab, umarmten uns ungeschickt und dann saßen wir auch schon in dem riesigen weißen SUV, in dem mein Gastvater uns durch das herbstliche Vancouver kutschierte. Die ganze Fahrt über plapperte ich ununterbrochen – davon, wie toll ich Vancouver bereits fand (auch wenn es wie aus Eimern schüttete und ich bis jetzt nur das Flughafengelände gesehen hatte), wie sehr ich mich auf das nächste halbe Jahr freute.

Am Montag nach meiner Ankunft fing dann auch schon das alltägliche Leben an. Ich stand gegen acht Uhr auf, duschte und aß Porridge mit Ahornsirup, bevor ich das Haus verließ. Dann lief ich gemeinsam mit meiner deutschen Gastschwester den riesigen Berg hinauf, an dessen Fuß ich wohnte und von dessen Spitze man einen atemberaubenden Blick auf Vancouvers Wolkenkratzer und die Berge hatte. Wir passierten Kanadas zweitgrößte Mall, durch die mich mein Schulweg führte, und stiegen zuletzt in den Skytrain, die dortige S-Bahn. Dieser spuckte uns direkt vor meiner High School aus, an welcher eine fünftägige Einführungswoche für Austauschschüler stattfand. Während des ganzen Weges hatten wir spekuliert, wie viele andere Austauschschüler wir wohl treffen würden. Ich hatte auf fünfzig getippt, meine Gastschwester auf siebzig. Keiner rechnete mit den anderen knapp fünfhundert International Students, die in der Turnhalle meiner High School Platz genommen hatten. Zu diesem Zeitpunkt ahnte ich schon, dass es schwer werden würde, an meiner High School kanadische Freunde zu finden.

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Aber unerwarteterweise hatte der „Überschuss“ an Austauschschülern einen riesigen Vorteil: Es gab jede Menge abenteuerlustiger Leute, die auch auf der Suche nach Freunden waren. Die nächsten Tage an meiner Schule, der Burnaby South Secondary School, vergingen wie im Flug. Mit anderen Austauschschülern, die ich in der Einführungswoche kennengelernt hatte, fuhr ich jeden Tag in sich stetig ändernden Konstellationen nach der Schule mit dem Skytrain nach Downtown Vancouver, was nur zwanzig Minuten dauerte. Doch schnell merkte ich, dass ich mich eigentlich nach einer richtigen Freundesgruppe sehnte. Außerdem wollte ich Freundschaften mit meinen kanadischen Mitschülern schließen – schließlich war ich nicht ans andere Ende der Welt geflogen, um mit anderen Europäern Tourist zu spielen. Es war Mitte September, als ich mit einer guten Freundin schließlich in ein Café nahe unserer Schule ging, das bald unser Stammcafé werden sollte. Wir setzten uns an einen riesigen Tisch, weil keine anderen Plätze mehr frei waren, und bald gesellten sich ein paar andere Jugendliche zu uns, die wir nur vom Sehen kannten. Was nur mit Small Talk begonnen hatte, endete in einer Verabredung für den darauffolgenden Tag, und in den nächsten Wochen wurden wir alle, ohne es so richtig zu merken, richtig gute Freunde. Teil dieser Freundesgruppe war auch Eva, nun eine meiner engsten Freundinnen.

„Besonders mit meiner Gastmutter, ihrer jüngeren Tochter und meiner italienischen Gastschwester verstand ich mich gut.“

Doch nicht nur mein kanadischer Alltag unterschied sich um einiges von meinem Leben in Deutschland. Kanada und Deutschland selbst sind weitaus gegensätzlicher, als man denken mag. Zu Mittag wird meist noch vor zwölf Uhr gegessen und Abendessen gibt es in fast allen Familien um halb sechs. Beim Aussteigen aus dem Bus dankt man dem Busfahrer, indem man lauthals „Thank you“ schreit, im Unterricht darf man essen und Instagram checken und Weihnachten wird wie in den USA am fünfundzwanzigsten Dezember mit Turkey und Kartoffelbrei gefeiert. Auch das Familienleben in Kanada lässt sich mit dem in Deutschland kaum vergleichen. Wie viele kanadische Familien lebte meine Gastfamilie praktisch auf der Couch: Hier wurden die Hausaufgaben gemacht, geschäftliche E-Mails beantwortet, mit der Katze namens Hot Dog gespielt und Spiele auf der Wii gezockt. Mit meiner Gastmutter zogen wir uns etliche Folgen „Quantico“ und „Bachelor in Paradise“ rein und wir Mädchen spielten „Mario Kart“ und „Just Dance“, wenn unsere Gasteltern bei der Arbeit waren. Nebenher verzierten wir auf der Couch unsere Schulsachen, stellten Schleim her und machten Workouts. Besonders mit meiner Gastmutter, ihrer jüngeren Tochter und meiner italienischen Gastschwester verstand ich mich gut. Nur mit meiner älteren Gastschwester hatte ich echte Anlaufschwierigkeiten. Oft verhielt sie sich unmöglich. Lange habe ich ihr Verhalten damit entschuldigt, dass ihre Familie schon seit vierzehn Jahren Austauschschüler aufnimmt. Doch mit der Zeit verbesserte sich zum Glück unsere Beziehung. Am Ende meines Aufenthalts grüßte sie mich sogar in Anwesenheit ihrer Freunde, wenn ich sie in der Mall traf. Ich hätte nie gedacht, dass ich mich darüber so sehr freuen würde.

„Besonders dieser Kurs zeigte mir, wie schnell sich mein Englisch verbesserte.“

Wie erwartet wurde die Zeit in der Schule nicht zu meiner liebsten des Tages. Trotzdem gefiel es mir, dass alle so stolz auf unsere High School und ihr berühmtes Basketball-Team waren. Auch die meisten meiner Kurse mochte ich total. Das lag natürlich an dem beinahe freundschaftlichen Verhältnis zu unseren Lehrern, aber auch an der sehr lockeren Gestaltung des Unterrichts. Besonders der Kurs Creative Writing, den mein Lieblingslehrer unterrichtete, gefiel mir wirklich gut. Dort schrieben wir Kurzgeschichten, zeichneten Comics und lasen „Farm der Tiere“, natürlich die englische Ausgabe. Besonders dieser Kurs zeigte mir, wie schnell sich mein Englisch verbesserte: Nach drei Monaten sprach ich nicht nur fließend Englisch, sondern konnte auch problemlos Essays und zehnseitige Kurzgeschichten verfassen – dabei waren meine Sprachkenntnisse zu Anfang eher mittelmäßig gewesen. Auch der Französischunterricht gefiel mir, hauptsächlich wegen meinen zwei besten kanadischen Freunden, die ich dort kennenlernte. Wie viele Bewohner Vancouvers waren sie asiatischer Herkunft. Mit den beiden verschlang ich Sushi, probierte Bubble Tea, einen taiwanischen Eistee, den ich insgeheim supereklig fand, und fischte Kuscheltiere in unserem Lieblingsladen „Octmon“ mit Zangen aus Behältern. In der Schule wurden außerdem zahlreiche Events zu Ehren bestimmter Ereignisse veranstaltet, wie zum Beispiel der „Orange-Shirt-Day“ zu Ehren der Ureinwohner Kanadas und der „WeDay“, den ich als Mitglied eines Volunteer-Clubs an meiner Schule besuchen durfte.

Mittlerweile ist es August, vor genau einem Jahr habe ich mich in den Airbus nach Vancouver gesetzt und alles mir so Vertraute hinter mir gelassen. Manchmal kann ich gar nicht glauben, dass ich das tatsächlich gemacht habe. Viel mehr als die Bilder auf meinem Laptop, Briefe, ein leeres Fläschchen Ahornsirup und die Kanada-Flagge mit lauter Unterschriften erinnern nicht mehr an diesen Aufenthalt, der mir manchmal wie ein unglaublich schöner Traum erscheint. Rückblickend weiß ich, dass meine Entscheidung, nach Kanada zu gehen, eine der besten Entscheidungen, wenn nicht sogar die beste ist, die ich je getroffen habe. Das habe ich natürlich meinen Freunden und meiner Gastfamilie und der Tatsache zuzuschreiben, dass Vancouver eine ziemliche Traumlocation für ein Auslandsjahr ist, aber vor allem ist es mein Verdienst – denn das Auslandsjahr ist das, was man selbst daraus macht!

Laura Klemm, 16, besucht derzeit die elfte Klasse eines Gymnasiums. Nach dem Abitur möchte sie mit ihren Freunden durch Europa reisen und im Anschluss Architektur studieren, gerne im Ausland.

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