Mein Schüleraustausch in Russland

Lehrreich, fremd und unvergesslich

weltweiser · Auslandsjahr Kanada · British Columbia · Kaplan
GESCHRIEBEN VON: FRANZISKA RULHOF
LAND: RUSSLAND
AUFENTHALTSDAUER: 12 MONATE
ERSCHIENEN IN: (NIX FÜR) STUBENHOCKER.
DIE ZEITUNG FÜR AUSLANDSAUFENTHALTE,
NR. 6 / 2016, S. 27-28

Russland verbinden viele mit Wodka, Bären und sehr kaltem Winter. Ich wollte mich von sämtlichen Klischees befreien und kam mit der Einstellung nach Russland, dass alles anders werden würde, als ich es mir vorstellte. Ganz nach dem Motto: Je weniger Erwartungen ich hatte, desto leichter könnte ich alles Neue aufnehmen und desto seltener würde ich enttäuscht

Von einem Schüleraustausch in Russland hatte ich seit der 3. Klasse geträumt. Natürlich war es trotzdem eine unbekannte Welt, in die ich hineinkam, als das große Abenteuer endlich begann. Alles war faszinierend fremd, manches merkwürdig, vieles einfach verwirrend. In den ersten Tagen und Wochen war ich eine staunende Touristin, die alles anschauen und ausprobieren wollte, die im Supermarkt stundenlang an den Regalen entlangschlenderte, die ständig Kamera und Wörterbuch dabei hatte und sich kaum sattsehen konnte. Alle waren freundlich zu mir, wollten mich kennenlernen und etwas mit mir unternehmen. Häufig wurde ich gefragt, wie mir Russland gefalle. Ich antwortete immer höflich „gut natürlich“, und meinte es auch so. Eine differenziertere Meinung begann ich erst zu entwickeln, als sich allmählich der Alltag einschlich, als ich mühelos meinen Schulweg finden konnte, mich zu den richtigen Klassenräumen nicht mehr durchfragen musste und die Werbejingles im Radio mitsingen konnte.

Das war auch gut so, denn zuvor hätte ich meine Gedanken gar nicht auf Russisch ausdrücken können. Gerade zu Anfang wurde die Kommunikation noch stark von der Sprachbarriere eingeschränkt. Neun Jahre Russischunterricht in der Schule halfen mir nur wenig. Als mich hingegen zum Ende des Auslandsjahres wieder mehr Menschen nach meinen Eindrücken von Russland fragten, war ich imstande, ihre Frage ausführlicher zu beantworten. Nach dem ersten Monat mit einer Flut von Eindrücken herrschte zunächst Ebbe. Der Urlaub war vorbei, ich musste anfangen, mir einen Alltag aufzubauen. Es ist erstaunlich, wie viele banale Dinge das eigene Leben ausmachen. Vom richtigen Härtegrad des Frühstückseis über den Aufenthaltsort während der Schulpausen bis hin zur Freizeitgestaltung – ich begann, Dinge zu vermissen, die ich nie zuvor bewusst wahrgenommen hatte. Jeden Tag musste ich Stunden füllen, die ich in meinem Leben in Deutschland gar nicht zur Verfügung hatte. Ja, mir war oft langweilig. Das ist nichts Außergewöhnliches, vielen Austauschschülern geht es wohl so. Hätte ich das zu dem Zeitpunkt bereits gewusst, wäre es vielleicht ein bisschen einfacher für mich gewesen. Es ging mir zwar nicht schlecht, aber ich hatte einfach nichts zu tun. Während meine Klassenkameraden ihre Hausaufgaben machten, zur Nachhilfe oder zum Gitarrenunterricht gingen, saß ich zu Hause herum, schaute mir Videos auf YouTube an und wartete darauf, dass meine Gastschwester von der Schule kam, um etwas mit ihr unternehmen zu können.

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Zu sagen, dass sich an diesem Tagesablauf im weiteren Verlauf des Jahres viel änderte, wäre gelogen. Zwar begann ich irgendwann, dreimal in der Woche abends zum Aikido zu gehen, aber die Nachmittage verbrachte ich trotzdem noch in der Wohnung. Ungefähr zwei bis drei Monate nach meiner Ankunft fragte ich mich deshalb oft, ob es nicht in einem anderen Land viel besser für mich gelaufen wäre. Ich stellte mir vor, dass ich dort bestimmt schon nach zwei Wochen tolle Freunde gefunden hätte, in einer interessanten Großstadt und bei einer Familie mit vielen Kindern oder wenigstens einem Hund gelebt hätte. Es war nicht von der Hand zu weisen, dass die Langeweile auch durch meine Wohnsituation in Russland bedingt war. Ich lebte in einer Kleinstadt, in einer kleinen Familie, in einer kleinen Wohnung. Das war nicht unbedingt das, was ich mir gewünscht hatte. Aber es hatte auch seine guten Seiten, wie ich erst später wirklich realisierte. Ich hatte zum Beispiel während meines Austauschjahres viel Zeit zum Nachdenken und Reflektieren. Hätte ich mein Jahr in einem anderen Land verbracht, wäre das vielleicht anders gewesen. Im Endeffekt erkannte ich auch, dass ich für mich selbst die wichtigen Dinge herausfiltern musste, ich konnte sowieso nichts rückgängig machen. Mir vorzustellen, wie es anders hätte laufen können, brachte mich nicht weiter. Natürlich lag es an mir, etwas aus meinem Jahr zu machen, aber noch viel wichtiger war es, die wertvollen Erlebnisse zu erkennen.

„In Russland feiern die Menschen kein Weihnachten aber meine Gastmutter,  wollte unbedingt für mich eine kleine Feier veranstalten, um mir eine Freude zu bereiten“

Ich meine damit, dass jeder Austauschschüler ganz wundervolle Dinge erlebt, dass es aber manchmal schwerfällt, diese als solche wahrzunehmen. Eines meiner schönsten Erlebnisse in Russland war die Weihnachtsfeier mit meiner Gastfamilie, die etwas verspätet am 29. Dezember stattfand. In Russland feiern die Menschen kein Weihnachten, aber meine Gastmutter, die Deutschlehrerin ist, wollte unbedingt für mich eine kleine Feier veranstalten, um mir eine Freude zu bereiten. Also bastelte ich einen provisorischen Adventskranz aus vier Teelichtern, backte Plätzchen und legte die Geschenke meiner Eltern unter den Weihnachtsbaum. Wir verzichteten zwar aufs Singen, und es gab auch keine Gans zum Abendessen, aber es war trotzdem weihnachtlich. Mit meiner Gastfamilie war es immer schön, nicht nur an Weihnachten. Zu meinen Gasteltern hatte ich zwar keine enge Beziehung, aber es gab auch nie Probleme und schon gar keinen Streit. Mit meiner Gastschwester, die ein Jahr jünger ist als ich, verstand ich mich sogar richtig gut. Meine Sprachkenntnisse habe ich ihren geduldigen Erläuterungen zu verdanken, die lustigen Abende in der Schuldisco ihren Freundinnen und meine lange Liste angesehener Filme ihrer Leidenschaft fürs Kino.

„Dinge, die einem anfangs unmöglich und schrecklich vorkommen, werden selbstverständlich“

Es schadet sicherlich nicht, als Austauschschüler ein bisschen anpassungsfähig zu sein. Vieles im Gastland kann man nämlich nicht beeinflussen oder ändern, sondern man gewöhnt sich einfach mit der Zeit daran. Dinge, die einem anfangs unmöglich und schrecklich vorkommen, werden selbstverständlich und stellen sich am Ende vielleicht sogar als großes Glück heraus. Ich musste mir zum Beispiel ein Zimmer mit meiner Gastschwester teilen, was mir zwar einerseits wenig Privatsphäre und Zeit für mich ließ, dafür aber maßgeblich zum Aufbau unserer beinah geschwisterlichen Beziehung beitrug. In einer anderen Situation wären wir niemals so gute Freundinnen geworden. Das Zusammenleben lief sehr problemlos ab, auch aus dem Grund, dass ich mir manchmal einen Kommentar verkniff anstatt einen Streit vom Zaun zu brechen. Geduld zu haben mit anderen oder in einigen Situationen die eigene Bequemlichkeit zu überwinden – das waren Dinge, die ich unter anderem in diesem Jahr lernte. Es fiel mir auch vergleichsweise leicht, meine eigenen Wünsche zurückzustellen, weil ich das Gefühl hatte, zu hohe Ansprüche wären nicht angebracht gewesen. Meine Gastfamilie hatte so viel für mich getan, mir selbstlos ein Heim geboten, mit mir ihr Leben geteilt – was konnte ich da anderes empfinden als tiefe Dankbarkeit? Ein guter Wille, ein freundliches Lächeln und höfliche Zurückhaltung waren meine Begleiter in diesem Jahr, und ich fuhr wirklich gut mit ihnen.

„Ich hatte nicht mehr den mir selbst auferlegten Druck, Freunde fürs Leben zu finden“

Besonders gerne denke ich an meine Gastgroßeltern und an die in ihrem Dorf verbrachte Zeit zurück. Sie lebten ungefähr zehn Minuten mit dem Auto von der Stadt meiner Gastfamilie entfernt in einem kleinen, typisch russischen Dorf. Ihr altes Holzhaus war selbst gebaut und stand inmitten eines üppigen Gartens, in dem alle erdenklichen Sorten von Gemüse und Obst wuchsen, in dem Hühner scharrten und ein Hund an den Apfelbaum gekettet war. In diesem Haus herrschte eine heimelige, etwas urige Atmosphäre. Die rohen Wände waren mit Teppichen behängt, es roch immer etwas muffig und im Winter nach Feuer, denn die vier Zimmer wurden über einen zentralen Ofen, eine russische „Petschka“, beheizt. Es gab kein fließendes Wasser und auch keine richtige Toilette, nur ein Plumpsklo im Schuppen, das ich bei meinem allerersten Besuch benutzte und danach nie wieder. Wenn wir bei den Großeltern zu Besuch waren, bog sich jedes Mal die Tischplatte unter der Last der Speisen, die, ganz nach Tradition der russischen Gastfreundschaft, zahlreich zubereitet worden waren. Mit Wodka wurde auf unsere Gesundheit getrunken. Nach dem Essen gab es Tee und ein ganzes Sortiment an Süßigkeiten, und wehe, ich wagte, eines der Angebote meiner Gastgroßmutter abzulehnen.

Schneeballschlachten im Oktober, Schlangen beim Baden im Dorfbach, die Militärparade zum Tag des Sieges, Liedersingen auf Schulfeiern, Gespräche und Fragerunden mit Klassenkameraden, Reisen nach Wladimir und Jaroslawl, nach Moskau, Sotschi und Sankt Petersburg – die Erinnerungen an mein Jahr in Russland sind zahlreich und die Geschichten, die ich erzählen könnte, unerschöpflich. Mein Schüleraustausch war ein besonderes Jahr in meinem Leben – aber es waren nicht zehn Monate Ferienlager, Reisen und Entspannen. So wie faule Sonntage und stressige Wochen zu meinem Leben in Deutschland gehören, waren sie auch Teil des Auslandsjahres. Bis ich das verstanden hatte, brauchte es ungefähr sieben Monate. Danach konnte ich meinen Austausch richtig genießen. Ich hatte nicht mehr den mir selbst auferlegten Druck, Freunde fürs Leben zu finden, ganz Russland zu sehen oder die Sprache perfekt zu beherrschen. Andere fanden möglicherweise viel schneller Freunde, hatten bessere Sprachkenntnisse oder reisten mit ihrer Gastfamilie an die ungewöhnlichsten Orte. Aber das heißt nicht, dass das eine Austauschjahr unterm Strich besser war als das andere. Russland ist keine zweite Heimat für mich geworden, aber es ist auch kein Ort mehr, an dem ich mich fremd fühle. Dort leben möchte ich nicht, doch ebenso wenig möchte ich die dort verbrachte Zeit missen. Die Bekanntschaften, die ich gemacht habe, haben sich nicht zu tiefen Freundschaften entwickelt. Dafür kann ich die wichtigen Menschen in meinem Leben jetzt besser wertschätzen. Mein Auslandsjahr war sicher nicht das spannendste, das lustigste oder erlebnisreichste. Es war aber das lehrreichste und das interessanteste, und auf jeden Fall unvergesslich.

Franziska Rulhof, 16, geht noch zur Schule und arbeitet nebenher als Betreuerin bei ihrer Austauschorganisation. Nach dem Abitur möchte sie wieder ins Ausland gehen, vielleicht für einen Freiwilligendienst nach Südamerika.

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