Eine Achterbahnfahrt in England
Bevor ich mein Auslandsjahr antrat, fragten mich immer wieder Leute: „Na, wo geht es denn hin?“, woraufhin ich meist antwortete: „Nach York“. Die darauffolgende Antwort war fast immer identisch: „Oh New York, da hast du aber Glück gehabt.“ Nein, für mich ging es nach York, einer kleinen Stadt im Nordosten Englands mit circa 100.000 Einwohnern.
Ich fühlte mich von Anfang an wohl in dieser überaus charmanten Stadt. Das erste Mal kam ich vor drei Jahren nach York, damals im Rahmen einer Sprachreise. Zu der Zeit verbrachte ich gut drei Wochen dort, mit derselben Organisation, die letzten Endes mein Jahr im Ausland organisierte. Nach anderthalb Jahren Planung ging es für mich los in mein neues Abenteuer. Alles hatte angefangen mit meinem stetig wachsenden Interesse an anderen Kulturen und Sprachen. Knapp anderthalb Jahre vor meiner tatsächlichen Abreise besuchten meine Eltern und ich viele Auslandsmessen und durchforsteten das Internet. Dabei war die große Frage aber erst einmal: Wo sollte es hingehen? Für mich stand von Anfang an fest, dass ich in ein englischsprachiges Land wollte. Australien, Neuseeland und Kanada fielen auf Grund der Kosten schon mal weg. Übrig blieben England, die USA und Irland. Irland kam für mich persönlich nicht infrage, deswegen musste ich mich zwischen Großbritannien und den Vereinigten Staaten von Amerika entscheiden. Diese Entscheidung quälte mich viele Wochen und Monate. Nach einem Gespräch mit einem Vertreter einer amerikanischen Organisation wollte ich zunächst unbedingt in die USA. Doch kaum war meine Entscheidung gefallen, plagte mich ein komisches Gefühl, sodass ich meine Suche nach Organisationen in England begann.
Über das Internet und die Sprachreise stießen wir letztlich auf meine Organisation in York, die ausschließlich deutsche Schüler an eine Schule in York vermittelt. Somit kann man mein Auslandsjahr eher als „Light-Version“ bezeichnen, da ich mit 15 anderen Deutschen auf eine Schule ging, was Vor- und Nachteile hat. Zudem lernte ich meine Gastfamilie schon vor Beginn des eigentlichen Jahres kennen. Im Juni flogen mein Vater und ich nach York zum sogenannten „Introduction day“. An diesem Tag besucht man bereits die Schule und hat mit den englischen Schülern eine Probestunde in den gewählten Fächern. Der Vormittag mit den ersten Schulstunden lief überraschend gut ab und es war sprachlich einfacher als erwartet. Am Nachmittag hatten wir ein Vorbereitungsseminar mit der Organisation, auf dem wir im Anschluss unsere Gastfamilie trafen. Vor dem ersten Treffen war ich natürlich sehr aufgeregt. Ich stand mit meiner Gastfamilie bereits seit Mai in Kontakt und wir hatten uns so weit gut verstanden, dennoch lagen meine Nerven blank und ich war sehr froh darüber, meinen Vater an meiner Seite zu haben, da ich die ersten 15 Minuten kein Wort in irgendeiner Sprache herausbekam. An diesem Nachmittag ging es dann auch zu meiner Gastfamilie nach Hause und mir wurden das Haus und mein Zimmer für die nächsten zehn Monate gezeigt. Mit sehr vielen neuen Eindrücken ging es dann erst einmal wieder zurück nach Deutschland.
Einige Zeit später kam der Tag der Tage – der Tag der Abreise. Glücklicherweise musste ich nicht alle meine Freunde und Familienmitglieder auf einmal am Flughafen verabschieden. Die Vorstellung, allen gleichzeitig „Auf Wiedersehen“ sagen zu müssen, fand ich schrecklich. So kam es dann, dass mich nur meine Mutter zum Flughafen brachte und ich mich über die letzte Woche in Deutschland hinweg jeweils von einer Person verabschiedet hatte. Der Abschied war ganz und gar nicht schön. Man zweifelt an seiner Entscheidung und bekommt kalte Füße. Hinzu kommen das Gefühlschaos, die Ungewissheit und die Angst vor dem großen Schritt. Viele fragten mich damals: „Und wie fühlt man sich so ein paar Stunden vor dem Abflug?“. Wenn ich diese Frage nur beantworten könnte. Wenn ich den Gefühlszustand beschreiben sollte, dann würde ich ihn folgendermaßen beschreiben: Es ist so, als habe man einen zuckersüßen Hundewelpen im Arm, gleichzeitig fühlt man sich so gestresst, als müsse man eine Mathearbeit schreiben und als habe man sich gerade von seinem Freund getrennt, und hinzu kommt das Gefühl einer Achterbahnfahrt, kurz vor dem freien Fall. Ich wusste nicht, dass man so viele Dinge auf einmal fühlen kann. Der Flug nach Manchester war etwas tränenverschleiert, hauptsächlich bedingt durch mein Abschiedsbuch. In Manchester angekommen, trafen wir Deutschen uns und fuhren mit der Bahn nach York. Auf dem Bahnsteig warteten bereits unsere Gastfamilien auf uns. Leider unternahm meine Gastfamilie nichts mit mir in den ersten Tagen nach meiner Ankunft, was bei mir zu Heimweh führte, da alles so neu und fremd war. Ich denke aber, es ist total normal, dass man sich in den ersten zwei Wochen vermehrt unwohl fühlt, darüber sollte man sich keine Gedanken machen. Aller Anfang ist schwer.
„So kam ich am ersten Schultag mit drei Aufsätzen als Hausaufgabe nach Hause“
Fünf Tage nach meiner Ankunft in York ging für mich endlich die Schule los. In England kommt man meistens in die Oberstufe, also den deutschen 11. Jahrgang. Die englische Oberstufe besteht aus vier Fächern, die man sich frei wählen kann. Meine Schule hatte ein relativ großes Fächerangebot mit rund 30 Fächern, wie zum Beispiel Kochen, Produkt Design, Sprachen, Film, IT und vieles mehr. Die englische Oberstufe startet allerdings von null auf hundert und so kam ich am ersten Schultag mit drei Aufsätzen als Hausaufgabe nach Hause. Das ist am Anfang sehr viel, wenn man sich noch an die Familie, Sprache und Umgebung gewöhnen muss. Deswegen kam es dazu, dass eigentlich alle Deutschen nach zwei Wochen ein Fach streichen ließen. Somit hatte ich nur noch drei Fächer und diese waren Spanisch, Politik und Wirtschaft. Das klingt zwar wenig, allerdings werden aus drei Fächern sechs, da man in jedem Fach zwei Lehrer hat und zwei verschiedene Themen behandelt, also doppelt so viele Hausaufgaben pro Fach. Mit Spanisch war es anfangs sehr kompliziert, denn ich kannte die englische Verbindung zum spanischen Wort natürlich nicht, genauso wenig wusste ich über Wirtschaft oder das politische System in England. Ich kam im Prinzip mit nichts, aber ging mit viel.
„Ich habe in diesem einen Jahr so viel dazugelernt“
Ich behaupte, nun die Grundlagen der Wirtschaft zu kennen und das ganze englische System plus die letzten sieben Prime Minister Englands aufsagen zu können. Unterm Strich kann ich die englischen Schulen nur empfehlen. Ich habe in diesem einen Jahr so viel dazugelernt und meine Interessen vertieft und gleichzeitig die wohl besten Lehrer kennengelernt. Was den Alltag im Gastland betrifft, habe ich schnell gemerkt, dass er sich nicht stark von dem Alltag im Heimatland unterscheidet. Man hat mal Langeweile, man hat keine Lust auf Schule, weil man nicht für den Test gelernt hat. Der Alltag variiert nicht viel und die Routine wird sich einspielen. Mein typischer Tag sah folgendermaßen aus: Ich stand um 7:15 Uhr auf und verließ das Haus gut eine Stunde später, um pünktlich um 8:35 Uhr in der Schule zu sitzen. Schule ging dann eigentlich immer bis um 15:30 Uhr mit Mittagspause und Freistunden. Die Freistunde nutzte ich meistens, um den Großteil meiner Hausaufgaben zu erledigen, um nach der Schule nicht mehr viel machen zu müssen. Zu Hause angekommen, machte ich die restlichen Hausaufgaben, trank meinen Tee und ging dann oft zum Sport, traf mich mit Freunden, schaute Filme, las und was man sonst noch so macht.
„Heimweh spielte dabei häufig eine Rolle“
Doch ein Auslandsjahr hat neben seinen Höhen auch seine Tiefen. Nun im Rückblick wirkt es, als wäre das Jahr nur so vorbeigerast, doch das ist es nicht. Ich kann mich an Tage erinnern, die nicht enden wollten, an Wochen, in denen ich die Tage wegkreuzte. Heimweh spielte dabei häufig eine Rolle. Im Prinzip fühlte ich mich Mitte Oktober angekommen, ich fühlte mich zu Hause und aufgehoben, doch das änderte sich im Laufe des Jahres. Ich flog während der zehn Monate dreimal nach Hause: Weihnachten, Ende Januar zur Goldenen Hochzeit meiner Großeltern und über Ostern. Als ich Anfang Januar zurück nach England flog, plagte mich das Heimweh etwas. Die ersten paar Tage waren nicht so schön, bis sich der Alltag wieder einspielte. Merkwürdigerweise hatte ich Ende Januar keine Probleme mit dem Heimweh, dafür aber umso größere im April.
Viele reden immer von einem Selbstfindungsmoment. Vor dem Jahr habe ich an so etwas nicht ganz geglaubt, wurde im April aber Zeuge davon. Ich lernte mich selbst besser kennen, denn ich fand Kraft in Zeiten, in denen ich am Ende war. Mitte April gab es einen Tag, den ich nie in meinem Leben wiederholen möchte, ich fühlte die komplette Kraftlosigkeit gepaart mit einem Heimweh, welches ich so noch nicht erlebt hatte. Mir ging es gerade etwas besser, da trennten sich meine Gasteltern beinahe und ich fühlte mich immer unwohler und unsicherer. Nach vier Wochen Dauerstress und Problemen entschied ich, die Familie zu wechseln. Meine Freundin und ich mussten etwas dafür kämpfen, doch erreichten zum Schluss, dass wir beide Mitte Mai zusammen in eine andere Familie wechseln konnten. Der Abschied und die Tage vor meinem Wechsel in die neue Familie waren schlimm. Mir wurden Dinge nachgesagt und an den Kopf geworfen, die von Erwachsenen nicht hätten kommen sollen. Nun ja, in der neuen Gastfamilie wurde es nicht besser. Ich fühlte mich zwar sicher, aber die Chemie stimmte rein gar nicht. Wir wurden ignoriert und mussten komplett für uns selber sorgen. Glücklicherweise hatten meine Freundin und ich uns wenigstens, sonst hätte ich das alleine wahrscheinlich nicht geschafft.
„Zurück in Deutschland fühlt sich das alles an wie ein Traum“
So, nun aber zurück zum Guten, zu den schönen Momenten. Während eines Auslandsjahres ist man über die kleinsten Dinge glücklich. Wenn man im Bus sitzt und im Sonnenuntergang vom Sport nach Hause fährt, dann ist man plötzlich ohne wirklichen Grund glücklich. Erfreut haben mich vor allem die guten Noten in der Schule und der erkennbare Fortschritt in der englischen Sprache, aber auch die vielen Reisen, die ich mit meinen neu gewonnenen Freunden unternommen habe. So waren wir beispielsweise im Oktober in London und Blackpool, im April in Dublin und im Mai in Liverpool und dem Lake District National Park. Der schönste Moment für mich war wohl der Moment, in dem ich auf einem Berg im National Park stand, neben mir ein Wasserfall, vor mir eine unglaubliche Aussicht und mit dabei die zwei wichtigsten Personen, die ich in York kennengelernt habe. Zurück in Deutschland fühlt sich das alles an wie ein Traum. Als wäre alles schon Jahre her, dabei sind es nur ein paar Wochen. Ich muss gestehen, die letzten zwei Monate meines Auslandsjahres waren nicht schön, sie haben an meinen Kräften gezehrt und ich bin froh, dass ich dieses Kapitel in meinem Leben schließen kann. Dennoch würde ich mich immer wieder für ein Auslandsjahr entscheiden und bereue es keine Sekunde, diesen Schritt gewagt zu haben, denn auch negative Ereignisse sind Erfahrungen, die mir in der Zukunft sehr wahrscheinlich helfen werden. Ein Auslandsjahr bringt einen an seine Grenzen, man lernt sich selbst besser kennen und wird von sich selbst hier und da überrascht sein. Nebenbei, fast wie von selbst, lernt man dabei noch eine Sprache und erweitert seinen schulischen Horizont. Man wird im Ganzen auch dankbarer und sieht die Welt ein kleines bisschen anders.
Lina Boerner, 18, besucht derzeit die Oberstufe eines Gymnasiums und hofft, in Zukunft ihr Interesse am Thema Tourismus vertiefen zu können, durch ein Studium und wenn möglich einen weiteren Auslandsaufenthalt.
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