„Welcome to the United States of America“

Schüleraustausch-Erfahrungsbericht: Zu Hause an zwei Orten

weltweiser · Schüleraustausch · USA · Mississippi
  • GESCHRIEBEN VON: HANNAH KLUSMANN
  • LAND: USA
  • AUFENTHALTSDAUER: 11 MONATE
  • PROGRAMM: SCHÜLERAUSTAUSCH
  • ERSCHIENEN IN: (NIX FÜR) STUBENHOCKER.
    DIE ZEITUNG FÜR AUSLANDSAUFENTHALTE,
    Nr. 3 / 2013, S. 20-22

Im Nachhinein kann ich gar nicht mehr genau sagen, warum ich einen Schüleraustausch in die USA machen wollte. War es die amerikanische High School, die mich reizte? Wollte ich vor allem Englisch lernen? Oder war mein Leben zu Hause langweilig? Wahrscheinlich war es von allem ein bisschen.

Die Idee entwickelte sich schon seit Längerem in meinem Kopf, aber so richtig packte mich das Fernweh erst, als ich eines Abends von Basel nach Flensburg im Nachtzug lag und in der Abendsonne Wiesen und Bäume vorbeifliegen sah. Damals merkte ich, dass ich gerne etwas Besonderes erleben wollte und die Dinge selbst in die Hand nehmen sollte. Zunächst wollte ich mich nur informieren, fand kurze Zeit später eine passende Austauschorganisation und ließ mich dort beraten. Meine Beraterin machte mir so viel Mut, dass ich mich schließlich für einen Programmplatz bewarb – absagen kann ich ja immer noch, dachte ich. In den nächsten Monaten füllte ich Berge von Formularen aus, beantragte meinen Reisepass, kaufte einen Koffer und arbeitete wie verrückt, damit ich im Ausland auch ein wenig Taschengeld zur Verfügung hatte. Es gab viel zu tun, und Amerika war immer noch ganz weit weg. Die Menschen in meinem Umfeld wurden mit der Zeit immer trauriger, und auch ich merkte, dass mir manche viel mehr bedeuteten, als ich gedacht hatte. Am schwierigsten war es, meine Familie und meinen besten Freund zurückzulassen.

Irgendwann im Dezember erhielt ich einen Brief, in dem stand, dass ich in drei Wochen losfliegen würde, aber so wirklich realisiert hatte ich das damals immer noch nicht. Als ich plötzlich in Atlanta am Flughafen durch den Zollbereich lief, war ich total überwältigt, als ich auf einem großen Schild las: „Welcome to the United States of America“. Wow! Und jetzt? Ich kam in den Bundesstaat Mississippi in ein kleines Städtchen ganz im Süden und war erst einmal begeistert von den Supermärkten, Autos, Golfplätzen, Restaurants, dem Essen, der Kirche und natürlich vom „fetten“ Südstaatenakzent, gleichzeitig aber auch schockiert über die Armut von manchen Menschen, die dort leben. Obwohl ich dachte, die USA und Deutschland würden sich ähneln, bekam ich viele ungewöhnliche und manchmal gewöhnungsbedürftige Dinge zu sehen. Ausgestopfte Enten an den Wänden im Haus waren am Anfang nicht mein Ding, aber mit der Zeit merkte ich, dass das Jagen ein ganz normaler Teil dieser fremden und doch irgendwie vertrauten Kultur ist. Ich sog begierig alles auf, was es zu erfahren und zu erleben gab. Über jede Besonderheit, über die ich stolperte, versuchte ich möglichst viel herauszufinden. So erfuhr ich zum Beispiel, dass die Amerikaner ihren Rasen bei langer Trockenheit mit grüner Farbe besprühen oder dass ein Hamburger durchaus zu einem richtig schicken Essen gehören kann. Ich war begeistert von der amerikanischen Kultur und Denkweise, die mich teilweise an Hollywoodfilme erinnerte. An meinem ersten Schultag erkannte ich schnell, dass die Teenie-High-School-Komödien nicht nur ausgedacht sind, sondern dass sie tatsächlich so passieren. In der Mittagspause saßen die Schüler in den immergleichen Grüppchen an ihren Tischen und eine Gruppe von Mädchen trug jeden Tag gleichfarbige Shirts.

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Doch nachdem sich die anfängliche Begeisterung gelegt hatte, merkte ich plötzlich, dass ich eigentlich ganz alleine war. Ich bekam so starkes Heimweh, dass ich oft nicht mehr aufhören konnte zu weinen. Wenn ich aus der Schule nach Hause kam, saß ich dort den ganzen Tag über alleine, schaute Fernsehen und hatte niemanden, mit dem ich reden konnte. Ich war es nicht gewohnt, dass niemand für mich da war. Meine Gastfamilie war kaum zu Hause und so richtig stimmte die Chemie zwischen uns auch nicht. Und Freunde – nun ja – ich hatte einfach keine nach einer so kurzen Zeit. Es gab ein paar Jugendliche in der Kirche und der Schule, mit denen ich mich ganz gut verstand und die auch immer vorschlugen, dass wir etwas gemeinsam unternehmen könnten, aber letztlich hatten sie doch keine Zeit oder riefen erst gar nicht an. Die Schule brachte mir ein bisschen Abwechslung. Ich belegte interessante Fächer wie Psychologie, Theater und Chor. Oftmals war der Unterricht jedoch relativ einfach und es wurde mir schnell langweilig. Aber dies sollte sich bald ändern. Da ich durch das reichhaltige Essen immer weiter zunahm, beschloss ich eines Tages, joggen zu gehen. Ich quälte mich also in meine Laufschuhe und rannte los. Nach dem Laufen fühlte ich mich schon deutlich besser. Von da an ging ich jeden Tag joggen, nicht so sehr um abzunehmen, sondern weil es mich glücklich machte. Plötzlich erschien mir alles schöner, die Leute waren freundlicher und ich hatte sogar ein bisschen Hoffnung, dass manche davon zu Freunden werden könnten. Zwei Monate später lief ich in Tennessee meinen ersten Halbmarathon. Ich war unglaublich aufgeregt, aber ich kam als Zweite meiner Gruppe ins Ziel. Die Schule erschien mir inzwischen auch nicht mehr eintönig, als ich herausfand, dass in meiner Englischklasse ein paar sehr nette Mitschüler hinter mir saßen, die ich vorher nie bemerkt hatte, da ich mich immer hinter meinem Buch verkrochen und den ganzen Tag nichts gesagt hatte. Und mein Politiklehrer war so nett, dass er mich in jeder Pause in seinem Zimmer mit seinem iPad spielen ließ und sich mit mir über Fußball und amerikanische Präsidenten unterhielt.

„Wieder zurück in die Heimat zu fliegen war fast genauso schlimm wie der Abschied von meiner Familie damals in Deutschland“

Irgendwie schaffte ich es, mich ins Tennisteam der Schule zu mogeln, obwohl ich zuvor noch nie Tennis gespielt hatte. Durch die vielen Spiele und das Training war ich nicht mehr so oft zu Hause und hatte auch nicht mehr so viel Heimweh. Inzwischen hatte ich drei Freunde, mit denen ich ab und zu etwas unternahm. Trotzdem saß ich vor allem an den Wochenenden noch oft allein zu Hause und wusste nichts mit meiner Zeit anzufangen. Und dann kam Marlee. Sie saß neben mir in den Theater-Stunden und wir hatten manchmal ein bisschen Smalltalk, aber ich traute mich nie, sie zu fragen, ob wir etwas gemeinsam unternehmen könnten. Eines Mittags rief sie mich plötzlich an und wir gingen zusammen für ihre Mutter einkaufen und fuhren gemeinsam in die Stadt. Wir verstanden uns auf Anhieb sehr gut. Von da an machten wir fast jeden Tag etwas zusammen. Sie war mit mir im Tennisteam und nach dem Training ging ich immer noch mit zu ihr, aß mit ihr zu Abend und wir unterhielten uns bis tief in die Nacht. Ich verstand mich ausgezeichnet mit ihrer ganzen Familie, denn sie waren genau so, wie ich mir meine Gastfamilie immer gewünscht hatte. Marlee und ich wurden mit der Zeit wie Schwestern und wir erledigten alles zusammen. Ich übernachtete fünf Nächte pro Woche bei ihr, wir gingen am See campen, verbrachten praktisch den ganzen Sommer auf ihrem Motorboot, ihre Familie nahm mich viermal mit in den Urlaub und schließlich zog ich ganz zu ihr. Marlees Mutter Tracy versuchte mir so viel von Amerika zu zeigen, wie es nur ging, und ich denke, das waren die besten vier Monate meines Lebens. Wieder zurück in die Heimat zu fliegen war fast genauso schlimm wie der Abschied von meiner Familie damals in Deutschland. Meine Gastfamilie brachte mich zum Flughafen und Marlees Vater nahm sich sogar extra einen Urlaubstag, weil er „seine jüngste Tochter richtig verabschieden wollte“.

Drei Wochen, nachdem ich wieder zurück in Deutschland war, kam Marlee mich besuchen. Wir hatten eine wunderschöne Zeit und ich bin mir sicher, dass wir uns noch viele Male sehen werden. Jetzt ist es schon fast ein Jahr her, seit ich in Amerika war. Unglaublich, wie die Zeit vergeht und was sich alles verändert durch eine halbes Jahr in einem anderen Land. Ich gewöhnte mich Stück für Stück wieder an Deutschland, auch wenn es am Anfang ziemlich schwierig war. Keiner von meinen deutschen Freunden konnte so richtig verstehen, warum ich Heimweh hatte nach einem Land, in dem Gemüse frittiert wird und in dem niemand mit dem Fahrrad fährt. Ich habe noch lange in Englisch geträumt und fast jeden Tag mit Marlee geskyped. Mein Herz war in Mississippi und ich wollte zurück zu meinem Abenteuer, zum Wasserskifahren und Klippenspringen und wieder auf der Ladefläche von Trucks fahren. Zurück zu den Baseballspielen und zu meiner zweiten Familie und auch zu diesem Jungen, in den ich mich ein klein bisschen verliebt hatte. Aber mit der Zeit wurde mir bewusst, dass es hier in Deutschland mindestens genauso viele Abenteuer und wunderbare Leute gibt wie in diesem kleinen Städtchen in Mississippi. Ich komme inzwischen damit klar, dass es jetzt zwei Orte gibt, an denen ich zu Hause bin, und dass ich auch immer Heimweh haben werde, egal, wo ich gerade bin. Über Weihnachten war ich wieder in den USA und im Moment plane ich meine Sommerferien, in denen ich nach Mississippi fliege. Diesmal mit meinem besten Freund, damit er verstehen kann, warum mir Amerika so ans Herz gewachsen ist.

„Die amerikanische Kultur kennenlernen, selbstständiger werden, eine neue Sprache lernen“

Wenn ich das alles lese, hört es sich an wie ein Märchen. Wer hätte am Anfang gedacht, dass mein Abenteuer noch eine so gute Wendung nimmt? Die amerikanische Kultur kennenlernen, selbstständiger werden, eine neue Sprache lernen – all diese Dinge erwartet man bei einem Schüleraustausch. Aber letztendlich ist das nur ein kleiner Teil von dem, was man wirklich fürs Leben lernt: über sich selbst, über Freundschaft und Familie, darüber, dass die Welt viel größer ist, als man denkt, und wie es ist, auch einmal auf sich allein gestellt zu sein, sich wieder aufzuraffen – und vor allem, dass es so Vieles gibt, für das es sich zu leben lohnt.

Hannah Klusmann, 18, besucht die 13. Klasse eines Gymnasiums in Rheinfelden nahe der Schweizer Grenze und macht im Frühjahr 2012 ihr Abitur. Danach plant sie, ein soziales Praktikum in Afrika zu absolvieren und anschließend Regie in Berlin zu studieren.

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