Karneval erlebt, Alltag gelebt

Bolivien-Erfahrungsbericht: Ein Schuljahr mitten in Südamerika

weltweiser · Schule · Bolivien · Ausland
GESCHRIEBEN VON: SVENJA OSMERS
LAND: BOLIVIEN
AUFENTHALTSDAUER: 12 MONATE
ERSCHIENEN IN: (NIX FÜR) STUBENHOCKER.
DIE ZEITUNG FÜR AUSLANDSAUFENTHALTE,
Nr. 2 / 2012, S. 26-28

„Vamos Llasas“, ertönt der laute Schrei in den kleinen Gassen Oruros. Es ist Karnevalszeit und ich bin mitten drin. Wohin das Auge blickt, sieht es verkleidete Personen mit Teufelsmasken und Glöckchenstiefeln. Doch wie bin ich überhaupt hier hergekommen?

Drehen wir die Zeit ein Jahr zurück: Ich bin in der 10. Klasse am Gymnasium und habe schon seit langer Zeit den Traum, ein Schuljahr im Ausland zu verbringen. Doch wohin ist die Frage. Ich möchte in ein Land, in das nicht jeder geht, das steht fest. Fünf Länder kommen in die engere Auswahl: Honduras, Chile, Argentinien, Thailand und Bolivien. Mehr aus einer Laune heraus treffe ich die beste Entscheidung meines Lebens: Bolivien. Und auf einmal heißt es schon: „In zwei Monaten geht’s los!“ Es ist Ende November und ich habe noch so viel zu organisieren: Impfungen, Versicherungen, Vorbereitungstreffen und alles, was noch so dazu gehört. Die zwei Monate vergehen wie im Flug und plötzlich ist schon der 31. Januar. In drei Stunden geht mein Flugzeug. Noch sind wir irgendwo auf der Autobahn, aber wir haben ja noch Zeit. In den zwei Monaten vor der Abreise ist mir nie bewusst geworden, dass ich meine Familie bald für ein Jahr lang nicht sehen werde, und auch an diesem letzten Tag ist es gar nicht schlimm. Am Flughafen verabschiede ich mich von meinen Eltern und meinem Bruder und steige in den Flieger Richtung Bolivien; zusammen mit fünf anderen Mädchen mit dem gleichen Ziel.

Schlaftrunken steigen wir aus dem Flugzeug, das uns gerade von Santa Cruz im Tiefland nach La Paz gebracht hat, dem Regierungssitz des Landes und zugleich dem höchstgelegenen Regierungssitz der Welt. Sagenhafte 4.000m liegen nun zwischen uns und dem Meeresspiegel. Es ist ein unbeschreibliches Gefühl, wenn man mit dem Taxi vom Flughafen aus ins Stadtzentrum fährt. Da La Paz in einem Talkessel liegt, hat man einen wunderschönen Ausblick über die gesamte Stadt samt Vororten und belebter Innenstadt. Den Tag unserer Ankunft verbringen wir mit einer Mitarbeiterin unserer Austauschorganisation und bekommen schon sehr viel von Bolivien zu spüren. Am nächsten Morgen geht es um 10 Uhr weiter und nach dreieinhalb Stunden stehen wir in Oruro am Busbahnhof und werden von unseren Familien empfangen. Meine Gastfamilie, das sind meine Gastmutter Magaly, meine Gastschwester Fabiola und drei weitere Gastbrüder, die aber gerade in China sind und mich somit nicht mit abholen kommen. Kennt ihr dieses Gefühl, wenn man etwas nicht kennt, aber automatisch sagt: „hier nicht“ oder „hier gerne“? Genau dieses Gefühl habe ich, als ich mit meiner Gastfamilie im Taxi zu ihrem Haus fahre. Unser Taxi hält genau in dem Moment an, als ich denke „hier bitte nicht“! Das Haus meiner Gastfamilie besteht aus meinem Zimmer, einem Bad und dem Raum, der später einmal die Küche werden soll. Außerdem gibt es etliche leere Räume, die noch ihrem Zweck zugeführt werden müssen. Als wir ankommen, werden in meinem Zimmer gerade die Fenster eingesetzt. Ich lebe auf einer Baustelle. Irgendwie hatte ich mir das alles ganz anders vorgestellt. Meine Gastfamilie besitzt einen Laden für Elektrozubehör, Lautsprecher und Musikinstrumente. Da gerade noch Ferien sind, verbringe ich sehr viel Zeit dort. Eigentlich spielt sich das ganze Leben um diesen Laden herum ab. Die ersten Tage fühle ich mich sehr seltsam und alles ist ungewohnt, aber was kann ich auch anderes erwarten.

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Mittlerweile sind zwei Wochen vergangen und heute ist mein erster Schultag. Ich bin leicht ängstlich und ein bisschen aufgeregt, da ich nicht weiß, was nun auf mich zukommt. Da ich älter bin als meine Gastschwester, werde ich eine andere Klasse besuchen als sie. Wir gehen auf eine sehr kleine Schule, die nur von circa 200 Schülern aller Altersklassen besucht wird. Meine Schuluniform und sämtliche Bücher haben wir bereits vor einer Woche besorgt. Jetzt ist es so weit. Gleich geht es los. Zur Schule. Um 8 Uhr fängt der Unterricht an. Ich begebe mich also nach drinnen, in diesen sehr kahlen, kleinen Raum. Jeder Schüler hat seinen eigenen Tisch, und die Tische stehen in geraden Reihen nach vorne ausgerichtet hintereinander. Ich setze mich auf einen freien Platz und prompt kommt ein Mädchen auf mich zu. „Wie heißt du?“ Ich hoffe, ich habe sie richtig verstanden und antworte auf gut Glück „Svenja.“ Schon prasseln weitere Fragen auf mich nieder und ich versuche, sie alle, so gut ich kann, auf Spanisch zu beantworten. Gabriela, das Mädchen, das mich angesprochen hat, scheint sehr nett und aufgeschlossen zu sein. Weitere Mitschülerinnen gesellen sich zu uns. Ich fühle mich ein bisschen wie ein Ausstellungsstück im Museum. Es ist alles gar nicht so schlimm, wie ich es mir vorgestellt hatte, aber ich bin trotzdem erleichtert, als die Lehrerin endlich erscheint. „Abastoflor, Angulo, …, Martinez, Osmers, …, Zeballos“, nach 33 aufgerufenen Namen werden alle als anwesend befunden und es geht los: mit der Kurswahl. Eher schlecht als recht habe ich mich für „exactas“ entschieden, denn ich wusste weder, was dies ist, noch was „letras“ zu bedeuten hat. Wie sich in den nächsten zwei Stunden herausstellt, habe ich gerade Mathe, Physik und Chemie als Hauptfächer belegt. In den nächsten Tagen sieht mein Schulalltag sehr interessant aus. Ich lerne immer mehr Leute kennen und finde sehr schnell Anschluss. Meine Schule geht jeden Tag von 8 Uhr morgens bis 17 Uhr nachmittags, wobei wir donnerstags ein bisschen eher Schluss haben und freitags nur vormittags Unterricht ist.

„Mädchen dürfen weder Make-up noch Wimperntusche oder sonstige Kosmetika verwenden“

Meine Schule, das Colegio Bethania, ist eine sehr traditionelle Schule. Schuluniformen muss man zwar an jeder Schule in Bolivien tragen, jedoch wird unsere Schule von einer Nonne geführt. Sor Monica ist geschätzte 80 Jahre alt und eine sehr resolute und strenge Frau. Jeden Montag versammeln wir uns vor Unterrichtsbeginn in der Sporthalle, hören eine Predigt und singen die National- und Schulhymne. Unser Schulgebäude ist so konstruiert, dass man als Schüler an einer Tür hereinkommt und an der anderen wieder hinausgeht. Hat der Unterricht angefangen, kann man die Schule weder betreten noch verlassen. Professora Margarita ist die Aufseherin in der Schule. Da die Schule sehr katholisch ist, ist es unter anderem ihre Aufgabe, unser Erscheinungsbild und unsere Kleidung zu kontrollieren. So dürfen Mädchen weder Make-up noch Wimperntusche oder sonstige Kosmetika verwenden. Nagellack ist verboten und wer doch damit erwischt wird, muss sich umgehend die Nägel ablackieren. Die Länge der Fingernägel wird kontrolliert und es wird auch geguckt, dass jeder eine Krawatte bzw. ein sogenanntes „corbatin“ trägt. Ebenso achtet Professora Margarita darauf, ob die Socken sauber sind und man gepflegt aussieht. Obwohl alles so streng und fremd ist, möchte ich hier nicht weg, denn schnell habe ich Freunde gefunden und ich will sie nie wieder hergeben. Meine besten Freundinnen Litzy und Nadia sind auch heute noch „mis amigas del alma“.

„Mein erster Eintrag in meinem Tagebuch nach diesem Zusammentreffen lautet: ‚Endlich eine richtige Familie’“

Letztendlich hat es aufgrund mehrerer Faktoren mit meiner ersten Gastfamilie nicht funktioniert und so wechsle ich schließlich nach nur einem Monat die Gastfamilie. Von heute auf morgen stehe ich plötzlich vor meiner neuen Familie. Ich betrete das Wohnzimmer. Es erwartet mich eine riesige Menschenmenge. Meine Schwester Paola sitzt neben meiner Mama Carmen und meinem Papa Rene und dann sind da noch Alvaro, mein kleiner Bruder, Maggie, meine Oma, Martha, meine Tante, Raul, mein Onkel, und noch viele mehr. Ich bin überwältigt. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll, und setze mich erst einmal hin. Kurze Zeit später bringe ich schon meine Sachen in mein Zimmer, das ich mir mit Paola teile. Gerade als ich runtergehen will, treffe ich auf meinen zweiten Bruder, den ich bis dahin noch nicht kannte, und merke schnell, dass er mehr ist, als ich mir wünschen konnte. Antonio oder – wie ich ihn nenne – Toño ist einfach genau so wie ich und versteht mich auf Anhieb. Ich habe das Gefühl, dazuzugehören. Mein erster Eintrag in meinem Tagebuch nach diesem Zusammentreffen lautet: „Endlich eine richtige Familie.“ Ich hatte dieses Familiengefühl sehr vermisst, das ich von zu Hause kenne. Nun habe ich endlich eine tolle Gastfamilie – bis heute meine liebsten Personen am anderen Ende der Welt. Die nächsten Wochen vergehen wie im Flug. Alles ist perfekt. Ich lerne immer mehr Leute kennen, beginne auf Spanisch zu träumen, fange an auf Spanisch zu denken. Ich kann mich komplett auf Spanisch verständigen. Es fällt mir immer schwerer, mit meinen Eltern am Telefon Deutsch zu reden, und es rutschen dauernd spanische Wörter dazwischen.

Eines Tages sitze ich an meinem Zimmerfenster im dritten Stock und gucke raus. Unten laufen viele Leute auf unserer sonst so leeren Straße. Die nächsten zwei Tage sehe ich die gleichen Leute und sie tanzen, sie tanzen auf der Straße. Am vierten Tag gehe ich runter und spreche sie an, mein Bruder kommt mit mir. Sie proben für den Karneval in Oruro und tanzen einen traditionellen Tanz, der sich „Tinku“ nennt. Es sieht faszinierend aus und wenn man bedenkt, dass ich rhythmisch sehr unbegabt bin, habe ich doch relativ viel Erfolg, als ich mich entschließe mitzumachen. Schon bald proben wir jeden Abend bis spät in die Nacht. Mein Vorteil ist, dass ich direkt mit der Tür ins Haus und dann in mein Bett fallen kann, wenn es abends doch mal später wird. Ich habe unglaublich viel Spaß und finde auch sehr gute Freunde. Und dann ist es endlich so weit. „Vamos Llasas“, ertönt der laute Schrei in den kleinen Gassen Oruros. Es ist Karnevalszeit und ich bin mitten drin. Wohin das Auge blickt, sieht es verkleidete Personen mit Teufelsmasken und Glöckchenstiefeln. Ich trage meine vor kurzem erstandene „traje“ und tanze zusammen mit den anderen durch Oruro hinauf zum Socavón. Dort steht eine Kirche, in der die Jungfrau vom Socavón verehrt wird. Fünf Stunden tanzen wir nun schon und sind fast da. Es ist ein unbeschreibliches Gefühl und ich bin einfach so froh, mit all diesen Leuten zu tanzen und mit ihnen etwas zu verkörpern, an das sie glauben.

„Es ist mit die beste Zeit meines Lebens“

Das Jahr vergeht und in ein paar Tagen ist meine „promoción“, meine Abschlussfeier. Zusammen mit meinem ganzen Kurs habe ich erfolgreich das bolivianische Abitur bestanden. Es war ein harter Kampf mit vielen Referaten, unverständlichen Hausaufgaben und einer Facharbeit, welche offiziell verteidigt werden musste. Mit 77 von 100 Punkten habe ich auch diesen Teil der Prüfung zufriedenstellend gemeistert und bin damit sogar besser als manche meiner Mitschüler. Bei der „graduación“ werden uns feierlich die Zeugnisse überreicht und – wie man es von Bildern aus den USA kennt – die Troddel unserer Hüte auf die andere Seite gelegt, um zu signalisieren, dass wir nun Absolventen sind. Abends steigt unsere „fiesta de promo“ in einer der wenigen guten Diskos in Oruro. Leider nehmen es Bolivianer nicht so genau mit der Pünktlichkeit und meine Familie ist wie immer chronisch zu spät. So muss ich den Ehrentanz mit meinem Freund tanzen. Später schwinge ich dann aber doch noch einmal das Tanzbein mit meinem Gastvater, das lasse ich mir nicht nehmen. Ich erlebe eine wunderschöne Feier mit all unseren besten Freunden und Verwandten und allen mir wichtigen Personen. Anfang Dezember beginnen die fast dreimonatigen Sommerferien. Von diesen drei Monaten bleiben mir noch circa anderthalb, bevor ich zurück nach Hause fliege. Ich verbringe sehr viel Zeit mit meinen beiden besten Freundinnen, Litzy und Nadja, und wir machen allerlei Unsinn. Es ist mit die beste Zeit meines Lebens. Zwei Wochen, bevor ich nach Deutschland zurück muss, machen meine Familie und ich noch einen Ausflug nach Copacabana. Ich weiß, was ihr denkt, leider ist es nicht der tolle Partystrand in Rio de Janeiro. Die Copacabana in Bolivien ist eher das genaue Gegenteil: eine kleine Kirchenstadt am Lago Titicaca. Es ist eine unglaubliche Reise. Zurück in Oruro gebe ich ganz zum Schluss meines Auslandsjahrs noch eine Abschiedsfeier für alle „Tinku-Tänzer“ und mache mich dann schweren Herzens wieder auf den Weg nach Deutschland. Ich werde dich vermissen, Bolivien!

Svenja Osmers, 20, lebt in Hamburg, arbeitet bei einem Vermittler für Auslandsaufenthalte und möchte nach dem Erwerb ihrer Fachhochschulreife gern International Business oder Management studieren.

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