Mein japanisches Leben

Ein Jahr Austauschschülerin: So glücklich wie noch nie

weltweiser · Schüleraustausch · Japan · Austauschschülerin
GESCHRIEBEN VON: JANA REYER
LAND: JAPAN
AUFENTHALTSDAUER: 10 MONATE
ERSCHIENEN IN: (NIX FÜR) STUBENHOCKER.
DIE ZEITUNG FÜR AUSLANDSAUFENTHALTE,
Nr. 3 / 2013, S. 16-18

Nun ist es schon fast fünf Monate her, dass ich am Frankfurter Flughafen in den Airbus A380 gestiegen bin und mich auf eine Reise in eine völlig neue Welt begeben habe. Genau 152 Tage, seit ich mein gewohntes Leben in Deutschland zurückgelassen habe, um für die kommenden zehn Monate ganz in den Alltag einer 16-jährigen Japanerin einzutauchen.

Unglaublich, wie schnell die Zeit verflogen ist, obwohl oder vielleicht auch weil in den ersten Monaten meines Aufenthalts so viel passiert ist. Die erste Woche in diesem mir bis dahin noch völlig fremden Land habe ich in Tokio bei einer großartigen Einführungsveranstaltung mit all den vielen anderen Austauschschülern aus der ganzen Welt verbracht. So wurde ich in kürzester Zeit bestmöglich auf mein künftiges Leben in dieser fremden Kultur vorbereitet. Dann war es so weit: Es kam der Tag, an dem ich meine neu gewonnenen Freunde am Flughafen in Tokio zurücklassen musste.

Mein Leben als deutsche Austauschschülerin in Japan startete eine Flugstunde später in Osaka, der drittgrößten Stadt Japans an der Westküste der Hauptinsel Honshū, genauer gesagt in einem direkt in die Metropole übergehenden Vorort bei meiner Gastfamilie, den Tagamis. Hier habe ich mich bereits ab dem ersten Tag wohlgefühlt und meine lieben Gasteltern, meine 16-jährige Gastschwester Yukie und ihren 12-jährigen Bruder Junya sofort ins Herz geschlossen. Jeder Tag brachte neue Erfahrungen, Erlebnisse und Erkenntnisse mit sich. Wir haben gemeinsam deutsches Ostern gefeiert, ein wundervolles Hanami – die traditionelle Kirschblütenschau – vor der Burg Osaka verbracht, uns einen ganzen Abend lang mit Sushi vollgestopft und das örtliche Shopping Center unsicher gemacht. Meine Gastfamilie hat mir eine kulturelle und kulinarische Entdeckungsreise in die Fernen und Weiten dieses einzigartigen Landes geboten, wie ich es nicht für möglich gehalten hätte. Meine Gasteltern und -geschwister haben mir dabei geholfen, mich an die fremdartige Kultur anzupassen und waren sehr verständnisvoll in Bezug auf meine anfänglich mangelhaften Japanischkenntnisse, die ich mit ihrer Unterstützung schrittweise verbessern konnte. Meine Gastfamilie hat mir in all diesen Wochen Erfahrungen ermöglicht, die ich sonst wohl nirgends hätte machen können.

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Meine Gastschule, die private Mädchenschule Baika High School, unterscheidet sich in vielen Punkten ungemein von meiner deutschen Schule, denn das, was ich hier tagtäglich erlebe, hat mit meiner deutschen Schule wohl so viel gemein wie die Sahara mit der Antarktis. Was ich damit meine? Hier ein kleiner Einblick in einen Schultag, der für mich in diesem Land mittlerweile zur täglichen Routine geworden ist: 8:50 Uhr, gerade eben hat die erste Stunde angefangen, doch mir fallen schon jetzt die Augen zu. Während Herr Noda in gewohnter Routine historische Ereignisse an die Tafel schreibt, ist es völlig still im Klassenzimmer. Nur das Quietschen der Kreide ist zu hören, manchmal gibt der Geschichtslehrer auch ein paar Kommentare zum Geschriebenen ab. Mein Blick schweift durchs Klassenzimmer. Völlig konzentriert schreiben meine Mitschülerinnen alles ab, was an der Tafel steht. Einige Mädchen schlafen allerdings auch, die Tischplatte dient dabei als Kissen. Bei dem bloßen Anblick muss ich mir ein Kichern verkneifen. Herr Noda macht eine Pause: „Habt ihr auch alles verstanden?“, fragt er in die Runde. Keiner antwortet. Unverwandt dreht er sich wieder um und schreibt weiter. Wenn ich in meiner Schule die Gänge entlanglaufe, komme ich mir oft vor wie in einem schlechten Science-Fiction-Film. Hunderte von Klonen kommen mir entgegen: Es sind dieselben knielangen Röcke, dieselben überlangen Kniestrümpfe, dieselben anständig zugeknöpften Blazer und, dazu passend, dieselben schlichten schwarzen Schultaschen. An meiner Schule herrscht Uniformpflicht, wie es in Japan üblich ist. Schmuck und Schminke sind verboten und wer sich die Haare färbt, wird der Schule verwiesen. Individualität soll nur in den Köpfen herrschen, nach außen hin sollen wir eine Gemeinschaft darstellen. Auch bei Ausflügen müssen alle die Uniform tragen und für den Sportunterricht gibt es ebenfalls einheitliche Kleidung. Scheint ein wenig gewöhnungsbedürftig, nicht? Aber sehen wir die Sache doch einmal positiv: Jetzt muss ich morgens nicht immer so lange überlegen, was ich anziehen soll.

„aktive Mitarbeit seitens der Schülerinnen ist unerwünscht“

Der Unterricht ist eine besondere Herausforderung. Vor allem in Mathe sind uns die japanischen Schulen weit voraus. Meist sitze ich einfach nur da und starre verständnislos das groteske Zahlenwirrwarr an der Tafel an. Während der Schulstunden redet nur der Lehrer, aktive Mitarbeit seitens der Schülerinnen ist unerwünscht. Stattdessen ist es hier völlig normal, dass die Jugendlichen im Unterricht schlafen. Und das kann ihnen keiner verübeln. Japanische Schüler stehen unter enormem Druck. Bis zur 9. Klasse gilt es neben dem Standard-Schulstoff auch noch weit über 2.000 Schriftzeichen, die Kanji, zu lernen. Der Unterricht ist anspruchsvoll und wer nicht mitkommt, ist selbst schuld. Auf die dumme Idee, die Schulstunden zu stören, kommt hier niemand, denn wer die schwierigen Abschlussprüfungen nicht besteht, hat später keine Chance. Die Universitäten nehmen nur die Besten und davon gibt es in Japan genug. Das bedeutet lernen, lernen, lernen. Abends geht es für viele Schüler noch zum Nachhilfeunterricht, und dass man danach noch bis um 3 Uhr morgens büffelt, ist für viele Japaner selbstverständlich.

“Als ich preisgebe, dass wir auf meiner alten Schule oft schon um 13 Uhr nach Hause gehen können, brechen einige der Mädchen in unbändiges Lachen aus“

In der Mittagspause ist von Leistungsdruck und Müdigkeit nichts zu spüren. Meine Mitschülerinnen springen lachend durch die Gegend, rennen die Flure auf und ab und reden wild durcheinander. Kurze Zeit später schieben alle ihre Tische zusammen und öffnen ihre O-Bentos. Zum Vorschein kommen Tofu, Shrimps, Seetangsalat und natürlich ganz viel Reis. Was in Japan tagtäglich in die Lunchboxen kommt, kenne ich aus Deutschland noch nicht einmal vom Mittagstisch. Während wir essen, fragen mich die anderen über die Unterschiede zwischen japanischen und deutschen Schulen aus. Alle hören gebannt zu, als ich vom deutschen Schulsystem erzähle. Niemand kann nachvollziehen, warum die weiterführende schulische Laufbahn in Deutschland bereits am Ende der Grundschulzeit vorbestimmt wird, wenn das mehrgliedrige Schulsystem greift und die deutschen Schüler auf verschiedene Schulformen verteilt werden. Als ich preisgebe, dass wir auf meiner alten Schule oft schon um 13 Uhr nach Hause gehen können, brechen einige der Mädchen in unbändiges Lachen aus. Als sich die Unruhe wieder gelegt hat, starren mich plötzlich 29 Augenpaare völlig entgeistert an: „Aber was macht ihr in all der Freizeit?“ Ich bin gerade mit dem Essen fertig, als auch schon der Schulgong ertönt. Als nächstes haben wir Englisch, auch wenn das auf den ersten Blick nicht unbedingt offensichtlich erscheinen mag, denn Herr Fujisawa spricht im Unterricht fast ausschließlich Japanisch. Bei einem kleinen Blick ins Lehrbuch fällt mir auch auf, warum. Im Gegensatz zu Mathe liegen Japaner in Englisch weit zurück. Nach dem Schulabschluss können japanische Studenten oft gerade einmal so viel Englisch sprechen wie deutsche Fünftklässler. Ich habe mal wieder den Faden verloren, was bei dem Wirrwarr an Schriftzeichen im Buch und an der Tafel auch nicht besonders schwierig ist. Ich stupse meine Banknachbarin an: „Do you know the page?“. Mit großen Augen schaut sie mich an. Das hat sie offensichtlich nicht verstanden.

„In Japan stellt das Clubleben gleichzeitig die Hauptfreizeitaktivität der Jugendlichen dar“

Es ist bereits 16:30 Uhr, als der Klassenleiter hereinkommt und uns unsere Handys wiedergibt. Damit ist der Unterricht offiziell beendet, aber die wenigsten Schülerinnen gehen heim. Die einen packen Kochschürzen aus ihren Taschen, eine Mitschülerin holt ihren Tennisschläger aus dem Spind, eine weitere zieht ihren Badeanzug aus dem Sportbeutel. In Japan ist es fast schon eine Selbstverständlichkeit, nach dem Pflichtunterricht an den schulischen Clubs teilzunehmen. Zu Beginn des Schuljahres hat hier jeder die Qual der Wahl. Vom Kunstclub über die Volleyballmannschaft bis hin zum Handglockenchor – bei etwa 30 verschiedenen Clubs wird jeder fündig. Für mich geht es nach dem Unterricht von nun an jeden Tag für mehrere Stunden zum Tanztraining. Trainiert wird auch am Wochenende und in den Ferien sowieso. Völlig normal, denn in Japan stellt das Clubleben gleichzeitig die Hauptfreizeitaktivität der Jugendlichen dar. Die Sonne geht bereits unter, als ich mein Fahrrad vom Schulhof schiebe. Vor 18:30 Uhr verlasse ich die Schule normalerweise nie. Das Training war mal wieder besonders anstrengend und als ich nach Hause komme, lasse ich mich erst einmal aufs Sofa fallen. Meine Gastschwester ist noch beim Schwertkampfsport. Als sie endlich nach Hause kommt, bleibt kaum Zeit zum Reden. Die Uniform behält sie gleich an, denn knapp eine Stunde später muss sie schon wieder los in die Nachhilfeschule. Freizeit ist wichtig, Bildung ist wichtiger.

Wie sehr sich meine neue japanische Schule auch von der deutschen unterscheiden mag, ich habe mich gut an all die Veränderungen angepasst und könnte mich mittlerweile auf keiner anderen Schule der Welt wohler fühlen. Obwohl es nicht immer einfach ist, dem Unterricht zu folgen, und mein Schultag erst am Abend endet, genieße ich diesen Teil meines Auslandsjahres. Sogar die allgegenwärtige Disziplin habe ich mit der Zeit lieben gelernt. Jeder Schultag bringt etwas Neues mit sich, Herausforderungen, denen ich mich gerne stelle. Mit meinen Klassenkameradinnen gibt es immer eine Menge zu lachen und ich hätte nie gedacht, dass mir all die neuen Freunde mit der Zeit so ans Herz wachsen würden. Mein Japanisch hat sich in all der Zeit um einiges verbessert. Da mir meine Gastfamilie bei Fragen immer gerne zur Seite steht und mir einige Lehrer freiwillig Privatunterricht in Japanisch geben, lerne ich von Tag zu Tag immer mehr dazu. So fällt es mir inzwischen sogar leicht, mich spontan mit jemandem zu unterhalten. Mein neues japanisches Leben lässt sich wohl kaum mit dem vergleichen, was ich aus Deutschland gewohnt bin. Gerade zu Anfang war deshalb vieles gewöhnungsbedürftig. Es ist wirklich erstaunlich, wie sehr sich mein Leben in so kurzer Zeit komplett auf den Kopf gestellt hat. Ich bin ehrlich gesagt überrascht, wie gut ich damit zurechtkomme, denn trotz all der vielen Umstellungen und Veränderungen bin ich so glücklich wie noch nie. Dieses Jahr wird das beste meines Lebens werden, da bin ich mir sicher, und so blicke ich zuversichtlich in die Zukunft und freue mich auf fünf weitere aufregende, lehr- und erlebnisreiche Monate. Wer weiß schon, was mich in den nächsten Wochen so alles erwarten wird!

Jana Reyer, 17, stammt aus Mähring in der Oberpfalz. Sie freut sich darauf, auch zukünftig, so oft es geht, in der Weltgeschichte herumzureisen, und würde nach dem Abitur 2015 gern für einen Freiwilligendienst nach Indien gehen.

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