Austausch weit weg in Neuseeland
Bei den Worten „We are ready to take off“ wurde mir das erste Mal ein bisschen komisch. Auf einmal überwog die Angst vor dem Neuen die Neugierde aufs Fremde und Ungewisse. Während der zehnmonatigen Vorbereitung – an dieser Stelle muss ich sagen, dass ich „planungsfanatisch“ bin und dass die Planung durchaus auch nur die Hälfte der Zeit in Anspruch nehmen kann – hatte ich so etwas nie gespürt.
Selbst als ich mich von meiner Familie und von meinen Freunden verabschiedet hatte, war das Gefühl der Abenteuerlust größer gewesen als der Abschiedsschmerz. Nun saß ich also in diesem riesigen Flugzeug und dachte an die letzten Monate in Deutschland zurück. Vor fast einem Jahr hatte das alles hier seinen Ursprung gefunden. In einer Freistunde nach den Sommerferien hatten meine Freunde und ich Broschüren über Auslandsaufenthalte in unserer Schulbibliothek entdeckt. Wir hatten sie durchgeblättert und angefangen zu träumen. Noch am selben Abend hatte ich meinen Eltern davon erzählt, dass ich ein paar Monate des 11. Schuljahrs im Ausland verbringen würde. Sie hatten nur geistesabwesend genickt. Doch ein paar Wochen später war es auf einmal ernst geworden. Ich hatte mich online bei der Austauschorganisation angemeldet und Neuseeland als Ziel ausgewählt. Schon am nächsten oder übernächsten Tag hatte jemand von der Organisation angerufen und mich zu einem Interview eingeladen. Zuerst hatte der Mitarbeiter der Austauschorganisation mit mir und mit meiner Familie ein Gespräch geführt und anschließend ein bisschen auf Englisch mit mir geredet, um zu testen, ob meine Fremdsprachenkenntnisse gut genug sind. In der folgenden Woche hatte ich einen Brief von der Organisation erhalten, der mir die mündliche Zusage nochmals bestätigte und den Vertrag enthielt. Ab da waren die Aufregung und der Stapel an Bewerbungsunterlagen, die ausgefüllt werden wollten, gewachsen.
Meine Gastfamilie hatte ich erst Monate später erfahren, wobei das Warten mich und mein Umfeld wohl fast in den Wahnsinn getrieben hat, da es zumindest für mich schrecklich gewesen war, mit der Ungewissheit zu leben. „Wo und wie leben sie?“ „Haben wir gemeinsame Interessen?“ „Werde ich Geschwister haben?“ Erstmals besser war es mir gegangen, als alle Neuseeland-Expeditoren sich auf einem Vorbereitungstreffen kennengelernt und festgestellt hatten, dass alle genauso viel bzw. wenig wussten wie ich. Endlich konnte man euphorisch und hysterisch mit Gleichgesinnten reden, ohne die eigenen Freunde zu nerven, die sicher immer versuchten, Verständnis aufzubringen, aber trotzdem nicht genau nachvollziehen konnten, warum man sich so verrückt machte. In den darauf folgenden Wochen war alles ziemlich schnell gegangen. Ich war shoppen gewesen, um mich der dortigen Jahreszeit Winter anzupassen, und hatte meine Visaunterlagen ausgefüllt und weggeschickt. Drei Wochen vor dem Abflug hatte ich dann auch die Gastgeschenke für die Familie gekauft – gar nicht so leicht für neun Personen.
Und nun war es so weit. Ich saß mit den anderen Austauschschülern im Flugzeug und flog den Zwischenstopp Los Angeles an. Nachdem wir in L.A. die strikten amerikanischen Zollkontrollen überstanden hatten, verbrachten wir die nächsten Stunden in einem Warteraum und informierten Freunde und Familie darüber, dass wir die erste Etappe der Reise gut überstanden hatten. Der restliche Flug bis Auckland verging schnell, da wir alle schon mehr als zwölf Stunden wach waren und entweder im Halbschlaf Filmen zu folgen versuchten oder uns ganz dem Schlafen hingaben. Am Flughafen wurden wir von zwei Mitarbeitern der Austauschorganisation erwartet, die uns in eine Jugendherberge brachten. In Auckland würden wir die nächsten Tage verbringen, um der fremden Kultur etwas näher zu kommen. Mir persönlich halfen die Einführungstage sehr, da Neuseeland nun wirklich etwas vollkommen anderes ist als Europa oder gar Deutschland. Ich fühlte mich einfach sicherer und wohler, Land und Leuten zuerst einmal gemeinsam mit anderen Austauschschülern zu begegnen, die dieselben Probleme und Ängste hatten wie ich. In diesen Tagen lernten wir die einfach unbeschreiblich einzigartige Landschaft, die Kultur der Maori, typische Neuseeländer und noch weitaus mehr kennen.
„Die Aufregung war unendlich groß“
Dann ging es weiter zu den Gastfamilien. Die Aufregung war unendlich groß. Außer ein paar E-Mails und einem „Pflichtanruf“, der uns alle viel Mut und Überwindung gekostet hatte, hatte es noch nicht viel Kontakt gegeben und im Prinzip waren die Menschen totale Fremde. Als das Flugzeug immer weiter an Höhe verlor und man nach und nach erst Felder und Berge, dann den Flughafen erkennen konnte, war ich so nervös, dass ich nicht mehr klar denken oder reden konnte und auch Probleme hatte, meinen Tee zu trinken, ohne ihn mit meiner Sitznachbarin zu teilen – an dieser Stelle nochmals Entschuldigung, Miriam. Endlich gelandet, liefen wir ein paar Meter über das Rollfeld, sammelten unser Gepäck ein und versuchten unsere Gastfamilien zu finden. Ich war schnell einem Nervenzusammenbruch nahe, da meine ein bisschen zu spät kam. Letztendlich wurde dann aber doch alles gut und die ersten Gespräche mit meinen Gasteltern auf dem Weg nach Hause fielen mir leichter als gedacht. Beim Abendessen lernte ich einen meiner beiden Gastbrüder kennen, bekam anschließend eine Hausführung und mein Zimmer wurde mir gezeigt. Bald darauf ging ich jedoch schon ins Bett und schlief unter einem großen Berg von Decken ein. An dieser Stelle muss ich sagen, dass die Winter in Neuseeland nicht zu unterschätzen sind. Auch wenn meist nur auf den Bergspitzen Schnee liegt, ist es oft sehr kalt in den Häusern, da die Wände und Fenster nicht isoliert sind. Für mich war das am Anfang die größte Umstellung. Immerhin hatte ich in Deutschland einen Sommer mit Rekordtemperaturen zurückgelassen und war hier in einem „Iglu“ gelandet. Das war für mich in den ersten Tagen schwer auszuhalten und nicht selten wünschte ich mich zurück. Viel Zeit zum Trübsalblasen hatte ich allerdings nicht, da ich schon am nächsten Tag meine japanische Gastschwester Kaho kennenlernte und bald auch meine erwachsenen Gastgeschwister sowie deren Familien.
„Und schon am Ende der Woche war ich akzeptiert und Teil der Gruppe“
Nur wenige Tage nach meiner Ankunft in Dunedin begann die Schule. Eine völlig neue Erfahrung. Alles, einfach alles war ungewohnt: die vielen fremden Gesichter, das System, die Fächer, die zur Auswahl standen, das Gefühl, eine Schuluniform zu tragen, die nun wirklich allen Modetrends der letzten 50 Jahre widersprach. Ich war froh, dass ich meine asiatischen Schwestern hatte, Kaho, für die auch alles neu war, und Nhung, die schon ein paar Monate dort zur Schule ging und uns alles zeigte. Zudem gab es weitere deutsche Jugendliche, die auch als Gastschüler vor Ort waren und mit denen ich mich austauschen konnte. Anfangs war ich fast schon enttäuscht, dass so viele andere Deutsche auf dieselbe Schule gingen, aber ab und zu mit Gleichgesinnten über Probleme wie Heimweh oder ähnliche Themen sprechen zu können, tat mir persönlich gut. Dennoch suchte ich natürlich Anschluss. Die Integration war für mich anfangs etwas schwierig, da ich mich niemandem aufdrängen wollte und deswegen immer darauf wartete, dass andere einen Schritt auf mich zumachten. Zwar wurde mir ein sogenannter „buddy“ zugeteilt, eine einheimische Schülerin, die mir in den ersten Tagen alles zeigte und mir bei allem half, die aber leider ein Schuljahr über mir war. So war es schwierig, mich in ihren Freundeskreis zu integrieren, da ich im Schulalltag nichts mit ihr oder ihren Freunden zu tun hatte. Irgendwann setzte ich mich dann einfach in der „lunchtime“ zu den Leuten, mit denen ich die meisten Kurse zusammen hatte. Und schon am Ende der Woche war ich akzeptiert und Teil der Gruppe. Von da an verbrachte ich alle Pausen und auch die Nachmittage mit ihnen. Wir schrieben uns für Sport wie Volleyball und Hockey ein und unternahmen am Wochenende etwas zusammen. Meine Erfahrung zeigt, dass es nicht wirklich schwierig ist, Anschluss zu finden, wenn man über seinen Schatten springt und auf Menschen zugeht. Es wird nämlich nicht passieren, dass ein Kiwi auf einen zukommt und einem seine Freundschaft anbietet, genauso wenig aber wird man zurückgewiesen werden, wenn man selbst aktiv wird. Im Kreise von Freunden war die Schule gleich viel schöner.
Da der Unterricht in Neuseeland, zumindest für deutsche Verhältnisse, eher spät – nämlich erst gegen 9 Uhr – anfängt, geht die Schule dementsprechend mittags etwas länger. Danach war normalerweise noch Training oder Orchester-, Chor-, Big-Band- oder Band-Probe. Wenn keine Termine anstanden, gingen wir fast immer in die Stadt. Abhängig von der Jahreszeit, gab es zwischen 17 und 19 Uhr dann „Tea“, die warme Mahlzeit des Tages. Die ganze Familie versammelte sich dafür. Da meine Familie sehr gläubig war, fand nach jedem Essen eine circa zehnminütige „Bibelstunde“ statt. Uns Austauschschülern wurde freigestellt, daran teilzunehmen; ebenso wie an den Besuchen der Gottesdienste ihrer Kirche. Abends sahen wir oft zusammen fern, manchmal backten oder spielten wir etwas. Nur sehr selten wurde der Abend für Hausaufgaben oder Ähnliches gebraucht. Einerseits, weil es in Neuseeland generell sehr wenig davon zu geben scheint, andererseits, weil an meiner Schule von uns Gastschülern nicht wirklich welche erwartet wurden. Am Wochenende hatte ich Zeit, auszuschlafen und mich mit Freunden zu treffen. Meist verabredeten wir uns spontan übers Internet oder per SMS. In Neuseeland gibt es so viele günstige Handyverträge, dass man „texten“ als Hobby bezeichnen kann. Pflichten im Haushalt hatten meine Gastgeschwister und ich nicht viele, dennoch freute sich meine Gastmutter, wenn wir ihr halfen. Auch das Verhältnis zur eher zickigen einheimischen Gastschwester verbesserte sich dadurch.
„In diesem Augenblick wurde mir ganz besonders bewusst, dass ich in Neuseeland war“
Gern möchte ich mit einem Erlebnis abschließen, das mir noch lange in Erinnerung bleiben wird. Kurz vor Ende des dritten „terms“ fand das Otago Music Festival statt. Alle High Schools aus dem Bezirk Otago trafen sich in Dunedin, um gemeinsam zu musizieren. Da ich angegeben hatte, dass ich Querflöte spiele, war ich ins Schulorchester „gesteckt“ worden und bekam sogar kostenlosen Unterricht während der Schulzeit. Das Orchester probte zweimal in der Woche. Es wäre übertrieben zu behaupten, dass wir besonders gut spielten, aber alle hatten ihren Spaß. Am Tag des Musikfestivals begannen sich alle Schulen schon morgens in der Town Hall einzufinden. Viele Schüler in den unterschiedlichsten Schuluniformen versammelten sich und bis zum Mittag wurden es immer mehr. Ein riesiges Orchester entstand, bestehend aus vielen kleinen Schulorchestern. Wir gehörten nun alle irgendwie zusammen – trotz der verschiedenen Uniformen. Einerseits war der Tag für mich musikalisch ein unvergessliches Erlebnis, da ich noch nie in einem so großen Orchester mitgespielt hatte, andererseits war es eine tolle Gemeinschaftserfahrung. Es war wunderbar zu erleben, wie schnell man neue Freundschaften schließen konnte – und das einfach nur auf Basis der Musik. Man kam mit seinem Nachbarn ins Gespräch, der weit entfernt auf eine andere High School ging, und war sich nach wenigen Minuten schon vertraut. Als Höhepunkt des Festivals empfand ich den Moment, in dem die ganze Town Hall die Nationalhymne auf Maori und Englisch anstimmte. In diesem Augenblick wurde mir ganz besonders bewusst, dass ich in Neuseeland war. Natürlich gab es auch noch andere ähnliche Erlebnisse, die mir das Land sehr nahe brachten: den „mud trip“ durch den Regenwald auf den Catlins, das Segeln durch den wunderschönen Milford Sound, das Kajaken durch den Abel Tasman National Park, das Fallschirmspringen in Taupo, oder aber die vielen Dinge im Schulalltag wie die erste Aufführung von meiner Theatergruppe, der einzige Sieg unseres unbeschreiblich schlechten Volleyballteams oder das Schreiben der NCEA-Examen zum Beispiel. In diesen Momenten hatte ich das Gefühl, am schönsten Ende der Welt zu sein, 22.000km entfernt von Zuhause, Freunden und Familie, aber ich wusste: Es ist jeden Zentimeter wert! Ich wünsche allen, die diesen Artikel lesen und selbst noch das große Abenteuer vor sich haben, eine wundervolle und unvergessliche Zeit „da unten“ und hoffe, dass ich Euch mit meinem Bericht helfen oder ein wenig die Angst nehmen konnte. In diesem Sinne: „ka kite anoo“ und „ora haere“.
Friederike Zahn, 17, lebt in Herdorf und wird im Frühjahr 2013 ihr Abitur machen. Danach würde sie gern noch einmal nach Neuseeland fliegen oder für einen Freiwilligendienst nach Südamerika gehen.
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