Typisch ungarisch: Studieren an der Andrássy Universität

Melancholie trifft Diplomatie

weltweiser · In der Staatsoper von Budapest - Ungarn
GESCHRIEBEN VON: IGOR MITCHNIK
LAND: UNGARN
AUFENTHALTSDAUER: 6 MONATE
ERSCHIENEN IN: (NIX FÜR) STUBENHOCKER.
DIE ZEITUNG FÜR AUSLANDSAUFENTHALTE,
NR. 5 / 2015, S. 61-62

Meine ersten Gedanken zu Budapest schießen mir durch den Kopf, als ich aus der Metro steige: „Keine deutsche Stadt kann im Regen so schön sein wie diese.“ Während ich die Straße entlanglaufe, absorbiere ich die auf mich einprasselnden Gegensätze, die mich die nächsten Monate begleiten sollen:

Die historischen Altbauten, deren bröcklige Fassaden ihre eigenen Geschichten zu erzählen scheinen, der Geruch der Straße, der mich an Istanbul erinnert, und die 1.000-jährige Geschichte Ungarns, die sich bewusst im Stadtbild widerspiegeln soll. Dazu zählt aber auch der Anblick der unzähligen, von der Regierung entrechteten Obdachlosen, denen das Budapester Parlament das Schlafen auf Straßen und Plätzen per Gesetz untersagt hat. Knapp eine Woche später habe ich in der Metro schon einen ersten ungarischen Freund gewonnen. Wir sind zufällig ins Gespräch gekommen; am Tag darauf zeigt er mir bereits das „Szimpla“, den weltweit bekannten „ruin pub“ im alten jüdischen Viertel. „Ruin pubs“ sind in Budapest der Renner, es handelt sich um alte, verlassene Hallen, die als Bars genutzt werden. Zur Dekoration dienen alle möglichen Dinge, Fahrräder schweben neben Bildern von Amateurkünstlern oder Fotografien, in den Ecken stehen alte Radios und nostalgische Nachttischlampen.

Eine Frau kommt an unseren Tisch und bietet uns für 200 Forint – knapp 70 Cent – eine Karotte an. Da in Ungarn überall Rauchverbot gilt, ist der Karottenverkauf als Alternative zum Rauchen in dieser Kneipe zum Running Gag geworden. Schräg gegenüber von uns sitzt eine etwa 50-jährige Frau alleine an ihrem Tisch und dreht sich im schummrigen Licht einer Nachttischlampe eine Zigarette. Sie sitzt stark nach vorne gebeugt. Der Freund merkt, dass ich sie beobachte. Ich sage ihm, dass mir ihr trauriger Blick aufgefallen ist. „Dadurch sieht sie typisch ungarisch aus“, antwortet er. Wir laufen aus der Bar in Richtung Andrássy-Straße – der zentralen Einkaufsmeile Budapests. Ein Obdachloser steht vor einer der vielen Gedenkstatuen, die in der Stadt verteilt sind, und spricht uns an. Er hält die Arme hinter seinem Rücken verschränkt und erzählt uns eine historische Anekdote zu der Statue. Mein ungarischer Freund bleibt stehen, nickt, übersetzt. Der obdachlose Mann hat für eine Universität in Budapest gearbeitet. Als die Mieten in der Stadt in die Höhe schossen, konnte er trotz seiner Hochschulausbildung seine Wohnung nicht mehr bezahlen und landete auf der Straße. Dieses Schicksal teilen viele, die sich nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in Ungarn keine Eigentumswohnung leisten konnten.

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Die Mieten sind zwar für deutsche Verhältnisse gut bezahlbar. In den gängigen WG-Börsen findet man noch problemlos Zimmer zwischen 250 und 300 € – für die Einheimischen, die monatlich durchschnittlich etwa 500 € netto zur Verfügung haben, ist das allerdings eine horrende Summe. Als deutscher Student darf man nicht vergessen, wie privilegiert man nicht nur auf der Welt, sondern sogar innerhalb der Europäischen Union ist. Auch Restaurant- und Kneipenbesuche – Mittagessen mit Suppe und Hauptgericht gibt es häufig für etwa 3 € –, kulturelle Angebote, Nah- und Fernverkehr sind deutlich günstiger als in Deutschland. So genieße ich das kulturelle Angebot der Stadt in vollen Zügen: Hin und wieder verirre ich mich in die monumentale Staatsoper Budapests oder entdecke die zahlreichen Jazzbars der Stadt. Die Preise der ungarischen Bahn erlauben kürzere oder längere Ausflüge in die Nachbarländer, nach Wien, Prag und nach Belgrad. Mit jeder dieser Städte teilt Ungarn eine faszinierende Geschichte, die sich zu erkunden lohnt. Schockiert bin ich allerdings über die Preise in den Supermärkten. Trotz des niedrigen Durchschnittseinkommens der Menschen unterscheiden sie sich nicht wesentlich von den deutschen Preisen, in den Drogerien sind sie zuweilen höher.

„Die Universität wirkt dadurch trotz der Unterrichtssprache Deutsch sehr international“

Die deutschsprachige Andrássy Universität, an der ich ein Semester verbringe, ist viel kleiner als eine reguläre Volluniversität in Deutschland. Es gibt nur knapp 200 Studierende, die in meinem Jahrgang etwa zu einem Viertel aus Deutschland und Österreich kommen, etwa zur Hälfte aus Ungarn und ein kleiner Rest aus anderen zentral- oder osteuropäischen Staaten wie Weißrussland, Albanien und Kroatien oder zentralasiatischen Staaten wie Aserbaidschan, Kasachstan und Kirgisien. Die Universität wirkt dadurch trotz der Unterrichtssprache Deutsch sehr international. Der Stundenplan steht bei meiner Ankunft noch nicht fest. In den ersten Wochen ändern sich Termine und Angebot fast vollständig. Kommilitonen bestätigen mir, dass es nicht ungewöhnlich ist, dass Kurse kurzfristig abgesagt werden oder nicht mit der Beschreibung übereinstimmen. Das hat allerdings wenig Einfluss auf meinen Studienerfolg: Etwa die Hälfte meiner im Vorfeld geplanten Kurse kann ich trotzdem absolvieren und dafür einige vorher nicht geplante Seminare problemlos in den ersten Wochen ergänzen. Das Betreuungsverhältnis ist sehr gut und der Kontakt zu Lehrenden wie auch anderen Studierenden unkompliziert. Ich profitiere von der engen Verzahnung der Fachbereiche Wirtschaft, Recht, Politikwissenschaft, Geschichte und Kulturwissenschaft und kann nicht nur Einblicke in diplomatische Praxis und internationale Beziehungen bekommen, sondern auch viel über mitteleuropäische Geschichte lernen.

„Auf sehr gegensätzliche politische Ansichten stoße ich auch an der Uni“

Ich erfahre einiges über die lange und auch für Europa bedeutende Geschichte Ungarns, die in Deutschland trotz der geografischen Nähe kaum ein Thema ist. Die Zeit der Österreichisch-Ungarischen Monarchie ist im ungarischen Geschichtsbewusstsein – das sich sehr vom deutschen unterscheidet – immer noch präsent. Die unterschiedlichen Geschichtsbilder, insbesondere im Bezug auf den Zweiten Weltkrieg, führen immer wieder zu Spannungen mit der Europäischen Union, aber auch innerhalb der ungarischen Gesellschaft. Auf sehr gegensätzliche politische Ansichten stoße ich auch an der Uni. Da die Studierenden aus den verschiedensten Ländern und politischen Lagern kommen, ist eine Meinungsvielfalt nur natürlich. Diskussionen laufen sehr respektvoll ab, was an den kritischen Dozierenden liegt. Diese moderieren die Streitgespräche entweder auf wissenschaftlich-theoretischer Ebene oder teilen ihre praktischen politischen Erfahrungen direkt mit uns. Letztere lerne ich vor allem in den Veranstaltungen im Bereich der Diplomatie kennen. Obwohl an dieser Universität nur Master-Kurse angeboten werden und das Niveau dementsprechend hoch ist, kann man das Semester mit der entsprechenden Motivation auch als Bachelor-Student gut bewältigen.

„Ich habe Einblicke in eine völlig andere Gesellschaft erhalten und die Vielfalt der Europäischen Union zu schätzen gelernt“

Jede Woche gibt es Abendveranstaltungen in Form von Vorträgen und Diskussionen, häufig mit internationalen Gästen aus Politik, Wirtschaft und Diplomatie wie Botschaftern und Ministern, vor allem aus Ungarn und anderen mittel- und osteuropäischen Ländern. Ein Mitarbeiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Budapest und Alumnus der Andrássy Universität, der in Kiew in der Nähe des Majdan gearbeitet hat, erzählt aus erster Hand von den Protesten und bürgerkriegsähnlichen Zuständen in der Ukraine. Die internationalen Kontakte, interdisziplinären Lehrveranstaltungen und Vorträge zählen rückblickend zu den spannendsten, die ich im Laufe meines Studiums erleben durfte und die ich auf keinen Fall mehr missen möchte. Die politischen Veranstaltungen, das große kulturelle Angebot, die Menschen, die ich dort kennenlernen durfte, und nicht zuletzt das Studium an der Andrássy Universität haben meinen Horizont nicht nur erweitert, sondern gesprengt. Es hat mir mehr bedeutet, als nur über den Tellerrand zu schauen. Ich habe Einblicke in eine völlig andere Gesellschaft erhalten und die Vielfalt der Europäischen Union zu schätzen gelernt – und auch, wie notwendig es ist, sie zu schützen. Die europafeindlichen Töne der Regierung, die historischen Erfahrungen der Menschen und die wirtschaftliche Lage des Landes sind der Nährboden für den tiefen Pessimismus der Bevölkerung, egal ob jung oder alt. So laufe ich an meinen letzten Tagen durch die Stadt und beobachte die Menschen, setze mich in ein Café und gucke mich wehmütig um. Einer ungarischen Freundin, die mich begleitet, fällt mein trauriger Blick auf. „Dadurch sehe ich typisch ungarisch aus“, erkläre ich ihr.

Igor Mitchnik, 23, schließt seinen Bachelor in Sozialwissenschaften an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf ab. Anschließend möchte er einen Master absolvieren und danach in die Arbeitswelt einsteigen.

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Koala Bär
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