Amerikanerin auf Zeit
Monatelange Vorbereitung, Zusammentragen von Referenzen, Interviews führen, Zittern vor dem ersten Skype-Gespräch, das Visum beantragen, Gastgeschenke einkaufen, Koffer packen, ein zweites Mal packen, um das zulässige Gewicht einzuhalten, voller Aufregung die ganze Nacht wachliegen – und plötzlich geht es los.
Ich sitze im Flugzeug und verspeise die nicht sehr schmackhafte Mahlzeit. Ich versuche, den verpassten Schlaf nachzuholen, doch kaum dämmere ich zwischen dem neuen Film mit Cameron Diaz und einer Tüte Erdnüssen ins Land der Träume, werde ich von der Sitznachbarin geweckt. Dieser Tag fühlt sich an, als hätte er erst gestern stattgefunden, als wäre ich erst vor ein paar Stunden losgeflogen, mit einem Koffer voller überflüssiger Shampooflaschen und Schokoladenvorräten für eine Jahresration, und mit vielen Erwartungen, Hoffnungen und Träumen im Gepäck. Ein Jahr später sieht der Koffer sehr anders aus, die Shampooflaschen sind aufgebraucht, die Schokolade ist längst vertilgt, der Kleiderbestand hat sich deutlich maximiert, die Erwartungen, Hoffnungen und Träume haben sich verändert. Diesmal mit im Gepäck sind Erinnerungen an Roadtrips quer durch das Land der unbegrenzten Möglichkeiten und an Freunde, die auf der ganzen Welt verstreut leben, Sprachkenntnisse, mit denen ich die Englischprüfung in der Schule noch mal im Handumdrehen ablegen könnte, dazu Muscheln aus Florida, Sand aus Kalifornien und Perlenketten aus New Orleans.
Vor dem Auslandsaufenthalt sind die Erwartungen an die bevorstehende Zeit groß: „Das Jahr soll das beste meines Lebens werden.“ So viel sei gesagt, dass es für mich in jedem Fall das interessanteste Jahr meines Lebens geworden ist. Ich glaube, dass ich nie wieder in so kurzer Zeit so viele neue Eindrücke sammeln werde, so viele verschiedene Orte sehen und unzählige interessante Menschen kennenlernen werde. Ich werde mich sicher nicht in so vielen Situationen wiederfinden, in denen ich die Augen schließen und mich zurück auf die heimatliche Couch wünschen werde. Einzigartig ist auch das Gefühl, die Fremdsprache besser als die Muttersprache zu sprechen. Wenn man tausende Kilometer weit weg von Freunden und Familie in einer fremden und oft auch befremdlichen Kultur lebt, stellt man sich manchmal die Frage: „Was genau mache ich eigentlich hier?“ Das alles ist nicht immer leicht und in meinem Jahr habe ich einige solcher Momente erlebt. Das Innenleben sieht oft viel emotionaler aus, als man es sich wünschen würde, und manchmal fehlt auch das Verständnis von anderen, das man sich erhofft hätte. Das Jahr ist kein Zuckerschlecken. Aber das Leben hat nun mal immer seine Höhen und Tiefen, man sollte nur nicht bei jeder Bodenlandung den Kopf in den Sand stecken. Denn es gibt auch unzählig viele atemberaubende Momente, in denen ich unglaublich froh gewesen bin, in das Flugzeug gestiegen zu sein. Und es gibt noch keinen einzigen Tag, an dem ich meine Entscheidung bereut habe, nach Amerika gegangen zu sein.
Meine Zeit hier habe ich bei einer lieben Gastfamilie in Virginia verbracht und bin für ein Jahr Familienmitglied auf Zeit geworden. Die Rolle als Au-Pair hat in meinem Fall eine Mischung aus nicht müde werdender Babyunterhalterin, kreativer Superköchin, nervenstarker Windelwechslerin, ausdauernder „Peekaboo“-Spielerin, motivierter Schaukelanschubserin und Multitasking-fähiger Trotzanfallberuhigerin ergeben – und das neun Stunden täglich. Außerdem habe ich mich als innerlich ruhige Dauerputzerin betätigt, wenn das Baby mal wieder das liebevoll gekochte Gemüsegratin fröhlich lachend und prustend im Rasensprenklermodus durch das gesamte Wohnzimmer beförderte. Aber ich habe die Arbeit geliebt! Vor allem habe ich das Baby ins Herz geschlossen, mit dem ich in diesem Jahr durch dick und dünn gegangen bin. Ich habe Zahnschmerzen, Fieber und schlaflose Nächte mitgemacht, die Fortschritte vom Schreien zum Brabbeln bis hin zum Sprechen miterlebt, den ersten Zahn, die erste Beule und den ersten Schritt begleitet. Jede einzelne Entwicklungsstufe habe ich mitbekommen und bin unglaublich dankbar dafür, dass ich Teil seines Abenteuers des Großwerdens sein durfte. Die Zeit mit dem Baby hätte ich gegen nichts in der Welt eingetauscht. Meine Gastgroßmutter hat gesagt, dass der Kleine erst durch mich so glücklich geworden sei, wie er jetzt ist. Ich habe richtig Gänsehaut bekommen, und mich sehr darüber gefreut. Manchmal realisiert man gar nicht, was für eine große Rolle man in dem Leben und in der Entwicklung der Gastkinder spielt.
„Meine Gasteltern haben keines dieser Klischees bedient“
Jedes Mal habe ich mich wie eine Schneekönigin gefreut, wenn jemand vermutet hat, das Baby sei mein eigenes und ich sei Amerikanerin. Das erste Mal eine Wegbeschreibung auf Englisch wiederzugeben, ohne mich vor Nervosität und Wortfindungsschwierigkeiten zu verhaspeln, ist ein einmaliges Gefühl, das ich nicht so schnell wieder erleben werde. Gleichzeitig hofft man in einem solchen Moment, dass die fragende Person so bald wie möglich verschwindet, damit nicht auffällt, dass man eigentlich so amerikanisch ist wie das Oktoberfest in Massachusetts. Da ich gerade bei der Frage bin, was amerikanisch ist: Wenn man die USA vor dem trügenden Schleier der Vorurteile betrachtet, sieht man eine Nation hamburgervernichtender, bequemer Fernsehgucker, die Fast-Food-Ketten mit Clownsgesichtern wie ihre rechte Jackentasche kennen. Meine Gasteltern haben keines dieser Klischees bedient. Da ist zum einen die Tatsache, dass sie überhaupt keinen Fernseher besitzen. Mein Gastvater liebt es, seine Bienen zu hegen und zu pflegen, stellt selbst Honig und Joghurt her und hat mich in die Kunst des Brotbackens eingewiesen. Sein größter Stolz ist der sorgfältig gepflegte Gemüsegarten. Meine Gastmutter liebt Gemüseshakes, verbringt ihre Zeit sehr gerne draußen, im Fitnessstudio und beim Yoga. Sie sieht ihren Tag erst mit einem Muskelkater als vollkommen zufriedenstellend an. Beide habe ich sehr lieb gewonnen.
„Wieder zu Hause, wurde mir bewusst, wie peinlich die Angelegenheit war“
Über die Weihnachtsferien sind wir gemeinsam nach New Mexico geflogen, um den anderen Teil der Familie zu besuchen. Die amerikanischen Verwandten sind nämlich nicht selten über das ganze Land verteilt. Dabei habe ich zum ersten Mal einen Eindruck von den weiten Entfernungen bekommen. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es wäre, wenn meine Großfamilie quer über Europa bis hin nach Asien verbreitet leben würde. Die amerikanischen Verwandten haben mich sofort herzlich aufgenommen und mich wie einen Teil ihrer Familie behandelt. Das hat sehr gut getan, vor allem zur Weihnachtszeit, da ich meine Familie in Deutschland doch etwas vermisst habe. Santa Claus hat mich dann auch in den fernen Wüsten New Mexicos aufgespürt, sodass ich meine Socke am Morgen des 25. Dezembers prall gefüllt auf dem Sofa liegend vorgefunden habe. Es ist im Allgemeinen sehr interessant, Feiertage in den USA zu erleben. An Thanksgiving habe ich meinen ersten und wahrscheinlich letzten Truthahn gestopft, der übrigens köstlich geschmeckt hat An Halloween bin ich mit dem Baby um die Häuser gezogen, um die mit Totenköpfen und Spinnennetzen verzierten Straßen zu bestaunen. Zu Ostern hat mein Gastvater eine Schnur kreuz und quer durch das ganze Haus bis in den Garten gespannt, entlang derer ich viele kleine Schokoladeneier gefunden habe, bis mich die Spur zu meinem Osterkorb geführt hat.
„Das Reisen gab mir in meinem Jahr immer wieder einen Motivationsschub“
Meinen Geburtstag verbrachte ich in Florida im Urlaub. Nach meiner Rückkehr gab es eine Geburtstagsparty, die meine Gasteltern für mich organisiert hatten. Die Überraschung war ihnen wirklich gelungen. Höhepunkt davon war ein typisch amerikanischer Kuchen mit grellbunter Schrift und mehreren Schichten von Zuckerguss, zum Grauen meiner Gastmutter. Ich muss wohl kaum erwähnen, dass er himmlisch lecker war. Meine zweite Urlaubswoche verbrachte ich in Savannah, Charleston und Boston, unternahm also quasi einen Roadtrip entlang der Ostküste. Das Reisen gab mir in meinem Jahr immer wieder einen Motivationsschub. Es war sozusagen das Unterbrechen des Alltags, das den Aufenthalt erst richtig zum Abenteuer werden ließ. Auf die Wochenendtrips freute ich mich meist wochenlang. Vom gestrichenen Flug in New Orleans, Delfinschwimmen in Orlando über „deep-dish pizza“ in Chicago, Schneesturm in New York und Verfolgungsjagd in Charleston bis hin zum spontanen Wandern in Flip-Flops und Strandkleid in den Bergen der Blue Ridge Mountains machte ich alles mit. Ich schlief auf fremden Sofas, ging in Washington D.C. verloren und fuhr spontan vier Stunden, um zum Strand zu kommen. Es war wunderschön, und die ganzen Eindrücke und Erinnerungen, ob gut oder schlecht, werde ich so schnell nicht mehr vergessen. Wenn man die Chance bekommt, für einige Zeit ins Ausland zu gehen, sollte man es sich zwar gut überlegen, aber die Angst vor Neuem und Ungewohntem eine nicht allzu große Rolle spielen lassen. Ich bin unglaublich froh, es gewagt zu haben!
Sarah Reichenstein, 19, verbringt ein weiteres Jahr als Au-Pair in Spanien bei einer Gastfamilie mit einem Baby und ist gespannt auf ein neues Land, eine andere Kultur und Sprache sowie aufregende Erlebnisse.
Lust auf mehr Erfahrungsberichte?
Dann klick auf den Au-Pair-Koala!