Von langen Tagen und kurzen Nächten
Erasmus. Ich muss zugeben, dass ich diesem Programm gegenüber lange Zeit skeptisch gewesen bin. Ein halbes Jahr herausgerissen aus der gewohnten Umgebung, allein in einem fremden Land, mit einer unbekannten Sprache und einer anderen Kultur.
Theoretisch konnte ich mir zwar vorstellen, dass ein Auslandssemester interessante Erfahrungen und Kontakte mit sich bringen würde, aber praktisch überwog doch die Unsicherheit. Dennoch, ein Erasmus-Semester war Teil meines Studiengangs im niederländischen Maastricht und deswegen musste ich mich mit dem Gedanken anfreunden. Anfang des Jahres gab meine Uni bekannt, dass es für mich nach Málaga gehen sollte. Spanien, ja, da kam dann doch ein bisschen mehr Freude auf. Immerhin: Sonne, Strand und Meer. Da konnte doch eigentlich nicht mehr allzu viel schiefgehen, und je näher der Auslandsaufenthalt rückte, desto neugieriger wurde ich.
Anfang September stieg ich schließlich aus dem Flugzeug, verließ den Flughafen von Málaga und trat einer Wand aus Hitze entgegen. Während es in Deutschland angenehme 15 bis 20ºC gewesen waren, knackte das Thermometer in Spanien die 38-Grad-Marke. Mit einem Kommilitonen aus Maastricht machte ich mich auf den Weg in das Hostel, in dem wir für zwei Nächte ein Zimmer gebucht hatten. Unser Ziel befand sich in einer sehr kleinen und engen, typisch spanischen Straße, in der man gleichzeitig die rechte und linke Häuserwand berühren konnte, streckte man beide Arme aus. Den gleichen Eindruck machte das Gebäude selbst. Mit seiner zwei Meter breiten Fassade konnte ein Haus eigentlich nicht viel kleiner sein. Drei Stockwerke mit engen Wendeltreppen verbunden, alles sehr klein und zusammengerückt. Dennoch kam eine einladende, gemütliche und irgendwie urige Atmosphäre auf. Noch in Deutschland hatte ich mir einige negative Bemerkungen über die zweitgrößte Stadt Andalusiens anhören müssen: „grau und dreckig“ und sogar „die hässlichste Stadt Spaniens“. Schon der erste Abend in Málaga sollte mich vom Gegenteil überzeugen. Als mein Kommilitone und ich wieder auf die Straße traten, hatte die Dämmerung eingesetzt und die stechende Hitze war erträglicheren Temperaturen gewichen. Auf unserem Weg durch die Stadt säumten Palmen die Straße, schöne alte Gebäude reihten sich aneinander und große Sonnensegel, die die Straßen überdeckten, sollten tagsüber für schattige Plätze sorgen. Die breite Fußgängerpassage war immer noch gefüllt von Menschen, und etliche Straßenkünstler unterhielten die Massen. Unser Spaziergang endete am Strand, wo wir bei einem kühlen Cerveza und mit Blick auf das Meer den Abend ausklingen ließen.
Obwohl die Vorfreude auf die kommenden fünf Monate stetig wuchs, sollte uns die Wohnungssuche noch einige Anstrengung bereiten. Uns war empfohlen worden, keinesfalls im Voraus ein Zimmer zu mieten, sondern uns besser vor Ort umzuschauen. Die paar Brocken Spanisch, die wir aus der Uni mitgenommen hatten, stellten sich allerdings als bei weitem nicht ausreichend heraus, um sich mit hektischen Spaniern per Telefon zu verständigen. Zwar war die Stadt übersät mit Flyern, die luxuriöse Studentenzimmer anpriesen, doch wir unterschätzten zunächst die Schwierigkeit, mit spanischen Vermietern, die kein Wort Englisch zu sprechen schienen oder sprechen zu wollen, Besichtigungstermine für geeignete Räumlichkeiten zu vereinbaren. Anhand kurioser Zettel, Nummern und Verbindungen fanden wir uns unter anderem in einer nebligen Bar wieder, in der uns ein abstruser Amerikaner anbot, doch zu zehnt in seiner Drei-Zimmer-Wohnung zu leben. Dankend lehnten wir ab. Die Zeit drängte, denn das Hostel war ausgebucht.
„Es gibt viel mehr zu tun, zu sehen, zu erledigen“
Mit der Gewissheit, keinen Schlafplatz für die kommende Nacht zu haben, zogen wir am zweiten Tag verunsichert und demotiviert weiter, um nur eine Stunde später unser Traumapartment zu finden. Die Zimmer waren recht klein und primitiv eingerichtet, aber wir hatten ein großes Wohnzimmer und eine riesige Dachterrasse, die in den kommenden Monaten zum Erasmus-Treffpunkt werden sollte. An einem der darauffolgenden Tage beschrieb ich die Zeit seit meiner Ankunft wie folgt: „Seit drei Tagen endlich die erste freie Minute. Durchatmen und alles bisher Erlebte verarbeiten. Auch wenn ich erst vor weniger als einer Woche in Spanien gelandet bin, kommt es mir so vor, als wäre schon unheimlich viel Zeit vergangen. Zeit ist hier etwas vollkommen anderes. Die Tage sind viel länger. Es gibt viel mehr zu tun, zu sehen, zu erledigen. Wenn ich am Ende eines Tages zurückblicke, scheint der Morgen schon eine Woche her zu sein. Auch, wenn ich leidlich müde bin, kann ich doch nur sagen, dass ich voller Vorfreude auf die kommenden fünf Monate blicke.“
„So kam in den Klassen eine lockere und internationale Atmosphäre auf“
Bevor im Oktober die Uni losgehen sollte, hatten wir einen Monat lang Sprachkurs, um unser Spanisch noch ein wenig aufbessern zu können. Der andalusische Akzent unterscheidet sich deutlich vom Spanisch, das man in der Schule oder an der Uni lernt, und bereitete mir zu Anfang einige Schwierigkeiten. Mit der Zeit gewöhnte ich mich aber daran und mittlerweile habe ich ernsthafte Probleme, das „s“, das in Andalusien so gern verschluckt wird, wieder an Worte wie „Gracias“ oder „Adios“ anzuhängen. Im Sprachkurs lernten wir Unmengen junger Leute aus der ganzen Welt kennen. Von europäischen Nachbarn wie Franzosen und Italienern bis hin zu Studenten aus Singapur und Korea war hier alles vertreten. So kam in den Klassen eine lockere und internationale Atmosphäre auf, die das Lernen sehr angenehm machte. Dieser erste Monat diente im Prinzip als intensive Eingewöhnungsphase. Vormittags gingen wir in die Sprachschule, nachmittags weiter zum Strand, Abendessen gab es gegen 22 Uhr auf unserer Dachterrasse, und danach zogen wir noch ein wenig durch die Straßen, um am nächsten Morgen wieder von vorne anzufangen. Lange Tage und kurze Nächte sorgen dafür, dass man im Süden mehr erlebt als bei uns in Deutschland.
„Der erste Tag war das pure Chaos“
So angenehm die Sprachschule gewesen war, so desorganisiert schien uns schließlich die Universidad de Málaga, kurz UMA. Der erste Tag war das pure Chaos. Keiner wusste, in welchem Raum welcher Kurs stattfand, wie man sich die Stundenpläne zusammenstellte oder wen man fragen konnte. Wir brauchten knapp zwei Wochen, bis wir unsere Kurse ausgewählt hatten. Das organisatorische Chaos hörte allerdings nicht auf. Räume wechselten ohne Vorwarnung, Professoren kamen nicht, und ganze Kurse irrten ziellos durch die Gebäude. Hatte man dann irgendwann den richtigen Raum mit dem dazugehörigen Tutor gefunden, war der Unterricht leider auch enttäuschend: keinerlei Interaktion oder Hilfsmittel zur Veranschaulichung, lediglich ein Professor, der 45-minütige Monologe über ein Thema hielt, und eine Gruppe Studenten, die jedes Wort mitschrieb. In Prüfungen bekamen wir ein Thema und wurden gebeten, das aufzuschreiben, was wir anhand unserer Notizen auswendig gelernt hatten. Es wurde kaum eigenständig gearbeitet, weder in Gruppen noch alleine, und Fremdsprachenkenntnisse waren nur sehr vereinzelt auszumachen. In einem Seminar wurden die Studenten gefragt, wie viele von ihnen Englisch sprächen: von circa 50 Studenten meldeten sich sechs. Meiner Meinung nach kann die hohe Arbeitslosenquote der jungen Spanier unter anderem auf dieses Hochschulsystem zurückgeführt werden, das die Studenten unzureichend auf das spätere Leben vorbereitet. In diesen fünf Monaten auf einer spanischen Uni lernte ich das mitteleuropäische System sehr schätzen, und ich würde eher davon abraten, nach Málaga zu gehen, um sich akademisch weiterzubilden.
Dennoch, während der nächsten Monate lernte ich Andalusien lieben. So chaotisch die Uni war, so sehr genoss ich den typisch spanischen Alltag. Schon bald hatten wir einige Spanier kennengelernt, die uns von da an bei all unseren Aktivitäten begleiteten. Nicht nur wir waren neugierig auf die spanische Kultur, auch die Málagueños knüpften gern Kontakte zu anderen Nationalitäten, und so sollten wir in das spanische Studentenleben eintauchen. Während man morgens und vormittags Seminare und Vorlesungen auf dem Campus besucht und nachmittags zu Hause die Siesta genießt, begibt man sich erst am frühen Abend auf die Straße, um sich mit Freunden zu treffen, Sport zu treiben oder anderen Freizeitbeschäftigungen nachzugehen. Erst spät abends gegen 22 oder 23 Uhr treffen sich die Spanier wieder mit ihren Familien. Dann wird entweder zu Hause oder aber in einem Restaurant oder einer Tapas-Bar in einer großen Gruppe gemeinsam zu Abend gegessen. Schon bald hatten wir uns genau diese Lebensart angewöhnt. Interessant war, dass die meisten spanischen Studenten, die ich in meiner Zeit in Málaga kennenlernte, noch daheim bei ihren Eltern lebten. Diese Lebensart scheint in Spanien durchaus üblich zu sein und auch spanische Eltern haben mit dieser Tradition keine Probleme. Nur sehr vereinzelt traf ich Studenten, die aus anderen Städten kamen oder eigene Wohnungen hatten.
„Das Weihnachtsfest feierte ich zusammen mit meiner WG“
Da mein Erasmus-Aufenthalt schon Ende Januar enden würde, hatte ich beschlossen, über Weihnachten und Neujahr in Málaga zu bleiben, um mitzuerleben, wie die Spanier diese Festtage verbringen. Es dauerte nicht lange, bis die andalusische Weihnachtsstimmung mich gepackt hatte. Schon Mitte November wurde die Stadt mit Weihnachtsbeleuchtung geschmückt. Die Lichter, wie wir sie in Deutschland kennen, sind nicht im Entferntesten ein Vergleich zu dem, was in Málaga aufgebaut wird. Straßen, Gassen und Plätze sind mit Hunderten von Lichterketten dekoriert, die die unterschiedlichsten weihnachtlichen Motive darstellen. Bäume werden mit unzähligen kleinen Glühbirnen geschmückt und riesige Weihnachtsbäume bringen die wichtigsten Plätze zum Leuchten. Später habe ich erfahren, dass gerade die südandalusischen Städte für ihre Weihnachtsbeleuchtung bekannt sind. Den meisten Mitteleuropäern wird diese Lichterpracht allerdings eher grenzwertig erscheinen. Das Weihnachtsfest feierte ich zusammen mit meiner WG und anschließend traf ich mich noch mit ein paar Spaniern in der Stadt. Die meisten Spanier blieben an dem Abend jedoch zu Hause bei ihren Familien.
„Wir zogen los in die Innenstadt, wo wir dann alle Spanier zur Botellón trafen“
Höhepunkt meines Erasmus-Semesters war der Silvesterabend. Auch den verbrachten unsere spanischen Freunde traditionell zu Hause, und so starteten wir die Nacht mit einem großen Buffet unter Erasmus-Studenten. Mit ein paar Dänen, Belgiern und Deutschen standen wir kurz vor dem Jahreswechsel auf unserer Dachterrasse mit Blick über die ganze Stadt und warteten auf die zwölf Glockenschläge der Kathedrale von Málaga. In Spanien ist es Tradition, in der Minute vor Mitternacht mit jedem Schlag eine Traube zu verzehren. Fast alle Spanier lauschen dabei den Glockenschlägen der Turmuhr an der Puerta de Sol in Madrid, die live im Fernsehen übertragen werden. Die Trauben, die „uvas de la suerte“, sollen Glück bringen und die Wünsche für das nächste Jahr erfüllen. Damit man sich nicht an den Kernen verschluckt, gibt es die zwölf Trauben mittlerweile ohne Schale, entkernt und abgezählt in kleinen Dosen im Supermarkt zu kaufen. Nachdem wir unsere Trauben verzehrt und angestoßen hatten, zogen wir los in die Innenstadt, wo wir dann alle Spanier zur Botellón trafen. Darunter versteht man in Spanien das Zusammenkommen von sehr vielen jungen Menschen auf öffentlichen Plätzen, um gemeinsam zu feiern. Da es in Südspanien jedoch das ganze Jahr warm genug ist, um sich im Freien zu treffen, ist dieser Brauch in den vergangenen Jahren ausgeartet und wurde Ende 2006 in ganz Andalusien verboten. In Málaga findet nur noch zwei Mal im Jahr – an Halloween und an Neujahr – eine Botellón statt, die von der Gemeinde auf einem abgesperrten Platz überwacht wird. Hier feierten wir bis zum Morgen das neue Jahr, und fast schon unseren Abschied aus Spanien.
„Ich kann nicht verstehen, wie ich jemals daran zweifelte, ein Auslandssemester zu machen“
Wenn ich an meine Zeit in Spanien zurückdenke, kann ich nicht verstehen, wie ich jemals daran zweifeln konnte, ein Auslandssemester zu machen. Die Eindrücke von spanischer Kultur und Tradition, die ich in diesen fünf Monaten gewonnen habe, sowie die Menschen, die ich kennengelernt habe, lassen die anfängliche Unsicherheit fast grotesk erscheinen. Ich muss allerdings auch zugeben, dass ich mein geregeltes Leben in Deutschland und Holland sehr vermisst habe und nach meiner Rückkehr froh war, wieder einen Alltag zu haben, der weniger Siesta beinhaltet. Trotzdem: Jeder, der die Chance hat, ein anderes Land und dessen Bräuche und Einwohner kennenzulernen, sollte diese unter allen Umständen nutzen.
Julia Schmälter, 24, hat im Anschluss an ihren Bachelorabschluss in European Studies in Maastricht ein Jahr lang Praktika im Europäischen Parlament in Brüssel absolviert. Derzeit lebt sie in Bremen, wo sie einen Master in International Relations macht.
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