Erasmus-Semester in der Pariser Vorstadt
Dass ich während des Studiums ein Erasmus-Semester machen wollte, war mir nach dem Film „L´auberge espagnole“ klar, und dass es nach Frankreich gehen würde, stand spätestens mit meiner Entscheidung, Französisch zu studieren, fest.
So kam es, dass ich das vorletzte Semester meines Bachelor-Studiums an der Université de Cergy-Pontoise verbrachte. Cergy – wo liegt denn das überhaupt? Diese Frage stellte sich mir zunächst und sie wird mir auch immer wieder gestellt, wenn ich von meinem Auslandssemester erzähle. Cergy ist eine Vorstadt von Paris, die circa 30km nordwestlich liegt. Es handelt sich um die erste von fünf Trabantenstädten, den „villes nouvelles“, die ab Ende der 1960er Jahre um Paris herum gebaut wurden, um Wohnraum für die immer weiter steigende Bevölkerung der Hauptstadt und ihrer Umgebung zu schaffen. Typisch für die Städtebau- und Wohnungsbaupolitik dieser Epoche sind die mehrstöckigen Wohnhäuser im Plattenbaustil, die auf engem Raum Wohnungen für viele Menschen bieten. Was zu Beginn als absolut modern galt, zeigte jedoch schnell seine negativen Seiten: Cergy ist heute ein sozialer Brennpunkt mit einer für Frankreich überdurchschnittlich hohen Kriminalitätsrate. Hier leben hauptsächlich Menschen mit Migrationshintergrund, die meist nur eine schlechte Ausbildung haben. Viele dieser Menschen sind sogenannte Immigranten der zweiten Generation, sprich sie stammen aus den ehemaligen französischen Kolonien in Nord- und Westafrika.
Demgegenüber steht Münster, die Stadt, in der ich seit einigen Jahren wohne und studiere: Münster in Westfalen ist eine idyllische Studentenstadt, mit einer niedrigen Kriminalitätsrate, seit 2004 außerdem ausgezeichnet als „Lebenswerteste Stadt der Welt“. In Münster kann man zu jeder Tages- und Nachtzeit überall mit seinem Fahrrad hinfahren, ohne, dass irgendetwas passiert. Schon vor meinem Aufenthalt war mir bewusst, dass die Gegensätze zwischen meiner Studentenstadt und der Stadt, in der ich für ein halbes Jahr leben würde, groß sind. Allerdings machte ich mir darüber nicht so viele Gedanken, sondern freute mich hauptsächlich darauf, die Möglichkeit auf ein Auslandssemester zu haben. Im Übrigen, so dachte ich mir, liegt die Stadt direkt bei Paris, und allein dieser Faktor machte das Ganze für mich attraktiv. Dass Cergy jedoch das krasse Gegenteil zu Münster und zu Paris ist, wurde mir bei meiner Ankunft schnell klar. Paris ist geprägt von den großen Boulevards, der Hausmannschen Architektur des 19. Jahrhunderts, den typischen höchstens siebenstöckigen Häusern, von Platanenalleen und den unzähligen kleinen Straßencafés, wo man als Gast teilweise das Gefühl hat, dass die Autos nur einen Meter von einem entfernt vorbeifahren. Es gibt viele luxuriöse Einkaufsstraßen mit teuren Boutiquen, schick gekleidete Menschen und natürlich unzählige Sehenswürdigkeiten und viele Touristen. Cergy wirkt dagegen sehr trostlos und die Menschen, die dort leben, haben meist wenig Geld.
Auch was das kulturelle Angebot angeht, hat Cergy nicht wirklich was zu bieten. Es gibt ein Kino, ein Einkaufszentrum, zwei Kneipen und eine handvoll kleiner Lokale, die meist eine Mischung aus Pizzeria und Dönerbude sind. Von vornherein wurde uns Gaststudenten eingeschärft, in der Bahn auf unsere Sachen zu achten und abends bei Dunkelheit nur zu zweit oder in kleinen Gruppen auf die Straße zu gehen. Die Zimmer im Erdgeschoss hatten in manchen Wohnheimen sogar Gitter vor den Fenstern. Trotz der Warnungen und einiger Vorsichtsmaßnahmen hatte ich ein typisches Erasmus-Semester. Meinen ersten Abend verbrachte ich allein in meinem neuen Zimmer und mir kamen Zweifel: Ich fragte mich, wie ich mich dazu hatte entschließen können, mit nichts als einem riesigen Koffer und meinem Rucksack bewaffnet, für ein ganzes Semester nach Frankreich zu gehen. Wie es aber bei Erasmus üblich ist, lernte ich innerhalb der ersten Tage gleich unzählig viele andere Erasmus-Studenten aus ganz Europa sowie internationale Studenten aus anderen Teilen der Welt kennen. Sofort standen die ersten Ausflüge, Partys, Kennenlernabende usw. an. Mit meinen neuen Freunden verbrachte ich viel Zeit in Paris, sowohl tagsüber, um die Stadt zu erkunden, als auch abends und nachts, um in Bars zu gehen und zu feiern. Da das Wetter im September und Oktober oft noch gut war, boten sich Nachmittage im Jardin du Luxembourg und den vielen Cafés in Paris an. Zur Uni gingen wir natürlich auch.
„Auf uns Erasmus-Studenten wurde mehr Rücksicht genommen“
Die Uni in Frankreich läuft eher so ab, wie man es aus seiner deutschen Schulzeit kennt: Es gibt wenig Wahlmöglichkeiten und man ist in eine Art Klasse eingeteilt. Die Dozenten halten sich gerne an die berühmte Viertelstunde Verspätung, die man Franzosen im Allgemeinen nachsagt. Das hatte den angenehmen Effekt, dass man in vielen Kursen immer eine Viertelstunde zu spät kommen konnte, und trotzdem pünktlich war. Im Vergleich zu Deutschland muss man nicht immer darauf achten, dass man die Dozenten mit dem richtigen Titel anspricht. Doktoren- und Professorentiteln kommt im Alltag an der französischen Uni keine große Bedeutung zu. Generell wirkten viele der Dozenten etwas entspannter als die, die ich von meiner deutschen Hochschule kenne. Auf uns Erasmus-Studenten wurde, wenn nötig, mehr Rücksicht genommen, als ich es aus Deutschland kenne. Ein großer Unterschied zur Universität in Deutschland besteht darin, dass die französischen Studenten weniger wissenschaftlich arbeiten müssen. Hausarbeiten im Umfang von 20 Seiten, wie ich sie von zu Hause aus meinem Studium kannte, sind in Frankreich mehr oder weniger unbekannt. Stattdessen werden öfter Hausaufgaben aufgegeben, die von den Studenten in kurzem Umfang bearbeitet und dann – zu unserem Erstaunen häufig in handschriftlicher Form – beim Dozenten abgegeben werden. Besonders überrascht waren wir Gaststudenten von der Tatsache, dass wir in vielen Kursen unsere Notizen aus dem Semester mit in die Abschlussprüfung nehmen durften!
„An den Uni-Tagen hatte ich ein recht abwechslungsreiches Programm“
Meine Woche bestand meist aus drei Unitagen und vier freien Tagen, was sicherlich dazu beitrug, dass ich das französische Unisystem als ziemlich entspannt erfahren habe. An den Tagen, an denen ich an der Uni war, hatte ich ein recht abwechslungsreiches Programm: Filmanalyse, Kulturwissenschaften, Sprachwissenschaft, Übersetzung, Französischkurse für ausländische Studierende und Russisch. Da ich mir für meinen Bachelor in Deutschland leider fast nichts anrechnen lassen konnte, nutzte ich die Möglichkeit, ein paar Kurse rein nach persönlichem Interesse zu belegen. So war es beispielsweise interessant, einen Russischkurs zu absolvieren, um zu sehen, wie in Frankreich Sprachen vermittelt werden. Leider mit fast gar keinem kommunikativen Bezug, weshalb es auch nicht erstaunlich ist, dass viele Franzosen in der Schule zwar jahrelang Englisch oder Deutsch lernen, hinterher aber kaum ein paar Sätze frei sprechen können. Auch ich habe mittlerweile fast alles aus diesem Russischkurs vergessen.
Es fällt auf, wie jung die französischen Studenten sind. Häufig beginnen sie ihr Studium schon mit 17 oder 18 Jahren und sind dann mit circa 22 Jahren fertig. Dazu kommt, dass das französische Universitätssystem so angelegt ist, dass man im Normalfall die nächstgelegene Uni besucht. Das hat zur Folge, dass viele Studenten noch zu Hause bei ihren Eltern wohnen, was zugleich damit zusammenhängt, dass Wohnungen in Frankreich sehr teuer sind. WGs sind also viel weniger verbreitet als in Deutschland. Viele französische Studenten können aber auch nicht verstehen, dass viele Deutsche zum Studieren unbedingt von zu Hause ausziehen wollen, um unabhängiger zu sein. Hier besteht auf jeden Fall ein Unterschied zwischen den beiden Ländern. Die Tatsache, dass fast alle noch im „Hotel Mama“ wohnen, führt teils zu skurrilen Situationen: Verabredet man sich abends nach der Uni spontan mit seinen Freunden, um zusammen Abendessen zu gehen, werden erst die Mütter angerufen, um mitzuteilen, dass mit dem Abendessen nicht gewartet werden muss, da Sohn oder Tochter später kommen wird.
„Viele Franzosen können sich ein Essen ohne Fleisch nicht vorstellen“
Und was wäre ein Erasmus-Semester in Frankreich ohne „savoir-vivre“? Auch diesbezüglich machten wir unsere Erfahrungen, vor allem, was das Essen und Trinken angeht. So waren wir der Supermarktkette „Auchan“ dankbar für das preiswerte Angebot von Rotwein im 10-Liter-Kanister samt Zapfhahn. Vegetarier haben es in Frankreich schwer: Viele Franzosen können sich ein Essen ohne Fleisch nicht vorstellen. Das hat zur Folge, dass man im Restaurant oder beim Bäcker kaum fleischfreie Gerichte oder Sandwiches findet. Grundsätzlich gilt, so könnte man zumindest meinen, dass alles, was sich bewegt, essbar ist. Es ist ganz normal, beim Discounter Froschschenkel im Tiefkühlfach zu finden oder die berühmten Schnecken. Pferdefleisch ist ebenfalls nichts Außergewöhnliches. Auf den gekühlten Theken der Fischabteilung liegen alle möglichen Meerestiere aus. Allerdings scheinen die Köche der Mensa an meiner französischen Uni noch nichts von Haute Cuisine gehört zu haben. Im Vergleich dazu ist das Mensaessen in Münster wirklich Luxus. Finanziell schlagen Frankreich und „savoir-vivre“ leider etwas teuer zu Buche: Im Schnitt kosten Lebensmittel circa ein Drittel mehr als in Deutschland. Aber auch Wohnungspreise sind im Vergleich extrem hoch. Ein WG-Zimmer in Paris kostet durchschnittlich 600 bis 700 € pro Monat, mein Wohnheimzimmer in Cergy war zum Glück für 300 € zu haben.
„Ich vermisse meine internationalen Freunde, Paris und sogar Cergy“
Das Semester in Frankreich ging viel zu schnell um. Oft werde ich wehmütig, wenn ich an meine Zeit dort zurückdenke. Ich vermisse meine internationalen Freunde, Paris und sogar Cergy. Ich habe es als Bereicherung empfunden, einmal in einer Stadt zu wohnen, die ganz anders ist als Münster. Ich merke, dass mein Aufenthalt in Cergy viel zum Verständnis der Situation anderer Menschen beigetragen hat. Der Begriff der Parallelgesellschaft kommt einem in den Kopf, wenn man eine Stadt wie Paris sieht und direkt im Vergleich dazu die Vorstädte. Viel ist über die Krawalle von 2005 in den Pariser Vorstädten geschrieben und diskutiert worden, von der Gewalt und Menschen, die nicht integriert sind. Wenn man aber selbst eine Weile dort lebt, dann kann man die Frustration der Menschen verstehen. Für mich war Cergy nur mein Zuhause für dieses eine Semester. Ein Semester, in dem ich verstanden habe, wie frustrierend es sein muss, zu wissen, dass man die meiste Zeit seines Lebens in einer trostlosen Stadt verbringen wird, aus der man nur mit großer Anstrengung und überdurchschnittlichen Leistungen herauskommt. Kannte ich bisher nur die sonnigen Seiten Frankreichs aus zahlreichen Sommerurlauben, so habe ich jetzt ein differenzierteres Bild. Ansonsten hat mein Französisch von dem Semester sehr profitiert, was so weit führte, dass wir Gaststudenten uns sogar das Fluchen auf Französisch angewöhnten – eine Angewohnheit, die ich hinterher nur mühsam wieder loswurde.
Viola Müller, 25, hat an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster ihren Master of Education in Englisch, Französisch und Religion abgeschlossen. Derzeit arbeitet sie als Fremdsprachenassistentin an einer französischen Schule. Später möchte sie entweder als Lehrerin oder im Bereich internationale Kooperation bzw. Kulturarbeit tätig sein.
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