Schüleraustausch-Erfahrungsbericht: ein Jahr in Belgien
Schon seit Langem hatte ich den Wunsch, für ein Jahr im Ausland zur Schule zu gehen. Aber für welches Land sollte ich mich entscheiden? Wenn ich mit Freunden und Bekannten über mein Vorhaben sprach, so fragten mich viele: „Dann willst du also auch nach Amerika oder Kanada?“. Doch mich zog es gerade nicht wie alle anderen für einen Schüleraustausch in die USA, nach Kanada, Australien oder Neuseeland, sondern ich wollte nach Belgien.
Nachdem ich viele Formulare ausgefüllt und einen langen Brief an mögliche Gastfamilien geschrieben hatte, bekam ich Anfang des Jahres den erlösenden Anruf, dass man eine Gastfamilie für mich gefunden hätte. Ich war meinem Traum nun ein ganzes Stück näher. Es folgten viele Vorbereitungen, bei denen ich jedes Mal auf Erstaunen traf, wenn ich sagte, dass ich nach Belgien ginge. Die meisten fragten mich dann: „Willst du nicht weiter weg gehen? Ist das nicht zu nah?“ Aber mir ging es nicht um die Entfernung, sondern um die Sprache, denn ich wollte Französisch lernen. „Warum gehst du dann nicht nach Frankreich?“ Weil mich Belgien mehr reizte. Über Brüssel hatte ich schon viel gehört, besonders im Zusammenhang mit der EU, aber über das Land selbst wusste ich noch nicht viel, was mich neugierig machte. Mit dem eher unscheinbaren Land kannten sich auch die Menschen aus meinem Umfeld wenig aus und ich musste häufig die Frage „Was spricht man da eigentlich? Belgisch?“ beantworten.
Die Zeit vor meiner Abreise ging schnell vorbei und Ende August stieg ich in den Zug. Erst während der Zugfahrt wurde mir richtig bewusst, dass ich jetzt meine Familie, Freunde und die gewohnte Umgebung für ein ganzes Jahr verlassen würde. Aber die Zeit des Nachtrauerns wurde sehr schnell von der Vorfreude auf das Neue und Unbekannte abgelöst. Meine Gastfamilie war alles andere als „typisch belgisch“. Meine Gasteltern waren Spanier, lebten im Dreiländereck Belgien-Frankreich-Luxemburg, und mit mir als deutscher Austauschschülerin war der Kulturmix perfekt. So bekam ich die Gelegenheit, nicht nur die belgische, sondern auch die spanische Kultur kennenzulernen. Neben meinen Gasteltern hatte ich eine gleichaltrige Gastschwester und ältere Gastzwillinge, die aber – wie ich – zeitgleich ein Auslandsjahr machten. Viele behaupten zwar, Belgien und Deutschland würden sich nicht sehr stark voneinander unterscheiden, aber diese Erfahrung habe ich nicht gemacht. Allein schon deshalb, weil Belgien in zwei große Sprachregionen unterteilt ist, haben die Menschen dort eine ganz andere Einstellung. Im Norden liegt Flandern, wo mehrheitlich Niederländisch bzw. Flämisch gesprochen wird, und im Süden, in Wallonien, sprechen die meisten Menschen Französisch. Zwischen den beiden Regionen herrscht zwar eine spürbare Abneigung, aber dennoch sind die Belgier sehr offen und gastfreundlich.
An meinem ersten Schultag erlebte ich einen richtigen Kulturschock. Nachdem meine Gastschwester und ich von der Schule abgeholt wurden und im Auto saßen, unterhielt sich meine Gastschwester mit ihrer Mutter auf Spanisch, neben mir unterhielten sich zwei Freundinnen meiner Gastschwester auf Französisch und im Radio lief ein englisches Lied. Ich saß mitten drin und dachte mir: „Was für ein Durcheinander! Und das soll ich ein Jahr lang aushalten?“ Aber meine Bedenken lösten sich schnell in Luft auf, denn genau dieses Durcheinander machte meine Zeit erst so richtig aufregend. Am zweiten Schultag unternahmen wir einen Kajak-Ausflug und sollten uns jeweils zu zweit zusammenschließen. Da aber alle schon einen Partner hatten, stand ich zunächst alleine da. Plötzlich sah mich meine Klassenkameradin Nadège und fragte, ob ich bei ihr mitfahren möchte. Ich erzählte ihr, dass ich neu sei und aus Deutschland käme, und auf diese Weise kamen wir ins Gespräch. Auch an den darauf folgenden Tagen kam sie zu mir und stellte mich ihren Freunden vor, die später auch meine Freunde werden sollten. So wurde mir der Einstieg in die Schule im Ausland erleichtert, obwohl sich das Schulsystem stark vom deutschen System unterschied: Zum einen hatten wir jeden Tag von 8 bis 16 Uhr Unterricht, außer mittwochs, da hatten wir schon um 12 Uhr frei. Zum anderen gab es zwar Tests und Referate im Unterricht, aber diese waren für die Zeugnisnoten nicht ausschlaggebend. Nur die Ergebnisse aus den sogenannten Examen bestimmten am Ende die Zeugnisnote. Die Examen finden jeweils vor den Weihnachts- und Sommerferien statt. In diesen Prüfungswochen wird jeden Tag eine drei- oder fünfstündige Fachklausur geschrieben. Bei der Vorbereitung auf diese Examen unterstützten mich meine Freunde sehr. Aber auch sonst erklärten sie mir alles oder halfen mir bei den Hausaufgaben, denn ich musste wegen G8 das Schuljahr in Belgien bestehen, damit ich die Einführungsphase der Oberstufe, die ich in Deutschland verpasste, später nicht wiederholen musste. Es bedeutete zwar mehr Arbeit für mich als für andere Austauschschüler, aber so lernte ich den richtigen Schulalltag kennen.
„Meine Gasteltern merkten meist sofort, wenn etwas nicht stimmte“
Die Schule nahm zwar einen großen Teil meiner Zeit in Anspruch, aber besonders am Anfang bestimmte auch meine Gastfamilie mein Leben maßgeblich. Ich fühlte mich sofort sehr wohl bei ihnen, wodurch ich weniger Probleme mit Heimweh hatte. Aber natürlich überkommt es einen manchmal, selbst wenn einen die Gastfamilie unterstützt und in der Schule alles gut läuft. In solchen Momenten konnte ich mich jedoch immer an meine Gasteltern wenden, und sie merkten meist sofort, wenn etwas nicht stimmte. In den Herbstferien durfte ich meine Gastfamilie nach Amsterdam begleiten und an Ostern nach Spanien zu den Großeltern. Sie nahmen mich richtig in die Familie auf, sogar die Großeltern versicherten mir, dass ich wie eine Enkelin für sie sei. Einige Zeit später fühlte ich mich auch nicht mehr wie „die Deutsche“, sondern vielmehr wie eine Einheimische. Und das Beste war: Alle anderen hielten mich auch für eine von ihnen. Wenn ich jemanden kennenlernte und derjenige nicht wusste, dass ich aus Deutschland kam, so hielt er mich sofort für eine Belgierin. Einmal musste ich sogar meinen Ausweis zeigen, damit mir geglaubt wurde, dass ich Deutsche bin. Die Zeit ging vorbei wie im Flug, sodass es schon bald Weihnachten wurde und meine beiden älteren Gastgeschwister, die ich ja noch gar nicht kannte, aus den USA zurückkamen. Ich hatte ein wenig Angst, dass sie mich nicht akzeptieren würden oder dass es zu Hause jetzt ganz anders zugehen würde. Vor allem, weil mein Zimmer gleichzei-tig das Zimmer meines Gastbruders war. Doch es kam alles anders, als ich befürchtet hatte, denn die Zwillinge waren genauso nett wie der Rest der Familie und wir verstanden uns bestens. Zu Hause war es nun voller, lauter und noch lustiger. Während der zwei Wochen, in denen mein Gastbruder da war, teilten meine Gastschwester Lucia und ich uns ihr Zimmer. Teresa, die ältere Gastschwester, blieb noch einen ganzen Monat, und weil sie ihren 18. Geburtstag noch nicht gefeiert hatte und Lucia und ich auch gerade unseren 16. Geburtstag hatten, feierten wir alle zusammen unseren „50. Geburtstag“. Es war eine tolle Feier und zu dritt machte selbst das Aufräumen am nächsten Tag Spaß.
„Die belgischen Pommes schmeckten wirklich gut“
Nachdem ich mein erstes Zeugnis erhalten hatte, gab es Faschingsferien. Fasching wurde in Belgien nicht so groß gefeiert, wie ich es aus Deutschland gewohnt war. In den Faschingsferien fuhren Lucia und ich mit Freunden meiner Gasteltern zum Skifahren. Für uns beide war es das erste Mal und wir freuten uns sehr. Die Woche wurde richtig schön, auch wenn ich nicht gerade viel Talent beim Skifahren bewies. Nach den Ferien begann dann wieder mein Alltag mit Schule, Sport und Freunden. Jetzt, wo es wieder wärmer wurde, aßen meine Freunde und ich in der Mittagspause draußen und machten manchmal sogar kleine Picknicks im Park vor der Schule. Wie ganz typisch für Belgien, aßen wir häufig „Frites“. Aber wir aßen sie nicht nur mit Ketchup oder Mayonnaise, sondern es gab Tausend verschiedene Soßen zur Auswahl. Und die belgischen Pommes schmeckten wirklich gut, genauso wie auch die Waffeln unschlagbar waren. Mit dem Frühling kamen auch die sogenannten „Grands Feux“, große Feuer, die in den Dörfern angefacht wurden, um den Frühlingsbeginn zu feiern. An den Wochenenden sah ich mir mit meinen Freunden diese Feuer gerne an.
Nach den Osterferien mussten wir uns auf die im Juni bevorstehenden Examen vorbereiten. Die letzten Wochen bis zu den Examen und somit auch bis zu meiner Abreise gingen viel zu schnell vorbei. Wir alle hatten Angst vor den Prüfungen und auch keine Lust mehr zu lernen, aber gleichzeitig planten wir schon, was wir alles in der freien Woche nach den Examen und vor den Zeugnissen machen würden, um das „Fin des Examens“ zu feiern. Das motivierte uns ständig aufs Neue. Sobald das letzte Examen geschrieben war, begann ich mit meinen Freunden zu feiern. Doch alles Schöne hat ein Ende, und die-ses kam unausweichlich mit dem Tag der Zeugnisvergabe – meinem letzten Schultag. Wir erhielten unsere Zeugnisse und ich sah, dass ich in allen Fächern bestanden hatte. Darüber freute ich mich natürlich sehr, doch schon bald wurde mir bewusst, dass ich mich nun von meinen Freunden verabschieden musste. Erst jetzt begriff ich so richtig, dass es nun vorbei war und wie schön doch das vergangene Jahr gewesen war. Lucia und mein bester Freund organisierten einen Tag später eine Abschiedsüberraschungsparty für mich, von der ich bis zu dem Augenblick, als ich nach Hause kam und alle im Garten auf mich warteten, nichts gewusst hatte. Zum Abschied schenkten sie mir alle ein Fotoalbum, in das jeder ein paar Zeilen hineingeschrieben hatte.
„In diesem Jahr hatte ich nicht nur viel erlebt, sondern auch Neues über mich erfahren“
Danach musste ich meine Sachen packen. In meinen Koffer kamen jedoch nicht nur Kleidungsstücke, sondern auch ganz viele neue Erfahrungen, die ich über Land und Leute gesammelt hatte. In diesem Jahr hatte ich nicht nur viel erlebt, sondern auch Neues über mich erfahren. Ich hatte nicht nur Französisch gelernt, sondern war selbstständiger und unabhängiger geworden. Meine Familie holte mich schließlich in Belgien ab und blieb noch ein paar Tage, um meine Gastfamilie kennenzulernen. Zum Abschied schenkte meine Gastschwester Lucia mir ein Album, auf dem stand: „Pour un an j’étais belge!“ – „Für ein Jahr war ich Belgierin!“. Ich denke, dass sie es damit auf den Punkt gebracht hat. In dem vergangenen Jahr war ich nicht nur zu Besuch gewesen, sondern hatte in Belgien gelebt, sodass das Land für mich zu einer zweiten Heimat geworden war. Auch meine Gastfamilie ist nun wie eine zweite Familie für mich und ich weiß, dass ich immer einen Platz in Belgien haben werde. Meine Erlebnisse und Erfahrungen kann mir niemand mehr nehmen und ich werde auf jeden Fall wieder nach Belgien fahren, denn mein Abschied war nur ein „Auf Wiedersehen“ und kein „Tschüss“.
Elisabeth Lindemann, 16, besucht die Gutenberg Schule in Wiesbaden, um dort das AbiBac zu machen. Sie möchte gerne Spanisch lernen und nach dem Erwerb des deutschen Abiturs und des französischen Baccalauréat noch einmal ins Ausland gehen.
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