Idealismus, Istanbul und internationale Freundschaften

Erasmus in der Türkei

weltweiser · Auslandsstudium · Auslandssemester · Türkei · Istanbul
GESCHRIEBEN VON: SABRINA T.
LAND: TÜRKEI
AUFENTHALTSDAUER: 4 MONATE
ERSCHIENEN IN: (NIX FÜR) STUBENHOCKER.
DIE ZEITUNG FÜR AUSLANDSAUFENTHALTE,
Nr. 8 / 2018, S. 56-57

Mein Auslandssemester führte mich an die Marmara Universität nach Istanbul. Top vorbereitet und hoch ambitioniert, wie ich war, hatte ich natürlich schon im Herbst einen Türkischkurs für Anfänger belegt, sämtliche Reiseportale zur Türkei durchforstet, und die Erfahrungsberichte meiner Vorgänger konnte ich fast schon aufs Wort auswendig.

Ich wollte alles sein, nur kein typischer Erasmusstudent. Wenn mich jemand fragte, was ich in der Türkei machen werde, antwortete ich nicht: „Ach, einen Erasmusaufenthalt“, sondern immer schön: „Ich werde dort studieren.“ Erasmus – das war für mich so negativ behaftet. Wollen doch sowieso alle nur feiern und trinken, reisen und faulenzen, von der Kultur hatten die doch alle sowieso keine Ahnung. Ich natürlich schon. Und ich würde ja auf keinen Fall so sein wie die restlichen Erasmusstudenten. Ich würde mir türkische Freunde suchen, mein Türkisch verbessern – was natürlich miteinschloss, dass ich viel Türkisch reden würde – und voll und ganz in die Kultur eintauchen. Aus den Erasmuskreisen würde ich mich vollkommen raushalten, sind ja ohnehin alles nur Kulturbanausen.

Ankunft am Istanbuler Flughafen: Mein Mitbewohner – natürlich ein Türke, ich wollte ja schließlich nicht mit anderen Erasmusstudenten zusammenwohnen – holte mich ab. Die WG hatte ich zuvor über eine Erasmus-Gruppe gefunden. Während wir uns mit Metro und Bus meinem zukünftigen Zuhause näherten, trumpfte ich schon mit allerlei Vorkenntnissen über die Stadt und die türkische Kultur auf. Sichtlich überrascht entgegnete mein Mitbewohner nur: „Ach, du wirst hier sowieso nur Party machen. Ist ja schließlich dein Erasmusjahr.“ Nein, ich mache kein Erasmusjahr – ich bin zum Studieren hier. Schnell fand ich heraus, dass mein türkischer Mitbewohner schon zwei Erasmusaufenthalte in Osteuropa hinter sich hatte, und es schien mir, als würde er von mir einen ähnlichen Verlauf der kommenden vier Monate erwarten. Als wir in der WG ankamen, dämmerte es mir, dass ich zumindest zu Hause mein Türkisch nicht verbessern würde – da meine andere Mitbewohnerin aus Spanien kam und der Vierte im Bunde ein Syrer war, wurde in der WG ausschließlich Englisch gesprochen. So viel zu den guten Vorsätzen.

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Montags begann die Uni und der erste Gang führte für sämtliche bürokratischen Angelegenheiten ins International Office meiner Gastuniversität. Natürlich sammelten sich vor dem Büro Erasmusstudenten aus aller Herren Länder und eigentlich sahen die alle ganz nett aus. „Na gut, so ein paar Kontakte könnte man ja auch mit anderen Erasmusstudenten haben“, dachte ich mir und ich war bisher ja sowieso ganz allein. Nach wenigen Minuten fand ich heraus, dass man sich mit allen auch wirklich gut unterhalten konnte. Eigentlich nicht verwunderlich, schließlich hatten wir uns alle für einen Auslandsaufenthalt in Istanbul entschieden – irgendwas mussten wir ja schon gemeinsam haben. Also verabredeten wir uns noch für den Abend und erledigten die restliche Bürokratie noch gemeinsam. Am nächsten Tag fingen ja die Kurse an und dann würde ich sicherlich auch bald türkische Freunde finden. Die Kurse begannen und ich wurde von meinen türkischen Mitstudenten herzlich aufgenommen. Sie halfen mir bei der Wahl meiner Kurse, wir verbrachten die Mittagspausen gemeinsam, bereiteten uns gemeinsam auf die Stunden vor und unterhielten uns über ihre Erasmusaufenthalte im Jahr zuvor. Auf dem Campus sahen wir uns oft und wir verbrachten eigentlich den kompletten Uni-Alltag gemeinsam. Doch Unternehmungen außerhalb der Uni waren schwierig: Meine Freundinnen wohnten noch bei ihren Eltern, oftmals zwei Stunden außerhalb der Stadt – wegen der günstigeren Mietpreise. Oft hatten sie Besuch von anderen Familienmitgliedern, da mussten sie der Mutter bei der Vorbereitung helfen und den Haushalt erledigen.

„Diese Partys waren doch eigentlich der Erzfeind, oder?“

Abends weggehen gestaltete sich aufgrund der langen Heimwege auch als sehr schwierig, außerdem waren einige sehr muslimisch erzogen und gingen deshalb abends auch nicht aus. Wir verstanden uns sehr gut, aber sobald die Uni zu Ende war, hatte ich kaum noch was zu tun. Andererseits waren ja ständig diese Erasmuspartys. Und die Leute waren echt nett. Ein-, zweimal auf so eine Party – das würde aus mir ja noch keinen Erasmusstudenten machen. Das wäre schon genehmigt. Also ging ich zum „ESN Pubcrawl“, zur „ESN Welcome Party“ und zur „ESN Grand Welcome Boat Party“. Auch wenn die Beschreibung dieser Partys mich erst einmal abschreckte. „Wir hoffen, du schaffst es noch zum letzten Stopp unserer Kneipentour“, „die verrückteste Erasmusnacht in deinem Leben“ oder „wir werden dich so betrunken machen, dass du dich an nichts mehr erinnerst“. Diese Partys waren doch eigentlich der Erzfeind, oder? Genau das wollte ich ja eigentlich nicht und um ehrlich zu sein: So ein Partytier bin ich einfach auch nicht. Alleine daheim rumsitzen war jedoch auch keine Option; schließlich bin ich ja gerade in meinem Erasmusjahr, oder vielmehr in meinem Auslandssemester. Die Partys waren feucht-fröhlich, die Trinkspiele mehr als albern, die Beschreibungen haben sich bewahrheitet. Und dennoch sollten mich die Menschen, die ich dort kennenlernte, über all meine Monate in der Türkei begleiten. Wir fanden heraus, dass wir eigentlich alle ähnlich dachten, dass wir uns eigentlich alle von diesem Erasmuskram fernhalten wollten, aber wir waren uns trotzdem alle einig: Die Partys am Anfang sollte man vielleicht schon besuchen, einfach nur, um Leute kennenzulernen.

„Sogar über Deutschland konnte ich im fernen Istanbul noch einiges lernen“

Wir gingen feiern, wir erkundeten die Stadt gemeinsam, wir gingen auf Reisen und ich musste feststellen, dass diese Erasmusstudenten ganz und gar keine Kulturbanausen sind. Sie kamen alle hierher, um eine andere Kultur kennenzulernen. Zugegeben, einige kamen vielleicht auch wirklich nur zum Feiern. Aber vielleicht kam man auch nicht nur hierher, um nur die türkische Kultur kennenzulernen, sondern gleich mehrere. Von Lana aus Slowenien erfuhr ich vieles über wunderschöne slowenische Landschaften, von denen ich noch nie zuvor gehört hatte, Jasmin aus Schweden brachte mir schwedische Wörter bei und Veronique aus Frankreich erzählte mir vom Leben in den Pariser Suburbs. Sogar über Deutschland konnte ich im fernen Istanbul noch einiges lernen: Freunde von mir kamen aus Berlin und Hamburg, da ist es tatsächlich auch noch einmal anders als in meinem Dorf im Schwarzwald. Auch wenn ich von ihnen nicht viel über die türkische Kultur erfuhr oder sich meine Türkischkenntnisse in unseren Unterhaltungen nicht verbesserten, haben diese Begegnungen meinen Erasmusaufenthalt oder mein Auslandsstudium – ist ja irgendwie auch egal, oder? – unglaublich bereichert. Wir konnten gemeinsam die türkische Kultur kennenlernen, haben gemeinsam türkisches Essen ausprobiert und haben uns gemeinsam in den Türkischkurs gesetzt. Wir haben gemeinsam türkische Vokabeln gelernt und haben gemeinsam andere Seiten der Türkei gesehen. Wir konnten uns gemeinsam über unsere Erfahrungen in Istanbul austauschen und so vieles auch voneinander, von internationalen Studenten, über Istanbul lernen.

Das heißt natürlich nicht, dass ich mich nicht weiterhin auch gerne mit Türken getroffen habe. Nach einer Zeit wurde ich zu den Familien meiner türkischen Mitstudenten eingeladen. Wir wurden bekocht und ich war mittendrin im türkischen Familienleben. Ich war auf dem Geburtstag des Bruders einer Kommilitonin eingeladen, wir trafen uns in den Vororten Istanbuls, um dort in ein Café zu gehen, und unterhielten uns im Whatsapp-Chat manchmal auf Türkisch. Irgendwann begriff ich, dass meine Kategorisierung viel zu kurz griff. Ich sollte mich nicht mit Türken anfreunden, nur damit ich mehr von der Kultur mitbekomme oder ich die Sprache besser lerne. Meine Denkweise vom Anfang kam mir auf einmal so egoistisch vor. Ich hatte mich mit diesen Mädchen angefreundet, weil wir uns gut verstanden – unabhängig davon, ob sie nun türkisch sind oder nicht. Zudem wäre es unglaublich schade gewesen, auf tolle Freundschaften nach Slowenien, Schweden, Frankreich, Hamburg oder Berlin zu verzichten, nur weil die Menschen zufällig auch Erasmusstudenten waren und alle Erasmusstudenten natürlich pauschal Partytiere sind. Ganz davon abgesehen will ich auch unsere gemeinsamen Partynächte nicht mehr missen.

„Es ist wichtig, sich auf die Kultur einzulassen“

Ich glaube, das Großartige an Auslandsaufenthalten ist immer, dass sich der Horizont erweitert. Nicht nur südöstlich, weil die Türkei dort liegt – sondern auch in Richtung Norden, Süden und Westen, weil man Menschen aus aller Welt trifft. Es ist wichtig, sich auf die Kultur einzulassen, und ein Interesse an dieser Kultur ist natürlich Voraussetzung, wenn man ein Land bereist. Partys feiern kann man überall auf der Welt, aber der Gebetsruf des Muezzins, neben dem Geruch von Kebab und dem Blick auf die Bosporus-Brücke – das gibt es nur in Istanbul. Und trotzdem wäre Istanbul für mich nicht Istanbul, wären da nicht die gemütlichen Abende mit Menschen aus aller Welt, die geselligen Mittage im türkischen Mehrfamilienhaus oder die zaghaften Versuche in Türkisch, auf den Märkten um einen besseren Preis zu feilschen. Und natürlich das Uni-Leben. Neben all den Erasmuserfahrungen hatte ich fast vergessen, dass ich ja in Istanbul studiert habe.

Sabrina T., 23, beendet derzeit ihren Bachelor im Bereich Internationale Wirtschaft und Entwicklung in Bayreuth und macht dann ein Praktikum in Myanmar.

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