Erlebnisse im Auslandsstudium in Chile
„Ausbrechen“, „Tapetenwechsel“, „das Nest verlassen“ und „unvergessliche Erfahrungen sammeln, solange man jung ist“. Mit diesen oder ähnlichen Phrasen könnte man die Wünsche zusammenfassen, die früher oder später wohl in einem Großteil der Heranwachsenden entstehen.
Wie praktisch, dass gerade für Studierende die Wege ins Ausland immer kürzer werden: Innerhalb der EU ist der mit einem akademischen Austausch verbundene Aufwand durch europäische Integration und Erasmus-Programme sowieso schon auf ein Minimum zusammengeschrumpft. Doch auch Aufenthalte auf anderen Kontinenten sind dank immer engmaschigerer Kooperationsnetze, wachsender Erfahrung auf Seiten der Organisatoren und effizienterer Vernetzung keine Seltenheit mehr. Kurz: Beinahe jeder, der wirklich daran interessiert ist, sollte Möglichkeiten finden, sich den Traum vom temporären Leben am goldenen Sandstrand, in der verträumten Kleinstadt oder der pulsierenden Metropole zu verwirklichen, und das ist auch gut so. In meinem Fall fiel die Wahl nach kurzer Recherche auf Chile – das Land mit der wohl ungewöhnlichsten geografischen Form, die auf der Weltkarte zu finden ist. Kein ganz klassisches Ziel, touristisch dennoch gut erschlossen und sicherheitstechnisch keines der Sorgenkinder Lateinamerikas. Darüber hinaus boten sich die Möglichkeiten, mein Spanisch zu verbessern, in der nordchilenischen Hafenstadt Antofagasta ganzjährig gutes Wetter genießen zu können und dank Kooperationspartnerschaft zwischen meiner und der dortigen Universität den bürokratischen Aufwand zu minimieren. Als Student der Sozialwissenschaften stellte für mich Lateinamerika, die spannende Geschichte und gesellschaftliche Entwicklung auf diesem faszinierenden Kontinent ohnehin schon lange einen Interessenschwerpunkt dar. Das Gesamtpaket ließ mich also nicht lange zögern und so landete recht schnell meine Bewerbung im Briefkasten des „International Office“ meiner Uni und wenig später die Zusage der Uni im meinigen.
Bereits am Zielflughafen sollte ich jedoch feststellen, dass Chile doch gar nicht so ein alternatives Reiseziel war, wie ich in meiner Naivität angenommen hatte. Abgesehen von mir waren noch zwei andere Deutsche auf die Idee gekommen, an der gleichen Universität zu verweilen, darunter sogar eine Studentin von meiner eigenen deutschen Uni. Obwohl wir uns in der Folgezeit mal mehr, meist aber doch eher weniger oft über den Weg liefen, verbrachten wir unsere Zeit auf ganz ähnliche Weise, die sich mit den Erfahrungen der allermeisten Austauschstudierenden an vergleichbaren Orten decken dürfte: Man tat etwas für die Uni oder die Sprachfertigkeiten. Man schloss Freundschaften, genoss das Klima, lernte immer wieder neue Orte kennen. Man feierte, reiste, einige verliebten sich. Man haderte mit sich oder kulturellen Unterschieden und freute sich, wenn die Zufriedenheit über bestandene Herausforderungen unterm Strich mal wieder alle Zweifel aufwog. So waren sich zum Abschied eigentlich alle einig, dass die Erfahrung alle Mühen wert war, und niemand bereute es, sich auf den Austausch eingelassen zu haben.
Sechs Wochen nach meiner Rückkehr: Auf der „Internationalen Messe“ meiner deutschen Universität sollen ehemalige Austauschstudierende über Programme und Kooperationen der Uni berichten und anhand eigener Erfahrungsberichte mögliche Ziele vorstellen. Doch nicht nur ich halte zum Thema „Chile“ einen Vortrag, sondern zufällig ist auch jene Kommilitonin anwesend, mit der ich zusammen in Chile studiert hatte. Hatten wir uns noch knapp anderthalb Monate zuvor mit einer Umarmung verabschiedet, vereint im Glauben an die verbindende Wirkung der Erfahrungen, die wir zu teilen meinten, überrascht es mich nun umso mehr, wie unterschiedlich unsere Bewertungen dieser gemeinsamen Erfahrungen am heutigen Tage ausfallen. Während meine Kommilitonin erzählt, sie würde Chile jederzeit wieder bereisen, würde sich jedoch gut überlegen, ob sie dort noch einmal studieren würde, habe ich mir so ziemlich das Gegenteil zurechtgelegt: Eine erneute Reise durch das Land halte ich für unwahrscheinlich, da ich das „Touristenprogramm“ nun bereits einmal absolviert habe, mit der chilenischen Gesellschaft fühle ich mich jedoch weiterhin sehr verbunden, verfolge deren Entwicklung und kann mir gut vorstellen – zumindest vorübergehend – erneut ein Teil von ihr zu werden.
„Man schloss Freundschaften, genoss das Klima, lernte immer wieder neue Orte kennen.“
Damit man mich nicht falsch versteht, wenn meine Weggefährtin von der wunderschönen Landschaft und natürlichen Vielfalt Chiles spricht, von den freundlichen Menschen, denen sie auf ihrer Reise begegnet ist, und davon, dass man sie als Europäerin immer sehr zuvorkommend behandelt hat, kann ich ihr nicht widersprechen. Von den Gletschern und Eislandschaften im Süden über die Seen und Wälder im zentralen Teil des Landes bis zu einem der trockensten Orte der Erde, der Atacama-Wüste im Norden, ist Chile eine wahre Wundertüte der Natur. Die Infrastruktur ist gut und alle diese Orte sind vergleichbar leicht zu erreichen. Für Rucksackreisende ist Chile ein Traumziel und als solches würde ich es auch unbedingt weiterempfehlen. Der Unterschied zwischen mir und meiner Kommilitonin liegt schlicht und ergreifend in unterschiedlichen Prioritäten und Erwartungen. Während für sie der Besuch von Sehenswürdigkeiten und der Genuss der Vorzüge des Landes im Vordergrund standen, lag für mich – wahrscheinlich auch bedingt durch mein Studium – der Fokus auf dem Kennenlernen der Geschichte und Gesellschaft. Sie hat mehr vom Land gesehen, ich mehr über die Menschen gelernt. Sie hatte öfter die Fotokamera in der Hand, ich das Geschichtsbuch. Keine der beiden Varianten ist die richtige oder die bessere. Die Unterschiede führen lediglich dazu, dass sie es nicht verstehen kann, wenn ich die Schönheit des Landes in meinem Vortrag nicht noch mehr hervorhebe, und ich kaum merklich den Kopf schüttele, wenn sie sich in ihrem Vortrag über „nervige“ Proteste und Stillstände in den chilenischen Universitäten beschwert.
„Seit acht Jahren kämpfen Studierende in Chile für eine Reform des Bildungssystems.“
Dabei scheint ihr Standpunkt auf den ersten Blick gar nicht so abwegig zu sein: Denn von Streiks an den Universitäten und Protesten an den Fakultäten betroffen zu sein, ist etwas, das man als ausländischer Student in Chile zumindest nicht ausschließen kann. Seit nunmehr acht Jahren kämpfen die chilenischen Studierenden für eine Reform des Bildungssystems, das noch aus der Zeit der Militärdiktatur in den 70er und 80er Jahren kommt. Horrende Studiengebühren und mangelnde Qualität der Lehre an einigen Universitäten sorgen regelmäßig für Protestaktionen, nicht selten in Form von Besetzungen und Bildungsstreiks, die für deutsche Studierende durchaus erst einmal ungewohnt sein können. Auf die Idee, Stillstände und Verzögerungen nun aber aus der Position eines ausländischen Studierenden, der zudem noch mit dem Privileg ausgestattet ist, gar keine Studiengebühren zahlen zu müssen, als „nervig“ zu bezeichnen, wäre ich persönlich nicht gekommen. Im Gegenteil! Während meine Kommilitonin sich über eine fehlende Woche Ferien beschwerte, fand ich es spannend, den chilenischen „compañeros“ beim Organisieren der nächsten Soli-Feier in der besetzten Fakultät über die Schulter zu schauen.
Als wir nach über 20 Minuten am Ende des Vortrags ankommen, steht jedoch fest, dass wir beide in Chile auf unsere Kosten gekommen sind, auch wenn wir gemeinsame Erlebnisse im Rückblick ganz unterschiedlich bewerten. Wir können einen längeren Aufenthalt in Chile jedem ans Herz legen, ganz gleich, ob er ihn als einen verlängerten Urlaub begreift oder ob ein tiefes Eintauchen in die Gesellschaft und Geschichte des Andenlandes das Ziel ist. Meine Kommilitonin weist zum Abschluss auf die fast dreimonatigen Ferien in der Sommerzeit zwischen Dezember und Februar hin und ich kann mir einen abschließenden Hinweis auf zahlreiche Zeitungsartikel, die in letzter Zeit zum Thema Bildungsproteste in Chile auch in deutschen Medien erschienen sind, nicht verkneifen. Wie vor sechs Wochen umarmen wir uns kurz zum Abschied, in dem Wissen, erneut eine gemeinsame Erfahrung gemacht zu haben, denn auch nahezu identische Erlebnisse in ein und demselben Land können ganz unterschiedlich bewertet werden. Dabei gibt es kein richtig oder falsch, kein besser oder schlechter, zu individuell sind die Interessen und Einstellungen. Es war unterhaltsam, sich darüber hinterher auszutauschen, und es hätte auch niemandem geschadet, sich bereits im Vorfeld zu fragen, was man eigentlich für Erwartungen an so einen Auslandsaufenthalt stellt.
Sören Schneider, 26, machte an der Ruhr-Universität seinen Bachelor in Sozialwissenschaften. Beflügelt von seinem Auslandsaufenthalt, beschloss er, seinen Master im Ausland zu absolvieren. Er studiert derzeit Internationale Beziehungen an der University of Amsterdam.
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