Von Honig und Hockeyspielen
2:27 Uhr, irgendwo zwischen Frankfurt und Moskau. 8.000m über der Erde rauscht das Flugzeug durch die Nacht. Drinnen sitzen Männer in feinen Anzügen, die haufenweise Plastiktüten mit sich herumschleppen, Kinder mit gigantischen Kuscheltieren und Frauen, die man über viele Bänke hinweg erriechen kann. Und mitten unter diesen Menschen sitzt ein neunzehnjähriger Freiwilliger auf dem Weg zum Freiwilligenprojekt. Das bin ich. Hannes Baumert. Ich fühle mich gut. Nachtflug Frankfurt nach Moskau, das hört sich doch schon sehr wichtig an. International. Metropol. Ich fühle mich groß.
Zumindest so lange, bis Irina kommt. Sie ist eine hübsche, blonde Frau, ungefähr in meinem Alter. Die Haare streng nach hinten zusammengebunden, trägt sie ein orangefarbenes Kleid, ihre Uniform. „Chay?“ fragt sie. „Ähh … English …?“, stottere ich. „Tea?“ Ich erwidere: „Tomato Juice?“ Und noch einmal fragt sie „Tea?“ und auch ich versuche es erneut: „No, Tomato!“ Aber es will einfach nicht so recht funktionieren mit der Kommunikation und so geht sie wieder zum russischen Wort über: „Chay?“ Verzweifelt entgegne ich ihr meine Version von russischer Umschreibung: „Niät … äh … Tomatsky … Tomatskaya!“ Verständnislos schüttelt sie den Kopf. Ich blicke mich hilfesuchend um. Doch alles schläft. Die Französin rechts neben mir, die bis eben noch auf ihrem Handy gespielt hatte, schnarcht jetzt unüberhörbar. Auch die Russin daneben hat die blaue Aeroflotdecke weit über ihr Gesicht gezogen. Ich bin also auf mich allein gestellt. Ab jetzt, die nächsten sechs Monate. Diese Zeit werde ich in Russland verbringen. Ich will über das Uralgebirge ziehen, will meine Hand auf die kalten, steinernen Kremlmauern legen, Kasatschok auf dem Roten Platz tanzen und auf dem Baikalsee eisangeln. Und jetzt schaffe ich es nicht mal, mir einen Tomatensaft im Flugzeug zu bestellen. „Kofje?“ fragt Irina, sichtlich übermüdet. „Voda!,“ meine rettende Antwort, „Wasser!“
Kurze Zeit später beginnt der Landeanflug. Und während ich an meinem Wasserbecher nippe, kommen unter uns langsam die Vorstädte Moskaus näher. Aus dem Lichtermeer werden viele kleinere Lichterketten. Und diese verwandeln sich schon bald in einzelne Straßenlaternen, Tankstellen und Reklametafeln. Erst jetzt beginne ich zu begreifen, dass das Land da unten für ein halbes Jahr meine neue Heimat sein wird. Von Moskau geht es zu meinem Freiwilligenprojekt dann noch zweieinhalb Stunden weiter gen Osten. Hier, am westlichen Rand des Uralgebirges, ist meine Einsatzstelle. Die Lehrerin, die mich betreuen soll, wartet schon mit ihrer Familie am Flughafen der Millionenstadt und bringt mich mit dem Auto in eine Hochhaussiedlung am Rande der Stadt. Hier in einem bürgerlichen Stadtteil von Ufa ist meine Wohnung. Ufa ist auf den ersten Blick keine besonders schöne Stadt. Gerade bei Regenwetter und niedrigen Temperaturen werden selbst die Prachtstraßen der Stadt, die nach Lenin und Marx benannt sind, zu matschigen Buckelpisten. Doch die Menschen, denen man hier begegnet, scheinen meist sehr glücklich zu sein, vielleicht wegen des guten Honigs, den man hier in der Republik Baschkortostan, wie dieser Teil von Russland heißt, fast überall finden kann. Honig ist der größte Schatz Baschkortostans. Gleich zur Begrüßung wird mir schon von meiner Ansprechpartnerin Gulnara ein großes Glas in die Hand gedrückt. Und auch in den Geschäften in und um Ufa findet man Regale voll mit Honig. Vielleicht ist es dieses süße Gold, das die Menschen hier so glücklich erscheinen lässt, vielleicht aber auch, weil sie ihr Glück hier irgendwo zwischen den alten Sowjetbauten und Denkmälern gefunden haben. Getreu dem Zitat von Heinrich von Kleist: „Honig wohnt in jeder Blume, Freude an jedem Orte. Man muss nur, wie die Biene, sie zu finden wissen.“ Und so versuche auch ich, diese Freude trotz Regen und grauem Herbstwetter in Ufa zu finden.
Ich schleppe meinen Koffer in die zweite Etage eines großen Plattenbaus. Hinter zwei Stahltüren liegt meine erste eigene Wohnung: ein Wohnzimmer, ein Bad, eine Küche. Von dort blicke ich auf zwei gigantische Mehrfamilienhäuser, hinter denen kleine Einfamilienhäuser mit bunten Wellblechdächern zu finden sind. Etwa zehn Minuten dauert es, bis ich von meiner Wohnung in die Schule gelaufen bin, an der ich arbeite. An meinem ersten Arbeitstag werde ich von einer Deutschlehrerin über den langen Dielenflur zu einem winzigen Zimmer geführt. Auf engstem Raum stehen hier sechs Schreibtische, darüber Regale mit Deutschbüchern. Das „Deutschlehrerinnen-Laboratorium“ ist der Arbeitsraum der sechs Damen, die sich hinreißend um mich kümmern, mir ständig sehr heißen Tee anbieten, mir Kuchen reichen und mir die erste Woche immerzu erzählen, wie froh sie sind, dass ich da bin. So wohnt auch in diesem alten, muffeligen Hinterzimmer die Freude, die ich gefunden habe, wie die Biene, die in jeder unscheinbaren Blume ihren Honig finden kann. Die Schulklassen, die ich unterrichte, sind sehr diszipliniert. Egal, ob zweite oder elfte Klasse, die Schüler stehen auf, sobald der Lehrer den Raum betritt, und setzen sich nach der Begrüßung mit einem lauten, chorischen „wir setzen uns“ in eine äußerst aufrechte Sitzposition. Hoch motiviert singen die Zweitklässler deutsche Lieder oder tragen Gedichte vor. Die älteren Klassen interessieren sich mehr für mein Leben. Sie fragen mich, ob ich schon Borschtsch gegessen habe und was ich von Russland halte. Und jeder möchte mir Ufa zeigen, die Parkanlagen, das große Denkmal, den Fluss. Doch eine Frage wird mir besonders häufig gestellt: Warum Ufa, warum überhaupt Russland? So richtig kann ich diese Frage selbst nicht beantworten. Vielleicht, weil man gerade im Land des guten Honigs auch große Freude finden kann.
„So fährt man „nach Gefühl“ in die Stadt“
Das erfahre ich auch an meinem ersten Wochenende in Russland. Mit fünf Schülern der neunten Klasse will ich die Stadt erkunden. Dazu soll es mit dem Bus ins Zentrum gehen. Der Kleinbus von meinem Wohnort nach Ufa ist kein besonders angenehmes Transportmittel. Einen Fahrplan gibt es nicht und auch die Haltestellen werden nur selten angesagt. Und wenn man in dem meist überfüllten Bus stehen muss, ist es unmöglich, aus dem Fenster zu schauen. So fährt man „nach Gefühl“ in die Stadt und steigt entweder zu früh oder viel zu spät aus dem Gefährt. Die Schüler der zehnten Klasse beherrschen dieses „nach Gefühl fahren“ aber schon ganz gut. Und so kommt es, dass wir es ohne Probleme vom Süden bis in den Norden der Stadtmitte schaffen. Die Sonne scheint an diesem Sonntag und lockt viele Bewohner der Millionenstadt aus ihren Wohnungen. Viele junge Familien zieht es an diesen Ort, an den mich die fünf Schüler führen. Hier steht eine riesige Leninstatue, die mit wallendem Mantel auf einem Sockel steht und die Stadt grüßt. Doch der eigentlichen Attraktion hat Lenin den Rücken zugedreht, dem Freizeitpark der Stadt Ufa. Auf einem kleinen Areal finden sich Karussells, Schiffschaukeln, Schießbuden. Zwischen hohen Bäumen und Zuckerwatteständen laufen Mickey Maus und Co umher, um die Menschen zu bespaßen. Und ein Riesenrad dreht seine Kreise und hebt seine Passagiere hoch über Lenin und Ufa. Von hier oben blickt man herunter auf den Oktoberprospekt, eine sechsspurige Prachtstraße, die das Stadtzentrum mit den nördlichen Vororten verbindet. Erst von hier oben wird man sich der Größe der Stadt bewusst. Vom Südwesten bis in den Nordosten sind es etwa fünfzig Kilometer. Das Zentrum der Stadt liegt auf einem recht hohen Plateau, um das sich der Fluss Belaja herumschlängelt. Von hier oben sieht man auf das Dach des Zirkus der Stadt und auch den Rücken des Salawat-Julajew-Denkmals kann man für einen kurzen Augenblick erhaschen.
„Nach der russischen Hymne beginnt das Spiel“
Salawat Julajew. Er ist der baschkirische Nationalheld, der 1773 an der Seite des Bauernführers gegen den Zar kämpfte und damit als Begründer der baschkirischen Identität gilt. Heute erinnern zahlreiche Plätze in Ufa an ihn, das Wahrzeichen der Stadt, eine riesige Reiterstatue, zeigt ihn, und das Eishockeyteam von Ufa wurde nach ihm benannt. Als das Eishockeyteam Metallurg Magnitogorsk zu Gast in der Ufa-Arena, dem Eishockeystadion der Stadt, ist, haben wir Karten für das Mittagsspiel. Für mich war es das erste Mal, dass ich ein Eishockeyspiel sehe, und das erste Mal, dass ich in einem solchen Stadion sitze. Die Arena erinnert ein bisschen an ein großes Einkaufszentrum. Buden verkaufen baschkirische Spezialitäten, Tischhockey und Tombolas dienen als Pausenbeschäftigung. Und die Kinder können im Kindergarten der Arena abgegeben werden, während die Eltern ihre Mannschaft anfeuern. Doch die meisten Eltern nehmen ihre Kinder mit in die große Halle und schauen dort das Spiel gemeinsam. Eishockey als Familienprogramm. Das geht, weil das Event, anders als beim Fußball, mehr als Theaterstück wahrgenommen wird, denn als Kriegsschlacht. Und weil Alkohol in der Halle streng verboten ist. Weniger friedlich geht es aber auf dem Spielfeld zu. Nach der russischen Hymne beginnt das Spiel und bringt gleich das erste Tor für Ufa mit. Die Masse jubelt, der Ultra-Blog stimmt den Salawat-Julajew-Fangesang an. Der Jubel der gegnerischen Mannschaft geht etwas unter, als der Ausgleich fällt. Nur etwa zehn Fans sind aus dem 300km entfernten Magnitogorsk angereist.
„Draußen fallen die goldenen Blätter auf die breiten Straßen“
Eishockey ist seit jeher eine der beliebtesten Sportarten in Russland. Im Winter wird es in vielen Städten auf mit Eis überzogenen Sportplätzen gespielt, im Sommer spielt man es dort auch, nur ohne Eis und ohne Schlittschuhe. Im kalten Krieg waren Eishockeyspiele zwischen der Sowjetunion und einer nordamerikanischen Mannschaft nicht nur Sportwettkämpfe. Es waren Kämpfe zwischen zwei Systemen, die die Sowjetunion meistens gewann. In der Ufa-Arena wird es in der zweiten Hälfte schmutziger. Der Puck wird mit hoher Geschwindigkeit über das Spielfeld geschlagen, Schläger bersten und Tore werden geschossen. Dann eine Provokation von Ufa, die sich ein Spieler der gegnerischen Mannschaft nicht gefallen lassen will. Die Helme werden abgesetzt, die Handschuhe ausgezogen und unter dem Gejohle des Publikums beginnt ein Faustkampf, der aber schon bald vom Schiedsrichter beendet wird. Das Spiel geht weiter. War zuerst Ufa die starke Mannschaft, liegt Magnitogorsk nun in Führung. Aber nur so lange, bis Ufa wieder aufholt. Genau das macht den Reiz des Spiels aus. Es ist schnell, ständig passiert etwas und zu keiner Zeit ist klar, wer gewinnen wird. In den letzten Minuten gelingt der „grünen Maschine“, wie die Mannschaft Salawat Julajew auch genannt wird dann noch ein Tor. Und so geht Ufa als Heimsieger dieses Spiels hervor. Das Publikum jubelt nicht mehr lange. Den meisten ist es kalt geworden in der Arena. Sie strömen raus, vorbei an den Fanshops, vorbei an der Vitrine, in der der Gagarin-Pokal steht, der Siegerpokal der Kontinentalen Hockey-Liga, den die Mannschaft Salawat Julajew 2008 nach Ufa holte. Für uns geht es nun wieder zurück nach Hause. Es ist später Nachmittag und die Sonne scheint tief auf die Werbetafeln am Straßenrand, von denen abwechselnd das Gesicht der Kinderschokolade und Politiker der Regierungspartei Edinaja Rossija grüßen. Draußen fallen die goldenen Blätter auf die breiten Straßen, während ich begeistert aus dem Busfenster schaue: endlich konnte auch ich einen Sitzplatz ergattern.
Johannes Baumert, 21, studiert Politikwissenschaft und Rechtswissenschaft an der Uni Bonn und macht parallel zum Studium eine studienbegleitende Journalistenausbildung.
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