Warmherziges Willkommen an einem eisigen Morgen
Es war ein milder Februar in Berlin. Es lag kein Schnee, aber dafür regnete es oft. Für mich war es ein Monat, gefüllt mit einem Seminar, Kofferpacken und Abschieden, an dessen Ende ich mich in ein Flugzeug nach Ulaanbaatar, in die Mongolei, setzte. Die Möglichkeit, Dinge zu erleben, die weit ab von den üblichen Reise- und Work & Travel-Versprechen liegen, lockte mich in die kälteste Hauptstadt der Welt. Aber Ulaanbaatar ist nicht nur die kälteste Hauptstadt, sondern noch dazu eine der Städte mit der stärksten Luftverschmutzung, in dem zweitdünnst-besiedelten Land der Welt. Drei der zahllosen Extreme, die die Mongolei bietet, und die verdeutlichen, dass es sich um eines der ausgefallensten Ziele für Touristen und auch Auslandsjahre handelt.
Mein Freiwilliges Soziales Jahr sollte darin bestehen, den Fremdsprachenunterricht für Deutsch als Muttersprachler zu unterstützen. Das Programm lief über „kulturweit“ und die Zentrale für Auslandsschulwesen, kurz ZfA. Wenige Tage nach einem zehntägigen Vorbereitungsseminar fuhr ich zum Flughafen und verabschiedete mich für das kommende Jahr von meinen Eltern und meinem Großvater. Als ich in Ulaanbaatar landete und das Flugzeug langsam auf die Gates zurollte, ging gerade die Sonne auf. Das Thermometer zeigte eine Außentemperatur von -24°C an. Wie ich später herausfinden sollte, war es ein recht warmer Wintermorgen.
Nicht weit hinter der Passkontrolle wartete eine Traube von Menschen auf die ankommenden Gäste. Eine schwarzhaarige, sich energisch umschauende Frau stand in der ersten Reihe. Sie trug eine lilafarbene Fleeceweste, kaute mit geschlossenem Mund Kaugummi und scannte die Gesichter der Leute. Gleichzeitig hielt sie mit der linken Hand eine Pappe, auf der mein Name stand. Als sich unsere Blicke trafen, fing sie an zu lachen und winkte mich heran. Ich kannte Minjbadgar bereits aus einigen E-Mails, sodass sie gleich erklärte, dass ihr Bruder mit dem Auto draußen warte und wir am besten sofort abfahren. Als wir das Gebäude verließen, atmete ich die kalte Luft ein. Durch die Kälte fühlte sich die Luft sehr rein an und ich spürte die geringe Luftfeuchtigkeit im Gesicht und an den Händen. Die Haut spannte und es war, als drücke die Luft dagegen. Als ich vom Parkplatz aus Richtung Stadt guckte, verbargen Nebelschleier alles, was hinter dem Flughafen- Parkplatz lag. Und dennoch war es wohl kein Nebel, denn neben der Kälte lag ein intensiver Rauchgeruch in der Luft. Der Flughafen lag südöstlich der Stadt und aus der Ferne konnte man die Rauchglocke über der Stadt noch klar erkennen. Mit dem Annähern an die Ausläufer der Stadt nahm uns die Glocke schnell auf und verschluckte das Auto samt Passagieren und Fahrer.
Bei der Fahrt in die Stadt erblickte ich die ersten Jurten, die Zelte der Nomaden in West- und Zentralasien. In der Mongolei wird die isolierende Filzschicht mit weißem Leinen bespannt und schwarzen Gurten festgezurrt. Der Anblick dieser weiß-strahlenden Behausungen gibt besonders in der kahlen, weiten Steppe einen beeindruckenden Kontrast ab, aber in der Stadt wirken die Jurten wie eingesperrt. Der Außenbezirk der Stadt wurde industriell genutzt. Riesige Schornsteine spuckten wie Vulkane Unmengen an Rauch aus, der fast augenblicklich mit dem Nebel, in dem wir uns befanden, verschwamm. Die Stadt war noch fast menschenleer und es waren nur wenige Autos auf der Straße zu sehen. Das war ungewöhnlich für Ulaanbaatar, dessen Straßen so gut wie immer mit einem lautstark hupenden Stau verstopft waren. In dieser morgendlichen Ruhe, in der wir durch die Straßen fuhren, öffnete sich ein Deckel im Gehweg. Ich hielt es für einen Schacht in die Kanalisation, bis drei Menschen aus der runden Öffnung kletterten. Allen voran flogen sechs riesige Säcke gefüllt mit Flaschen durch das Loch. Die zwei Männer und die Frau hievten jeweils zwei Säcke auf ihre Schultern. Diese balancierten sie mit einem Stab aus, der auf ihren Schultern lag. Die Gesichter waren tief rot und wirkten verbrannt. Die Kolonne begann sich zu bewegen und lief für einen kurzen Moment neben dem Geländewagen, in dem wir saßen, her. Minjbadgar, kurz Micki, sah meinen Blick und erklärte, dass die drei Personen Obdachlose seien und aufgrund der Kälte an den Heizungsrohren schliefen. Falls jemand einnickte und die Haut das Rohr berührte, zog das starke Verbrennungen nach sich.
„Salz, Fett und heiße Milch“
Micki, die mich abgeholt hatte, ist seit vielen Jahren die Kontaktperson für „kulturweit“ und alle Freiwilligen an der deutsch-mongolischen Alexander-von-Humboldt-Schule in Ulaanbaatar. Sie organisierte mir auch die erste von, im Verlauf des Jahres, drei bewohnten Wohnungen. Die Unterbringung war eine Mischung aus WG, eigener Wohnung und Gastfamilie. Das Haus lag unweit des zentralen Platzes der Stadt und verkehrsgünstig gelegen, um die Schule zu erreichen. Kaum durch die Tür gekommen, führte Micki mich zum Tisch und machte mich mit meiner Vermieterin Aibora bekannt. Beide sprachen fließend Deutsch. Während die beiden Damen sich auf Mongolisch unterhielten, stellte Aibora eine Schüssel „Bituu shul“ vor mich. Die mongolischen Worte „Bituu shul“ bedeuten wortwörtlich übersetzt gedeckte Suppe. Es war acht Uhr morgens und ich hätte nicht geschockter sein können, als ich den Teigfladen, der die Suppenschüssel bedeckte, zerstach und ich eine Suppe aus Fleisch, Fett und heißem Wasser erspähte. Die Überraschung kaum verdaut, reichte man mir ein Getränk. Aibora und Micki waren immer noch munter im Gespräch, während ich vorsichtig an der Tasse nippte. Drei Bestandteile entnahmen meine Geschmacksnerven dem heißen Getränk: Salz, Fett und heiße Milch. Ich atmete schwer durch. Die beiden Damen wendeten den Blick und erkundigten sich, wie es mir schmecke. Ich nickte und sagte, es sei einfach sehr heiß, weswegen ich etwas länger warten müsse mit dem Essen und Trinken. Während ich das aussprach, stellte Aibora einen Teller auf den Tisch, der das Frühstück für mich als Vegetarier, normalerweise beendet hätte. Auf dem Teller befand sich ein Berg aus gekochten, fetten Fleischstücken.
„Ich hatte mir vorgenommen, mich auf alles einzulassen“
Mir war bewusst, dass massiver Fleischkonsum landestypisch ist, als ich für das Jahr Mongolei zusagte. Ich hatte mir vorgenommen, mich auf alles einzulassen, was mich nicht komplett überforderte. Aus diesem Grund hörte ich an diesem Augenblick auf, mein Essen weiter zu analysieren, und begann die Suppe zu essen, mir gelegentlich Fleischstücke in den Mund zu schieben und den salzigen Milchtee leer zu trinken. Micki und Aibora saßen mittlerweile mit am Tisch und tauschten sich über meine Vorgängerin, die Freiwillige vor mir, aus. Sie sprachen auf Deutsch, um mich am Gespräch teilhaben zu lassen. Währenddessen reichte mir Aibora zum Abschluss des Frühstücks eine Schale mit Vanillepudding mit roter Grütze. Ich grinste sie an. Sobald ich fertig mit dem Essen war, machte sich Micki bereit zum Gehen. Ich sollte sie am nächsten Tag in der Schule treffen. Alles andere hatten wir in etlichen Nachrichten vor meiner Ankunft besprochen und den Rest im Auto vom Flughafen zu dem Haus geklärt. Nun machte ich mich mit Aibora bekannt, die mir die Wohnung zeigte. Sie gab mir kurz Zeit, meine drei prall gefüllten Taschen auszupacken, bevor sie mir die Umgebung zeigen wollte. Fürs Erste räumte ich alles in den Kleiderschrank und die großen Schubladen der Nachttische. Sie stand schon an der Tür und wartete, während ich mir Schuhe anzog und gleichzeitig mit Leon telefonierte, der ebenfalls als Freiwilliger für ein Jahr in einer Schule in Ulaanbaatar bleiben wollte. Ich brauchte Bargeld, um die Miete zu bezahlen und um Essen zu kaufen. Außerdem musste ich dem Fahrer einer der Marschrutkas, also Minibusse, Geld für die Fahrt zu der Schule am nächsten Morgen geben.
„Aibora ließ gefühlt alle Speisen kommen, die auf der Karte standen“
Wir klapperten zehn Geldautomaten ab. Obwohl ich schon etliche Automaten mit Micki getestet hatte, musste ich mit meiner Vermieterin zu fünf Bankschaltern, bis ich feststellte, dass der Mindestbetrag zum Abheben umgerechnet 50 Euro waren und ich mit 200.000 mongolischen Tugrik noch ein gutes Stück davon entfernt war. Nun, da der Irrtum aufgeklärt war, hatte ich schnell einen Batzen Geldscheine in der Hand. Auf die farbenfrohen Papierstücke sind Bilder von Dschinghis Khan und dem Gründer der Mongolischen Volksrepublik Damdin Sukhbataar gedruckt. Der erste Großkhan der Mongolei ist nicht nur als Geldschein in jedermanns Hand zu finden, sondern auch als Name, beim Gang durch die Hauptstadt, an jeder Ecke zu lesen. Dschinghis Khan ist bekannt als einer der größten Massenmörder der Geschichte. Nichtsdestotrotz ist er vielen Mongolen als starker Heerführer in Erinnerung, der dafür sorgt, dass die Mongolei bis heute einen festen Platz in Geschichtsbüchern und Atlanten einnimmt. Das damals riesige, durch Dschinghis Khan geschaffene Imperium dient oft als Legitimation für seine Bewunderung. Noch immer wird sein Name genutzt, unter anderem als Marketing-Tool, um den Gewinn zu steigern und seiner Taten zu gedenken. Zum Abschluss der Führung durch Supermärkte, nach dem Bekanntmachen mit dem Fleischverkäufer, der Obsthändlerin und dem Mann, der die absonderlichsten Spezialitäten und alle anderen Milchprodukte vertrieb, ging es in ein koreanisches Restaurant. Aibora ließ gefühlt alle Speisen kommen, die auf der Karte standen, und verließ dann kurze Zeit, nachdem Leon sich zu uns gesetzt hatte, das Restaurant.
“Später verkaufte ich auf einem Festival in der Uckermark mongolisches Essen“
Nach einer Runde über den großen Platz vor dem Regierungshaus und einem Abstecher zu Leons Wohnung machte ich mich wieder auf den Weg zu meiner Bleibe und fiel bald geschafft von den vielen Eindrücken ins Bett. Diese Eindrücke geben einen Einblick in meine Erfahrungen und zeigen, wie ungewöhnlich, neu und aufregend es sein kann, den Sprung in einen Auslandsaufenthalt zu wagen. Mein Freiwilliges Soziales Jahr und meine Zeit in der deutsch-mongolischen Gesamtschule waren unheimlich abwechslungsreich und lustig. Gleich am zweiten Tag in Ulaanbaatar besuchte ich am Morgen die Schule und platzte während einer Probe mit Pferdekopfgeigen – mit hölzernen Pferdeköpfen verzierten Geigen – in das Lehrerzimmer. Kaum hatte ich die Tür geöffnet, sprang mir der Berliner Lehrer Stephan entgegen. Mit meiner späteren Nachbarin Khosoo, die ebenfalls Deutschlehrerin an der Schule war, und Stephan als Verbündeten gab es keine Langeweile in der Schule. Von Lesenächten über Vollzeit-Vertretungsunterricht, von einer Öko-AG bis hin zu Oster-, Fasching- und Weihnachtsaktionen durfte ich alles ausprobieren und die Projekte verfolgen, die mich am meisten interessierten. Spektakulär war auch der Umzug der Schule in das neue Gebäude und die damit verbundenen Feierlichkeiten. Der Schüleraustausch, den ich aus der Mongolei heraus organisierte, kam einen Monat nach meiner Rückkehr nach Deutschland zustande, sodass ich nach kurzer Zeit schon viele bekannte Gesichter wiedersah und mich bei Milchtee und fleischgefüllten Dumplings in die Mongolei zurückversetzt fühlte. Später machte und verkaufte ich auf einem Festival in der Uckermark mongolisches Essen mit großem Erfolg und vielen neugierigen Nachfragen. Seit meiner Rückkehr nach Deutschland sind wenige Tage vergangen, an denen ich keinen Kontakt zu Freunden aus der Mongolei hatte. Deswegen kann ich es kaum erwarten, mich wieder in das Flugzeug zu setzen, um zum Neujahrsfest „Tsagaan Sar“ von Jurte zu Jurte zu ziehen, um mit Freunden und Familie zu feiern.
Mattis Venker, 21, hat sein Freiwilliges Soziales Jahr erfolgreich abgeschlossen und plant bereits jetzt einen weiteren Besuch der Mongolei und studiert derzeit Geschichte und Publizistik in Berlin.
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