Erfahrungsbericht zum United World College: Ein Schuljahr in vier Schnappschüssen
Mitte August: Das Flugzeug kommt zum Stehen. Endlich. Ein neuer Kontinent, ein neues Leben. Meine Knie sind weich. Ich bin mir nicht sicher, ob ich gierig aus dem Fenster starren oder bewusst gelassen meine Hände auf meine bebenden Knie legen und tief durchatmen soll.
Ich entscheide mich für Ersteres. Draußen erblicke ich die übliche Masse an Beton, die die Flughäfen dieser Welt so gleich erscheinen lässt. Doch eines ist hier anders: Es ist unmöglich, den Beton in der Ferne scharf zu erkennen, zu heiß ist die Luft. Ich kann die Hitze förmlich sehen, ebenso die schwitzenden Gesichter der Fluglotsen. Alle tragen sie weiße Schildmützen, dreckig vom Schmutz der Arbeit. Im Hintergrund stehen ein paar vereinzelte Palmen, verdorrt spreizen sie ihre Wedel in alle Richtungen. Indien also. Ich steige aus dem Flugzeug und sofort ist sie da, diese Luft. Heiß und feucht – alle beschrieben sie mit diesen Wörtern, doch hatte ich bis zu diesem Moment nicht verstanden, was sie meinten. Wie ein unsichtbarer Regenschauer wird meine Kleidung plötzlich nass, drücken meine Rucksackriemen plötzlich unerträglich auf meine Schultern. In der Wartehalle schmeiße ich den Rucksack auf den Boden, mit ihm gleich zwei Schichten Oberbekleidung. Auf dem Weg zur Toilette höre ich hinter mir zwei Frauen verbittert tuscheln, sie sind Inderinnen. Erst Wochen später wird mir bewusst, was sie verärgerte: meine nackten Schultern.
Kurze Zeit später verlasse ich die Tore des Bombay International Airport. Ich trete auf eine große, leere Fläche. Sie ist von Geländern umzäunt, hinter denen Massen von Menschen mit Schildern und Schreien auf sich aufmerksam machen. „Taxi, Taxi, Madam?“ rufen die Taxifahrer im Chor. Sehr erleichtert entdecke ich das Willkommens- Schild der Schule, die ich für die nächsten zwei Jahre besuchen werde. „United World College of India“ steht auf diesem Schild. Dahinter versammelt sich eine Handvoll Schüler, die mich herzlich begrüßen. Sie umarmen mich. „Hello, my name is Undine“, sage ich schüchtern und gleichzeitig sehr, sehr aufgeregt. In diesem Moment spüre ich eine tiefe Vorfreude: Zwei Jahre an einem der weltweit 13 United World Colleges stehen mir bevor. Ich freue mich auf die internationale Schule voller Schüler aus 75 Ländern, mit unterschiedlichen Weltanschauungen und verschiedenen Tagesabläufen. Sie alle wurden von ihren jeweiligen Nationalkomitees ausgewählt, unabhängig vom Einkommen der Eltern. Die meisten haben ein Stipendium. Seit meiner Bewerbung im Winter des Vorjahres bin ich gespannt auf den Moment, endlich die Gesichter der Menschen zu sehen, die das Schulkonzept der Weltgemeinschaft umsetzen sollen. Und nun stehe ich zwischen ihnen, nun bin ich einer von ihnen. Die Fahrt vom Flughafen zu unserem neuen Zuhause führt an dunklen Slums vorbei. Links von mir türmen sich meterdicke Betonpfeiler, sie sind die Standbeine der Infrastruktur des Bombays der Zukunft. Als wir die Stadt verlassen, wird es hell, wird es grün. Es ist August, das Gras hat sich in den Monaten des Monsuns mit Wasser vollgesogen. Es ist ein Grün, das es nur in Indien gibt.
Mitte Oktober: Zwei Monate sind seit meiner Ankunft vergangen. Sie waren bunt und vielfältig, und die vielen Eindrücke faszinierten und überforderten mich manchmal. Heute sitze ich endlich einmal still im Innenhof meines kleinen „Hauses“, das ich mir mit sieben anderen Mädchen teile. Ein Mädchen stammt aus Bombay, eines aus Südindien und eines aus dem Norden. Zudem leben hier eine Mexikanerin, eine Mongolin, ein Mädchen von den Philippinen und eines aus Costa Rica. Jeweils vier von uns teilen sich eines der beiden Zimmer, die mit kreativen Vorhangkonstruktionen in private Nischen unterteilt sind. Ein wenig Privatsphäre ist wichtig, denn die meiste Zeit bin ich von Menschen umgeben: morgens um sieben beim Frühstück, dann sechs Stunden im Unterricht, mittags beim Essen in der Cafeteria und nachmittags beim gemeinsamen Fußballspielen, Handwerken, Debattieren oder Tanzen. Die Tage enden meist über Büchern und anschließend in geselligen Runden. Jeden Dienstag fahre ich mit einer Gruppe von Mitschülern in ein benachbartes Tal, dort steht ein Heim für geistig und körperlich behinderte Menschen. Bastelsachen, Musik und ein paar Sportgeräte haben wir immer dabei. Wir verbringen den Nachmittag zusammen mit den Heimbewohnern, zum Schluss gibt es zuckersüßen Chai-Tee aus metallenen Bechern. Trotz verpflichtendem Anfängerkurs spreche ich kaum einen Satz Marathi, die Sprache der Region. Es ist neu für mich, ohne Worte zu kommunizieren, es ist eine Herausforderung. Auf der Rückfahrt schweigen wir normalerweise, die meisten schauen aus dem Fenster auf die Reisfelder. Manch einer schläft sogar, so geschafft ist er. Ich brauche diese stillen 20 Minuten, um durchzuatmen und meine Empfindungen und Gedanken zu ordnen.
„Alle Aktivitäten werden von uns selbst organisiert und geleitet“
Langsam pendelt sich mein Leben am College ein. Nach einem Monat Probephase habe ich nun alle meine Fächer gewählt, sieben sind es: Deutsch, Englisch, Philosophie, Psychologie, Geschichte, Mathe, Biologie. Da ich will, dass mein Abschluss, das „Weltabitur“ International Baccalaureate, später in Deutschland anerkannt wird, war ich bei meiner Fächerwahl etwas eingeschränkt. Auch habe ich nun meine Nachmittagsaktivitäten festgelegt. Alle Aktivitäten werden von uns selbst organisiert und geleitet, das Angebot passt sich der Nachfrage an. Da wir alle unterschiedliche Fähigkeiten mitgebracht haben, ergeben sich mitunter einmalige Bilder: Die Südinderin trainiert ihre Tanzlehrlinge, die richtige Sitzposition beim traditionellen Tanz „Bharatnatyam“ für mehrere Minuten einhalten zu können, während sie mit ihren Glöckchen an den Füßen die Sekunden zählt. Nur wenige Schritte entfernt treffen sich der Kenianer und die Malaysierin am Pool. Er kann (noch) nicht schwimmen, sie hat für das Nationalteam Schwimmwettkämpfe bestritten. Im Schatten der Bäume des Innenhofs lasse ich meine Gedanken kreisen. Ich bin froh, langsam meinen Rhythmus zu finden. Das bedeutet für mich vor allem, zu wissen, was mir gut tut. Dieser Ort ist voller kluger, interessanter Menschen und anfangs meint man, der Tag sei immer zu kurz. Viele Nächte habe ich in Gesprächen verbracht – im Gespräch mit dem Exil-Tibeter über seine Hoffnungen für die Zukunft; mit dem Mädchen aus Israel über den ihr bevorstehenden Militärdienst; mit dem Deutschen über unser plötzliches Verlangen nach Bratkartoffeln; und mit meiner indischen Mitbewohnerin darüber, wie es uns eigentlich geht. Dann sitzen wir in besagtem Innenhof, blicken auf die Häuser der anderen und reden über Heimweh und Fernweh.
„Die meisten wollen auf gute Universitäten gehen, manche auf die besten der Welt“
Ende März: Es ist unerträglich schwül. Meine Freundin Gesa und ich liegen auf dem kühlen Steinboden in ihrem Haus. Der selbst gekaufte Kühlschrank brummt, in ihm wartet kühler Saft. Es ist März und die letzten Ferien des Jahres sind gerade zu Ende gegangen. Die Anspannung liegt in der Luft, denn bald werden die Examen beginnen. Die Älteren schreiben ihre finalen Abschlussprüfungen des International Baccalaureate, die Jüngeren – so auch ich – ihre Endjahresprüfungen. Die Lehrer erinnern in regelmäßigen Abständen an den Ernst der Lage, die vertrauten Gespräche in der Kühle der Nacht trauen sich immer öfter an das Thema des Abschieds. Die meisten aus der Abschlussklasse gehen direkt an die Universität, doch alle an verschiedene. Ich fange an, die Wochen rückwärts zu zählen, das Unwort des Monats ist „Fernbeziehung“. Freundschaften haben Angst vor der Zukunft, sie wissen nicht, ob sie die Distanz eines Ozeans überleben. Die letzten vier Stunden habe ich damit verbracht, englische Begriffe aus meinem Biologiebuch in mein Gehirn zu pressen. Der ganze Campus lernt Formeln und Termini, alle Plätze in der Bibliothek sind belegt. Jeder hat einen Lernplan, der eine hält ihn ein, der andere nicht. Alle taumeln zwischen angespanntem Lernen und sorgenvollen Gesprächen. Die meisten wollen auf gute Universitäten gehen, manche auf die besten der Welt. Mittags jedoch, bei Höchsttemperaturen, denkt keiner daran. Zu dieser Tageszeit ist das einzig Sinnvolle ein kalter Steinboden. „Weißt du, was das Schrecklichste hier ist?“, fragt Gesa. Ich bin zu träge, die Frage mit einem Wort zu verneinen. „Jeder tut so, als würde es nie enden.“
Mitte Mai: Ich bin spät dran. Noch stehe ich in einem indischen Unterrock in unserem Zimmer. Der schillernd grüne Sari, den ich mir für diesen Tag gekauft habe, erinnert gerade an nicht mehr als eine fünf Meter lange Stoffbahn. Meine indische Freundin Krithika lehnt im Türrahmen und kann sich ein Lächeln nicht verkneifen. Hoffnungsvoll blicke ich sie an. Mit flinken Fingern hebt sie die Stoffbahn vom Boden und lässt den Stoff durch ihre geschulten Hände fließen. Sie schaut mich an, mir treten Tränen in die Augen. Sie faltet das Ende mehrere Male und befestigt es an meinem Unterrock. Ihren Handzeichen entsprechend drehe ich mich langsam um meine eigene Achse, blicke an die Decke und versuche mit aller Kraft, diese Träne im Auge zu behalten. Wir sprechen nicht, doch wir wissen, was dieser Tag bedeutet. Er trennt Lebensräume. Heute ist der letzte Tag meines ersten Schuljahres am United World College. Die große Halle ist mit bunten Nationalfahnen feierlich geschmückt. Für die Hälfte der Schüler ist die Reise hier zu Ende, die andere Hälfte wird an diesem Tag ihre besten Freunde verabschieden. Die letzten Wochen waren sehr hart für alle, so auch für mich. Karawanenartig ziehen wir im Anschluss an die Feier aus der Bibliothek zurück in unsere Zimmer, doch auch die sind jetzt von uns zu räumen. All die Mitschriften und Notizen aus der Prüfungsphase sind nun wertlos, nur die Augenringe sind das Zeugnis der vergangenen Wochen.
„Ein Jahr, das meine Energie verzehrte, das mir beizubringen versuchte, was es heißt, für sich selbst Verantwortung zu übernehmen“
Es war ein Jahr, so intensiv wie kein anderes in meinem Leben. Ein Jahr, das mich mit engen Freundschaften und tiefen Momenten beglückte. Ein Jahr, das meine Energie verzehrte, das mir beizubringen versuchte, was es heißt, für sich selbst Verantwortung zu übernehmen. Ein Jahr, das mich mit gewagten Diskussionen und Persönlichkeiten aus aller Welt provozierte und bereicherte. Ein Jahr, das mich mit Einblicken in ein vielfältiges und herzliches Land beschenkte. Vor allem aber war es ein Jahr, das mich Tag für Tag herausforderte, mich und meine Grenzen kennenzulernen. Ein Jahr, das mich mit Spannung und Vorfreude auf das zweite blicken lässt.
Undine Schmidt, 20, ist nach ihrem zweijährigen Aufenthalt am United Word College in Indien für ein Jahr nach München zurückgekehrt und hat sich dort vor allem im Flüchtlingsbereich sozial und politisch engagiert. Mittlerweile studiert sie Philosophie und Politik an der University of Edinburgh in Schottland.
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