Mittendrin im amerikanischen Familienleben
Als ich beschloss, für ein Jahr als Au-Pair in die USA zu gehen, war ich gerade mal 13 Jahre alt. Zu Beginn der 7. Klasse entdeckte ich vor dem Sekretariat meiner Schule einen Aushang meiner späteren Au-Pair-Agentur. Der Flyer verriet etwas über den Alltag und die Möglichkeiten in Amerika. Ich bekam Bilder zu sehen, die mich vom langweiligen Schulalltag ablenkten: lachende Kinder beim Eisschlecken, glücklich vereint mit ihren Au-Pairs aus aller Welt unter der Sonne Kaliforniens.
Nun, auch wenn ich mir denken konnte, dass der Au-Pair-Alltag wohl aus mehr bestünde, war nicht nur meine Neugierde geweckt, sondern ein gar leidenschaftliches Feuer entflammt. Von da an war es mein Traum, Au-Pair in Amerika zu werden. So konnte ich mich schon frühzeitig mit dem Thema auseinandersetzen und viel Erfahrung in der Kinderbetreuung sammeln, die ich nachweisen musste, um als Au-Pair arbeiten zu dürfen. Sowieso hatte ich einiges zu erledigen, bevor ich meinen Koffer packen konnte. Als ich endlich 18 Jahre und damit alt genug war, lag noch eine Menge Arbeit vor mir: der Erwerb des Führerscheins, Besuche bei Ämtern und viel Papierkram bestimmten die Tagesordnung.
Parallel zu diesen langweiligen Erledigungen lief aber auch etwas sehr Spannendes ab: die Familiensuche. Ich ging zunächst davon aus, dass ich dank meiner guten Voraussetzungen innerhalb weniger Wochen eine perfekte Gastfamilie finden würde. Pustekuchen. Erst nach über drei Monaten und neun vorgeschlagenen Familien sagte ich einer Familie aus der Nähe von Boston zu. Zuvor hatte ich sehr viel Kontakt zu amerikanischen Familien gehabt, hatte aber nie ein gutes Bauchgefühl, bis meine endgültige Gastfamilie mich anschrieb. Es wurde per Internet telefoniert und geschrieben, wobei mich mein gutes Gefühl freudevoll wissen ließ: „Das ist deine Familie!“ Die Familie wohnte in einem Vorort und es gab zwei Jungen, um die ich mich kümmern sollte. Sie waren sieben und zehn Jahre alt. Es schien alles perfekt. Im Januar sollte es für ein Jahr nach Massachusetts gehen. Was ich damals nicht wusste, war, dass ich noch einige unerwartete Überraschungen und Veränderungen erleben sollte. Doch erst einmal verlief alles wie geplant.
Am Abflugtag wurde ich von Freunden und meiner Familie zum Flughafen Tegel gebracht. Nachdem wir die Kofferkontrolle durchlaufen hatten und ich bereit war, durch die Sicherheitskontrolle zu gehen, konnte ich nur grinsen. Ich freute mich! Ich freute mich unsagbar auf die bevorstehende Zeit und auf all die neuen Erfahrungen und Eindrücke. Erst als ich durch die Sicherheitsschleuse ging, meine Mutter hinter dem Glas sah und wusste, dass es kein Zurück mehr gab, kamen mir die Tränen. Es war eine reine Gefühlsachterbahn. Denn gleichzeitig freute ich mich zu sehr auf Amerika, um wirklich traurig zu sein. Im Flugzeug lernte ich Cindy kennen, die mit der gleichen Agentur ihr Au-Pair-Abenteuer begann und die mir in Amerika eine gute Freundin geworden ist. Zunächst ging es zum Vorbereitungsseminar nach New York. Gemeinsam mit allen angehenden Au-Pairs verbrachten wir unter anderem einen Sightseeing-Tag in der Metropole und die Einzigartigkeit und Besonderheit dieser Weltstadt faszinierten mich.
Ich wurde von Gummipfeilen aus meinen Gedanken gerissen. Mein Großer, der Zehnjährige, nahm mich gleich unter Beschuss und guckte grinsend hinter der Couch hervor. Wir lachten uns an und ich umarmte den Quatschkopf. Viel Zeit für meine neuen Schützlinge blieb mir nicht, denn meine Gastmutter rief uns zu, wir würden in Kürze zum Restaurant aufbrechen. Und wer kam in diesem Moment die Treppe herunter? Mein Gastvater, der mich herzlich in Empfang nahm. Kurze Zeit später saßen wir im Auto und ich war mittendrin in meinem neuen, amerikanischen Leben. „Gib mir den Nintendo!“ „Neeein, ich spiel gerade!“ Meine zwei Jungs machten mir schnell deutlich, worauf ich mich da eingelassen hatte. Aber egal, ob sie sich stritten oder miteinander spielten, in jeder einzelnen Sekunde war ich glücklich, bei ihnen zu sein. Wir wurden Freunde. Mehr als das. Ich fühlte mich wie eine große Schwester. Mit sechs älteren Geschwistern war mir dieses Gefühl zu Hause nie geboten worden. Aber nun war es so weit, und meine Jungs und ich schweißten zu einem Team zusammen. Obwohl der Alltag als Au-Pair nicht immer lustig und entspannt ist, kann man mit Geduld und Liebe viel Spaß bei der Arbeit haben. Ich schreibe bewusst „Arbeit“, denn als Au-Pair macht man weit mehr als mit den Kindern spielen und Hamburger essen.
Mein Tag fing gegen 7 Uhr an. Zuerst weckte ich die Jungs, legte ihnen Klamotten heraus und kramte alle Schulsachen zusammen, die beim allabendlichen Lernen immer durch das ganze Haus verteilt wurden. Nach erfolgreicher Suche und dem Packen zweier Rucksäcke begab ich mich an die Zubereitung des typisch amerikanischen Frühstücks. Jeden Morgen gab es Chocolate Chip Pancakes, Schinken, Omeletts, Waffeln und natürlich „OJ“, also „orange juice“. Zu dem Zeitpunkt saßen meine angezogenen Jungs auch schon vor dem Fernseher und warteten auf meinen Ruf „Boys, breakfast is ready!“ Meist bekleckerten sich die beiden und mussten sich noch einmal umziehen, bevor es zum Schulbus ging. Ab 9 Uhr hatte ich sturmfreie Bude und es blieb Zeit für Wäsche, Aufräumen und Saubermachen. Danach konnte ich relaxen und mich um mich selbst kümmern. Erst um 15 Uhr hielt der Schulbus mit quietschenden Reifen und eine Horde aussteigender Kinder brachte quirliges Leben in die Nachbarschaft. Die Jungs verlangten hungrig nach einem Snack, bevor es an die Hausaufgaben ging. Beim Snacken hauten die großen und kleinen Amerikaner, und so manch deutsches Au-Pair, ordentlich rein. Kekse, Chips, Eiscreme und Popcorn sind gern gesehene Zwischenmahlzeiten im „Land der unbegrenzten Snacks.“ War der Papierkrieg vorüber und die Hausaufgaben geschafft, ging es ab zu Freunden und nach draußen. In den USA ist es üblich, dass Kinder vielen organisierten Freizeitbeschäftigungen nachgehen. Dementsprechend hatten auch meine Jungs saisonabhängig Fußball-, Baseball-, Football- oder Karatetraining. Abends kam die ganze Familie zusammen, um – wie könnte es anders sein – Hotdogs oder Pizza zu essen. Dass beim Essen konstant der Fernseher lief, steht außer Frage. Und so vergingen die Tage, und der Alltag wurde Bestandteil meines neuen Lebens.
„Gemeinsam erkundeten wir Orte, zu denen ich mich oft zurückwünsche“
Bald schloss ich erste Freundschaften, sowohl mit Au-Pairs als auch mit Einheimischen. Da ich nur 30 Minuten außerhalb von Boston lebte, war es ein einfaches und schnelles Vergnügen, die historische Stadt unsicher zu machen. In Mark Twains Buch „Bummel durch Europa“ wird Boston während einer Begegnung Twains mit einem Amerikaner in den Alpen von jenem jungen Landsmann als „beschränkt“ betitelt. Ich kann dieser Aussage nur widersprechen und das Mitleid Twains für jenen jungen Mann teilen, denn offenbar hatte er keine Ahnung: Boston ist wunderschön. Nicht nur Boston begeisterte mich. Während meiner Zeit in den USA war ich in vielen Staaten und großen Städten wie New York City, Boston und Maryland, Chicago und Saint Louis, Seattle und San Francisco. Amerika hat viele interessante Städte zu bieten, und Boston ist definitiv eine der schönsten. Natürlich war ich nie allein auf Reisen. Meine bereits erwähnte Freundin Cindy begleitete mich häufig, und gemeinsam erkundeten wir Orte, zu denen ich mich oft zurückwünsche. Auch die Au-Pairs Jamie, Annemarie, Lisa, Nina und Ann-Kathrin waren mir sehr gute Freundinnen. Sie alle halfen mir über eine schwierige Zeit meines Jahres hinweg: Nach acht Monaten verließ ich meine erste Gastfamilie und zog nach Georgia, in die Nähe von Atlanta. Die familieninterne Situation zwischen den geschiedenen Gasteltern in Massachusetts und damit verbundene Schwierigkeiten lösten den Familienwechsel aus.
„In beiden Gastfamilien gab es wunderschöne Momente und Erlebnisse, und ich bereue nicht einen Tag“
Ganz plötzlich ging nach fast acht Monaten noch einmal alles von vorne los. Diesmal zog ich zu einer Familie mit drei Kindern im Alter von anderthalb, vier und neun Jahren. Die mir noch verbleibenden Monate in den USA verbrachte ich bei ihnen. Auch dort war meine Zeit mit den Kindern wunderschön, und ich gewann alle drei lieb. Trotzdem vermisste ich meine Jungs in Massachusetts sehr. Ich rief sie oft an, scherzte mit ihnen und wir plauderten über „alte Zeiten“. Georgia war ganz anders als Massachusetts. Es gab mehr Villen, dafür weniger Kultur, denn Atlanta ist im Gegensatz zu Boston einfach nur groß und langweilig. Meine zweite Gastfamilie war ebenfalls ganz anders als die erste in Massachusetts. In meiner neuen Familie wurde gesünder gekocht, es gab Regeln für die Kinder und wir aßen von echten Tellern, nicht von Papptellern. In Massachusetts hatte ich in einer Familie gelebt, die dem Stereotyp einer amerikanischen Familie entsprach, die sich oft Essen bestellte und in der die Kinder so gut wie alle Freiheiten hatten. Ich musste mich umstellen: In Georgia war alles anders, und das war nicht unbedingt negativ. Letztendlich kann man auch nicht erwarten, dass einem alles gefällt. Immerhin geht man in eine fremde Familie, die ihrem ganz eigenen Lebensstil folgt.
Ich kann nur den Tipp geben, sich vorher zu überlegen, was einem wichtig ist an einer Gastfamilie, und sich danach umzugucken. Welches Kriterium man auch immer anlegen mag, z.B. die Anzahl der zu betreuenden Kinder, man sollte sich und seine Wünsche ernst nehmen. Womöglich kann man sich so ein oder mehrere Familienwechsel ersparen. In beiden Gastfamilien gab es wunderschöne Momente und Erlebnisse, und ich bereue nicht einen Tag, den ich in Amerika verbracht habe. Ich würde jederzeit den gleichen Weg gehen und mich erneut für ein Au-Pair-Programm entscheiden. Das Jahr ist eine unglaublich wertvolle Zeit meines Lebens gewesen. Es vergeht kaum ein Tag, an dem ich nicht an „meine Kinder“ denke oder an die vielen Dinge, die ich in den USA erlebt habe. Ob es das Schwimmen unterm Wasserfall war, das Laufen über die Golden Gate Bridge, der Einkauf in den riesigen Supermärkten, oder nur das unspektakuläre Donut essen mit Freunden – Amerika war zu jeder Sekunde meines Aufenthalts meine Heimat. Ich freue mich unglaublich darauf, dieses Land wieder zu besuchen und einen Abstecher zu meinen Gastkindern zu machen – hoffentlich schon bald!
Anke-Dorothea Graf, 21, ist Studentin des Studiengangs Fernsehen und Film an der DEKRA Hochschule in Berlin.
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