Spreche ich etwa chinesisch?
Diese Frage kann ich jetzt, nach meinem Auslandsjahr in China, mit „Ja!“ beantworten. Die doch etwas außergewöhnliche Entscheidung, ein Schuljahr in China zu verbringen, konnten viele nicht nachvollziehen.
Ich erinnere mich noch daran, wie ich mich auf der JugendBildungsmesse in Köln nach Austauschprogrammen in Asien oder Afrika erkundigen wollte und nicht selten auf verdutzte Gesichter stieß. Zugegebenermaßen ist China jetzt nicht gerade das typische Austauschland, aber das ist auch genau der Grund, aus dem ich mich dafür entschied. Neben China standen auch noch andere asiatische und afrikanische Länder auf meiner Liste. Eben diejenigen, die meiner Meinung nach eine völlig andere Kultur als die unsere haben. Ich wollte etwas ganz Neues, ein ganz anderes Leben ausprobieren und mir unvoreingenommen und ohne jegliche Vorurteile eine eigene Meinung von Land und Leuten dort bilden. Ich hatte meine Erwartungen weitestgehend gesenkt, wodurch ich fast nur positiv überrascht wurde. Ich entschied mich für eine Organisation, mit der ich auch sehr zufrieden war. Die Zeit vor dem Abflug verbrachte ich mit Recherchen über China und damit, Chinesisch zu lernen, was ich damals ziemlich mühsam fand. Ich erinnere mich noch daran, dass ich Schwierigkeiten hatte, innerhalb von zwei Wochen zehn Vokabeln zu lernen. In China dagegen war es normal, 70 Vokabeln am Tag zu lernen.
Die Abschiedstrauer von Deutschland wurde von der Neugierde und Aufregung auf das Abenteuer Auslandsjahr überwogen. In Peking angekommen, erwarteten mich überwältigende Eindrücke. Alles war neu für mich. Zuvor lebte ich als Vegetarier in einem kleinen Dorf im Saarland, und im nächsten Moment saß ich in einem Restaurant in der Millionenmetropole und aß Schweinehirn und andere bizarre Dinge. Zusammen mit meinen Gasteltern und meinem 17-jährigen Gastbruder lebte ich in einer Wohnung inmitten Chinas Hauptstadt. Mit dem gebrochenen Englisch meiner Gastmutter und Händen und Füßen versuchten wir uns in der Anfangszeit zu verständigen. Gleich am zweiten Tag sollte ich schon alleine mit der U-Bahn zum Sprachkurs fahren, welchen wir Austauschschüler die ersten zwei Wochen besuchten. Mit den vielen Linien, Ausgängen, der Weitläufigkeit und eingequetscht zwischen riesigen Menschenmassen war das ein ziemliches Abenteuer. Dazu kam, dass ich als Ausländerin mit blonden Haaren und blauen Augen oft angestarrt und nicht selten heimlich Bilder von mir gemacht wurden. Am Anfang genoss ich noch die Aufmerksamkeit, vor allem, wenn daraus richtig gute Gespräche mit Fremden entstanden, die sich für mich interessierten. Aber nach einiger Zeit empfand ich es als störend, immer nur als Ausländerin gesehen zu werden. Manchmal sah ich kleine Kinder, die mit ausgestrecktem Finger auf mich zeigten und „Ausländer“ zu ihren Eltern sagten. Trotzdem lernte ich Peking, mit der Anonymität und den Freiheiten, die diese Stadt einem gab, lieben.
Der größte Unterschied zwischen Deutschland und China liegt meiner Meinung nach in der Schule. Chinesische Schulen sind viel strenger, disziplinierter, und es wird sehr viel Wert auf Sicherheit gelegt. Die Schule, die ich besuchte, ist eingezäunt mit Wachmännern an den Toren und überall sind Kameras. Aber man konnte sich daran gewöhnen. In China tragen zudem alle Schuluniformen, die vielleicht nicht unbedingt schön sind, aber dafür sehr bequem, da es meistens Jogginganzüge sind, in denen man auch Sportunterricht hat. Mädchen müssen ihre Haare zusammenbinden, dürfen sich nicht schminken, und Jungs dürfen nicht zu lange Haare haben. Außerdem hängt in China in jedem Klassenzimmer eine chinesische Flagge. Die Beziehung zwischen Lehrern und Schülern ist viel enger als in Deutschland und man kann mit ihnen auch über alles Außerschulische reden. Im ersten halben Jahr lernte ich im internationalen Teil meiner Schule mit anderen, überwiegend asiatischen Schülern Chinesisch. Nach der Schule ging ich zum Basketballtraining oder unterrichtete eine Deutsch AG. Im zweiten Halbjahr kam ich dann in eine chinesische Klasse. Dort fing die Schule schon um 7:20 Uhr an und ging bis 5 Uhr abends. Jeden Montagmorgen versammelten sich alle 2.500 Schüler meiner Schule auf dem Sportplatz, wo die Flagge gehisst und die Nationalhymne gesungen wurde.
„Es herrscht ein ständiger Konkurrenzkampf“
Die Einstellung der Chinesen zur Schule ist eben eine ganz andere als bei uns. Es herrscht ein ständiger Konkurrenzkampf. Jeder möchte der oder die Beste sein, um auf die beste Schule oder Universität zu kommen. Das war für mich am Anfang schwer nachvollziehbar. Manche halten dem Druck nicht stand und schlafen im Unterricht, weil sie die ganze Nacht durch Hausaufgaben gemacht haben. Ich blieb davon meistens verschont, auch da der Unterricht überwiegend frontal gehalten wird. Das heißt, der Lehrer redet oder schreibt an die Tafel und die Schüler schreiben ab. Für Diskussionen bleibt da keine Zeit. Klassenarbeiten waren hauptsächlich Multiple-Choice-Aufgaben, für die man auswendig lernen musste. Da die meisten Schüler auch am Wochenende Nachhilfeunterricht haben, musste ich mich oft alleine beschäftigen oder mit anderen Austauschschülern. Besonders gerne ging ich auf Märkte, die anders sind, als wir Menschen der westlichen Welt uns das vorstellen könnten. Hier werden Babyschildkröten für 20 Cent zum Verkauf angeboten, oder aber frisch gehackte Hühnerfüße – es gibt nichts, was es nicht gibt. Weitere besondere Orte waren die vielen Parks, die einen guten Weg darstellen, dem Großstadtdschungel für ein paar Stunden zu entgehen. Dort sah ich Leuten beim Musizieren, beim Tanzen oder beim Tai-Chi, dem chinesischen Schattenboxen, zu.
„Das tollste Erlebnis in meinem Austauschjahr war das chinesische Neujahrsfest“
Besonders fasziniert haben mich die alten Leute in China. Diese sind noch voller Lebenslust und treffen sich zum Beispiel im Park, um zu reden, Sport zu treiben oder chinesisches Schach zu spielen. Sie sind auch immer bereit, einem etwas zu erklären, und ich konnte viel von ihnen lernen; sei es über die Geschichte Chinas, die Kultur oder die Kunst. Einmal lief ich nach der Schule an einer Gruppe alter Menschen vorbei und wir kamen durch Zufall ins Gespräch. Danach lud mich eine der Frauen in ihr Haus ein, eines der wenigen gebliebenen traditionellen Pekinger Häuser. Nach der Hausführung kochte sie mir traditionelles Pekinger Essen und gab mir noch etwas für den Nachhauseweg mit. Für die meisten Chinesen ist es unvorstellbar, dass Ausländer ihre Sprache beherrschen könnten. Trotzdem sind sie sehr herzlich und liebevoll. Das tollste Erlebnis in meinem Auslandsjahr war das chinesische Neujahrsfest. Da Chinesen kein Weihnachten oder Ostern feiern, ist es für sie das wichtigste Fest im ganzen Jahr. Es gibt viele Traditionen. Man feiert mit der ganzen Familie zusammen im „Laojia“, dem Heimatort, da viele Chinesen aus kleinen Dörfern kommen und zum Arbeiten in die Großstädte ziehen.
„Wenn ich an China denke, denke ich an eine sehr aufregende, prägende Zeit“
Auch ich fuhr mit meiner Gastfamilie in die Heimat meines Gastvaters und verbrachte dort mit vielen Verwandten die Festtage. Die Dörfer sind sehr arm. Es gibt keine festen Arbeitsplätze, kein Badezimmer, keine Heizung, keinen Wasseranschluss im Haus. Gekocht wird draußen auf dem Feuer oder mit Kohle. Es war ein großer Kontrast zu der modernen Großstadt Peking und wieder eine ganz neue Erfahrung. Die Leute dort haben auch wieder eine andere Mentalität und vor allem die ältere Generation hat andere Werte. Meine Gastoma zum Beispiel wollte keine neuen Dinge haben, wie Fernseher oder gar ein neues Handtuch, sondern wollte nur das Nötigste besitzen. Vor dem Neujahrsfest wurde traditionell das ganze Haus gereinigt und mit roten Zeichen für „Glück“ geschmückt. Dann gab es Feuerwerke, wir aßen „Jiaozi“, gefüllte Teigtaschen, und es wurden „Hongbao“, Umschläge mit Geld, verteilt. Alle diese Erfahrungen und Erlebnisse habe ich mit mir zurückgebracht.
Und zu meinem Chinesisch kann ich sagen: Nach einem Jahr kann ich, auch wenn ich nie daran geglaubt hätte, mich fast problemlos im Alltag auf Chinesisch unterhalten und auch Romane auf Chinesisch lesen. Meine Aussprache ist bestimmt nicht perfekt, aber solange die Leute mich verstehen, reicht mir das auch. Wenn ich an China denke, denke ich an eine sehr aufregende, prägende Zeit. Ich habe die guten wie die schlechten Seiten Chinas gesehen. Es war überwältigend und nicht immer leicht. Ich war glücklich, nachdenklich, traurig. Aber vor allem habe ich viele neue, unvergessliche Erfahrungen gemacht, welche ich nicht mehr missen möchte. Ich kann jedem nur empfehlen, selbst ein Auslandsjahr zu machen und die Erfahrungen zu sammeln.
Jana Baldes, 17, möchte nach dem Abitur ein Freiwilliges Soziales Jahr in Afrika oder Asien machen und dann Psychologie oder Soziale Arbeit in Schweden studieren.
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