Die große Freiheit Down Under
Es ist der Geruch, der mir auffällt. Es riecht nach Meer, Freiheit, Abenteuer und nach Vorfreude. Ich liebe diesen salzigen Duft, er ist wie ein Versprechen für etwas Neues, für eine aufregende Zeit und spannende Erfahrungen. Voller Erwartung sehe ich auf das Meer, welches da so glitzernd vor mir liegt, und freue mich sehr darüber, dass so etwas Schönes in der nächsten Zeit mein ständiger Begleiter sein wird.
An meinem ersten Abend in Hervey Bay, Queensland, Australien, sitzt der Jetlag mir ungefähr genauso tief in den Knochen wie der zwanzigstündige Flug von Deutschland nach Australien. Und doch bin ich so aufgeregt, dass an Schlaf gar nicht zu denken ist. Ich sitze in einer Fastfood-Kette, esse Pizza mit Barbecue Soße und irgendwie fühle ich mich von der Reise und all den neuen Eindrücken etwas überfordert. Die unglaubliche Hitze des australischen Hochsommers bringt mich ins Schwitzen und mir schwirrt der Kopf von all den englischen Wörtern. Um mich herum sitzt meine Gastfamilie. Die Menschen, bei denen ich in den nächsten drei Monaten lebe. Sie sind wunderbar. Nette, aufgeschlossene Menschen, die mir durch ihre offene Art helfen, etwas von meiner Anspannung zu verlieren. Bis mein Schulbesuch beginnt, bleibt mir noch eine Woche. Ausreichend Zeit, das ruhige blaue Meer nicht nur zu riechen, sondern auch darin zu baden. Wie herrlich es ist, so ein traumhaftes Wasserparadies fast direkt vor der Tür zu haben.
Zu meiner Gastfamilie baue ich ein inniges Verhältnis auf, vor allem zu meiner Gastschwester. Wir zwei teilen uns nicht nur ein Zimmer, sondern auch unsere Geheimnisse und bald schon sind wir enge Freundinnen. Es gefällt mir, dass wir viel zusammen unternehmen und laut über unsere „Inside-Jokes“ lachen. Ich lerne die Nachbarn kennen und nehme an einer Wasserschlacht mit ihren Kindern teil, probiere „Vegemite“, einen konzentrierten Hefeextrakt, der gerne als Brotaufstrich verwendet wird und interessant bis eklig schmeckt, und fahre auf der Suche nach freilebenden Kängurus stundenlang die immer gleich aussehenden Straßen Hervey Bays entlang. Ich lerne, dass Flip-Flops nicht Flip-Flops, sondern „thongs“ heißen und bin wirklich verblüfft darüber, wie sehr sich mein Englisch innerhalb einer Woche verbessert. Dann ist es so weit: Ich ziehe meine australische Schuluniform an, setze den dazu passenden, für mich allerdings etwas gewöhnungsbedürftigen Hut auf, und mache mich mit meiner Gastmutter und meiner Gastschwester auf den Weg zur Schule. Tatsächlich zittere ich am ganzen Körper und ich habe das Gefühl, dass dieser erste Schultag in Hervey Bay alles übertrifft, was ich je an Nervosität und Aufregung erlebt habe. In der Schule angekommen, werde ich von meinem „local coordinator“, Brian, herzlich begrüßt. Er bringt mich schließlich zur „International Class“, einem bunt gemischten Haufen von Schülern aus Indien, Belgien, Italien, Norwegen und Deutschland. Chiara, ein italienisches Mädchen, spricht mich sofort an. Ihrer Offenheit verdanke ich es, dass ich mich in dieser ungewohnten Situation schnell wohler fühle und ich meine Unsicherheit relativ zügig ablegen kann.
Damit wir Neuen uns in ungezwungener Atmosphäre kennenlernen können, steht direkt am ersten Schultag ein Ausflug an. Wir steigen in den Bus Richtung Maryborough. Dort besuchen wir ein Wildlife Sanctuary, eine Art Zoo, in dem wir jede Menge Tiere, die typisch für Australien sind, sehen und zum Teil auch anfassen und füttern dürfen. Und tatsächlich sehe ich hier mein allererstes australisches Känguru. Zwar nicht in freier Wildbahn, aber immerhin. Auch mit Emus, die sehr seltsame und verstörende Grunz- und Zischlaute von sich geben, machen wir Bekanntschaft. Übrigens hat der Hinweis „Please don’t take food with you, when you’re with the emus“ durchaus seine Berechtigung. Emus sind extrem aufdringlich und aufgrund ihrer Größe – sie können immerhin bis zu zwei Meter groß werden – auf jeden Fall stärker als die Zoobesucher. Das Känguru-Futter sollte also in jedem Fall in den Rucksack wandern, wenn sich ein Emu nähert. Der Tag in Maryborough ist einfach super. Wir schmelzen in der Hitze der Südhalbkugel dahin, lernen uns näher kennen und haben sehr viel Spaß zusammen. Am kommenden Tag geht die Schule richtig los. Wir stellen aus dem unglaublich breiten Kursangebot unseren Stundenplan zusammen. Im australischen Schulsystem wird viel Wert auf die Persönlichkeitsentfaltung und Talentförderung der Schüler gelegt. Jeder soll das machen, was ihn interessiert und woran er Spaß hat. In den oberen Klassen sind nur Mathe und Englisch Pflicht. Dazu wähle ich Meeresbiologie, Tanz, Theater und Musik. Ich empfinde es als unglaublichen Luxus, eine solche Fächerkombination für meinen Schulbesuch wählen zu können. Die Lehrer sind sehr freundlich und auf den Schülern lastet kaum schulischer Druck, denn das, was sie tun, machen sie gerne und eben auch freiwillig. Außerdem fällt mir auf, dass es viele sehr talentierte Schüler gibt. Da ich fast nur künstlerische Fächer belege, sticht das besonders heraus.
„Ich habe noch nie offenere und herzlichere Menschen kennengelernt“
Zugegeben, ab und an langweile ich mich sogar etwas in der Schule, denn das System fordert keine mündliche Mitarbeit und der Unterricht in den nicht künstlerischen Fächern besteht viel aus Zuhören und Abschreiben. Was die Technik-Ausstattung betrifft, sind die Schulen in Australien extrem gut aufgestellt. Laptops gehören hier zum Schulalltag und werden ganz selbstverständlich in den Kursen eingesetzt. Ähnlich wie in Deutschland habe ich im Matheunterricht meine Probleme, insbesondere weil Mathe in einer anderen Sprache eine besondere Herausforderung für mich darstellt. Dennoch möchte ich nicht in den anderen, leichteren Mathekurs wechseln, also heißt es Zähne zusammenbeißen und durch. Mittlerweile fühle ich mich wirklich angekommen in meiner australischen Schule. Die Aussies machen einem das aber auch mehr als leicht. Ich habe noch nie offenere und herzlichere Menschen kennengelernt. Ich möchte jetzt nicht behaupten, dass die Deutschen grundsätzlich unfreundlicher oder distanzierter wären, aber die Frage „Darling, how are you doing?“, die man in Australien eigentlich täglich hört, vermisse ich in Deutschland doch sehr. Meine australischen Freunde sind mir sehr ans Herz gewachsen. Sie sind alle sehr lieb, etwas verrückt und aufgeschlossen und alle wollen Deutsch lernen. Es macht Spaß, ihnen ein paar Brocken beizubringen, und wenn sie mir spontan Wörter sagen, die sie schon von anderen deutschen Freunden gehört haben, bringt uns das immer wieder zum Lachen.
„Dieses Gefühl, das ich in Deutschland noch nie in so einem Maße gespürt habe: Freiheit“
Ungefähr in der Mitte des Aufenthalts passiert es dann aber doch: Ich bekomme Heimweh. Es ist wie ein Schlag ins Gesicht, wirft mich aus der Bahn. Plötzlich vermisse ich deutsches Brot, Karnevalslieder, die heimische Kultur. Hervey Bay erscheint mir auf einmal so einsam, gibt es doch keine Altstadt, wo sich das Leben abspielt, nur ein Einkaufszentrum, zu dem nach der Schule noch nicht einmal mehr ein Bus fährt. Ich vermisse meine Eltern, meine kleine Schwester und den Rest der Familie, meine Freunde und die Feste, bei denen man jeden trifft. In dieser Zeit wird Mark Forsters „Chöre“ meine eigene kleine Hymne. Es fühlt sich komisch an, denn noch nie war ich so versessen darauf, deutsche Lieder in den Ohren zu haben. Die Musik ist für mich etwas Gewohntes, etwas Vertrautes. Es ist gut, dass ich mittlerweile genug Freunde in Australien habe, mit denen ich über meine Traurigkeit reden kann. Und glücklicherweise ist das Gefühl nach ein paar Tagen auch wieder verschwunden und ich fühle mich getröstet und voller Tatendrang. Ich unternehme unheimlich viel in und um Hervey Bay. Die Gegend zählt wirklich zu den besten Orten für echte australische Naturerlebnisse. Auf einer einsamen Insel mitten im Pazifik suche ich mithilfe von Taschenlampen und den hell leuchtenden Sternen nach schlüpfenden Schildkrötenbabys, leite sie sicher ins Meer und wünsche ihnen Glück für ihren weiteren Lebensweg. Ich schnorchele mit Haien und Schildkröten im Great Barrier Reef, dem größten Korallenriff dieser Erde, und bei Fraser Island, der größten Sandinsel der Welt, paddele ich tatsächlich neben Mantarochen. Ich halte Koalas auf dem Arm, fahre Auto im Outback und renne vor Kängurus weg, weil die hüpfenden Beuteltiere gerne schon mal boxen. Bei all diesen Aktivitäten bemerke ich ein Gefühl, das ich in Deutschland noch nie in so einem Maße gespürt habe: Freiheit.
„Als ich nach Hause fliege, bin ich reicher – nicht an Geld, aber an Erfahrungen“
Wenn man weg von zu Hause ist, spürt man das Leben in all seinen Farben, zweifellos viel mehr als je zuvor. Man fühlt intensiver und zwar sowohl die positiven als auch die negativen Stimmungen. Ich lerne Menschen kennen, für die ich unglaublich dankbar bin, und ich lerne viel über mich selbst. Dazu gehört auch, das wertzuschätzen, was man hat, aber auch Dinge zu hinterfragen. Ich denke, ich werde selbstständiger. Naja, vielleicht ein bisschen. Und als ich nach Hause fliege, bin ich reicher. Nicht an Geld, aber an Erfahrungen. An Menschen. An Erlebnissen. Wenn mich jetzt jemand fragt, ob ich zwei Zuhause habe, kann ich das nicht mit Sicherheit beantworten. Zu Hause ist hier, in Deutschland, bei gutem Brot und Currywurst, bei meiner Familie, und zwar für immer. Ich habe nichts von mir in Australien gelassen, aber ich habe etwas mitgenommen. Und das behalte ich, für immer! Mein Herz ist auf die doppelte Größe angewachsen, muss es nun doch zwei Orte auf der Welt beherbergen. Aber es hat genug Platz, da bin ich sicher. Ich stecke immer noch irgendwo zwischen Kindsein und Erwachsenwerden, zwischen dem Gefühl, sich in die Arme meiner Mutter werfen zu wollen, und Eigenverantwortung zu übernehmen. Und ich bin infiziert, von dem Gefühl von Freiheit, von Unabhängigkeit, von fremden Flughäfen und anderen Sprachen. Es gibt so viel, was ich noch sehen will, und so viele Menschen, die ich noch kennenlernen möchte. Australien hat mein Leben bereichert. Ich vermisse es, und ich habe meiner Gastfamilie, meinen australischen Freunden und mir selbst versprochen, dass ich zurückkomme. Ich kann es kaum erwarten, sie wiederzusehen. Denn das Meer, das wundervolle, glitzernde Meer roch zuletzt gar nicht mehr nach Ferne, sondern nach Heimat.
Linda Zeitz, 17, macht momentan ihr Abitur und plant, im Anschluss für einen längeren Work & Travel-Aufenthalt nach Australien und Neuseeland zu gehen. Danach möchte sie etwas studieren, bei dem sie sich im internationalen Umfeld bewegen kann, am liebsten in Kombination mit Journalismus.
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