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Eisangeln, Rentierherden und Wandertouren

Schulsystem in Norwegen

weltweiser · Schulsystem · Norwegen
GESCHRIEBEN VON: LEAH CAYENNE GELHAUSEN
LAND: NORWEGEN
AUFENTHALTSDAUER: 10 MONATE
ERSCHIENEN IN: (NIX FÜR) STUBENHOCKER.
DIE ZEITUNG FÜR AUSLANDSAUFENTHALTE,
Nr. 9 / 2019, S. 30-31

Realistisch betrachtet beliefen sich meine Norwegischkenntnisse vor meinem Schuljahr in Norwegen auf „Hei! Æ heter Leah og kommer fra Tyskland!“, also nicht mehr als „Hallo, ich heiße Leah und ich komme aus Deutschland!“ Aber nichtsdestotrotz begab ich mich im Alter von 15 Jahren auf die Reise zu meiner heutigen Heimat Bodø, einer kleinen Stadt mit 51.000 Einwohnern und massenhaft Bergen, die majestätisch aus dem Wasser ragen, verziert mit schneebedeckten Spitzen.

Meine neue Heimat im Norden von Norwegen, sogar nördlich vom Polarkreis, inklusive 24/7 Dunkelheit im Winter und Helligkeit im Sommer. Erstaunlicherweise hat Bodø eine Infrastruktur, die man sonst nur von Großstädten kennt. Es gibt einen Schiffshafen, Bahnhof und Flughafen, aber der nächste McDonald’s ist 600 km entfernt, genauso wie die nächste größere Stadt. Die Menschen leben hier meist in Frieden und glücklich. Sie lieben ihr Land, ihre kleine verregnete Stadt und die scheinbar grenzenlose Natur rundherum. Nur wenige wollen weg und in eine Großstadt. Und so habe ich jedes Mal, wenn ich aus Deutschland zurückkomme, das Gefühl, dass sich die Welt in Bodø einfach langsamer und entspannter dreht.

Rund 1.850 km Luftlinie flog ich gen Norden, um diesen Ort kennen und lieben zu lernen. Ich wurde oft gefragt, ob ich keine Angst gehabt hätte oder wie ich es geschafft habe, die Nerven in dieser Zeit zu behalten. Mein Tipp an alle, die ein Auslandsjahr machen wollen, ist daher: Denkt nicht zu viel nach! Denn sobald man Gedanken zulässt, kommen auch Zweifel. Wir denken einfach oft viel zu viel und verpassen das wirkliche Leben und übersehen Chancen. Man sollte sich nicht von dem, was man eventuell in der Schule oder im Leben der Freunde verpasst, abhalten lassen. Genauso wenig sollte das die Entscheidung zur Länge des Auslandsaufenthaltes beeinflussen. Denn in dieser Zeit erlebt man so viel und verändert sich fundamental. Wenn man wiederkehrt, kommt es einem so vor als habe man einen Zeitsprung gemacht. Kaum etwas verändert sich zu Hause während man selbst erst richtig anfängt zu erleben. Erst nach der Rückkehr versteht man, wie unwichtig es ist, dass man das eine Jahr eventuell „verliert“, weil man eine Klasse wiederholen muss. Ohnehin muss nicht jeder automatisch wiederholen. Im Gespräch mit meinen Lehrern wurde mir damals beispielsweise angeboten, die Einführungsphase zu überspringen.

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Aber nun zu meinem eigentlichen Aufenthalt, genauer gesagt zum ersten Schultag. Ich stand zwei Tage nach meiner Ankunft vor meiner neuen Schule inmitten meiner neuen Klasse und kannte niemanden. Alle anderen kannten sich aufgrund des norwegischen Schulsystems seit zehn Jahren. Ich stand also dort und verstand nicht einmal die Sprache. Doch ich war mir sicher, dass ich Gesprächsthema war. Ab und an kamen die ganz Mutigen zu mir und sagten schüchtern Hallo oder fragten, ob ich aus Deutschland sei, obwohl sie es offensichtlich schon wussten. Es gab also für mich nur zwei Möglichkeiten. Entweder weiterhin alle spekulieren lassen und „socially awkward“ in der Ecke rumstehen, während ich wie ein Zootier angestarrt werde, oder selbstbewusst auf die anderen zugehen. Es endete darin, dass ich mich zwang, extrovertiert zu sein. Und nachdem ich die ersten Hürden überwunden hatte, ging mir diese Art in Fleisch und Blut über. Ich war schon immer offen gewesen, doch nun fiel es mir noch leichter, auf Leute zuzugehen. Ich hatte also schon nach einem Tag eine wichtige Veränderung durchgemacht. Außerdem machte ich die Erfahrung, dass es niemals schwierig war, Gesprächsthemen zu finden, denn ich war scheinbar von Grund auf interessant. Eben die Neue und dazu noch die Deutsche. Eine wandelnde Attraktion. Ein Mädchen namens Sofie, welches an meinem Tisch in der Schule saß, sprach in den ersten eineinhalb Monaten kein einziges Wort mit mir. Doch dann kam sie eines Tages zu mir und fragte, ob ich Lust hätte, mit ihr shoppen zu gehen. Ich war erstmal total geschockt, dass sie mit mir sprach, und stand eine gefühlte Ewigkeit mit offenem Mund da, bis ich meine Sprache wiederfand und einwilligte. Mittlerweile ist Sofie eine meiner engsten Freundinnen. Mit ihr kam auch Torunn, die meine Leidenschaft für Sport teilt, und viele weitere Menschen, die mir Tag für Tag zeigen, wie richtig meine Entscheidung damals war. Doch trotz alledem ist mir auch klar geworden, was ich in Deutschland habe. Ich habe weder Heimweh, noch vermisse ich Familie und Freunde, doch das bedeutet keineswegs, dass ich meine Heimat nicht wertschätze.

„Ich war scheinbar von Grund auf interessant“

Das Schulsystem hier hat bei mir zunächst für einen positiven Kulturschock gesorgt. Mein ganzes Bild von Schule und Lehrern wurde komplett auf den Kopf gestellt. Wie ignorant und altmodisch das deutsche Schulsystem ist, wurde mir hier erstmals klar, als ich an meiner norwegischen Schule alles hinterfragte: Zum Beispiel: Warum muss man seine Schuhe in der Schule ausziehen? Um das Gefühl von zu Hause zu bekommen, wodurch sich die Kinder sicher fühlen und entspannter lernen. Warum sollte man Lehrer duzen, beim Vornamen nennen und sogar umarmen? Weil es zahlreiche Studien gibt, die beweisen, dass eine persönliche Beziehung zu den Lehrern leistungssteigernd ist. Zudem lernt man, dass Respekt nicht erzwungen werden kann, sondern eigentlich durch Anerkennung und Würdigung kommen sollte. Ehrlicher gegenseitiger Respekt kann meiner Meinung nach gar nicht durch Distanz entstehen. Ich bekam auch andersherum Fragen über unser Schulsystem mit Hauptschule, Realschule, Gymnasium und Gesamtschule. In Norwegen gehen alle bis zur 10. Klasse zusammen in eine Klasse. Erst danach trennen sich die Wege. Manche machen Abi, manche eine Ausbildung und wieder andere reisen. Zeugnisse gibt es erst ab der 8. Klasse, damit nicht schon früh unnötig Druck aufgebaut wird. Denn Kinder lernen nicht besser mit Druck, die Leistung und auch die Leistungsbereitschaft verschlechtert sich sogar oftmals. Noten gibt es in Norwegen nicht nur auf Grund von erbrachter Leistung in einem spezifischen Fach und mündlicher Mitarbeit, sondern auch auf Grundlage von sozialen Fähigkeiten wie beispielsweise der Fähigkeit, im Team zu arbeiten. Also wer seinen Mitschülern etwas beibringt, bekommt gute Noten, wer Hilfe annimmt und das Bestmögliche daraus macht, bekommt gute Noten, und wer alle anderen herunterzieht durch zum Beispiel eine negative Einstellung, hat schlechtere Chancen auf gute Noten. Auch während des Jahres bekommt man ständig und ausschließlich positives Feedback von den Lehrern. Das alles zeigt, dass das Hauptziel eigentlich das mentale Wohlbefinden und die Steigerung der Leistungsbereitschaft ist. Und ich denke, dass es funktioniert. Skandinavische Länder schneiden meiner Meinung nach nicht durch höhere Budgets besser in Vergleichen ab.

Jede Schule hat auch einen Schulpsychologen. Der Unterschied zu Deutschland liegt in der Bereitschaft der Schüler, diese Hilfe anzunehmen. In Norwegen war es total normal, ab und zu dem Schulpsychologen mit der besten Freundin einen Besuch abzustatten und sich alles von der Seele zu reden. Außerdem hat mich ganz persönlich der Umgang mit Benachteiligungen positiv überrascht. Ich habe selbst eine relativ stark ausgeprägt Legasthenie. Dazu kamen noch die Sprachbarriere und der Fakt, dass ich ganz andere Schwerpunkte in meiner bisherigen Ausbildung hatte. Das wurde durchgehend berücksichtigt, ohne dass ich unnötig verhätschelt wurde. Man hat sich auf mich individuell eingestellt. Meine Lehrer haben meinen Wunsch, keine unnötige Extrawurst zu bekommen, erkannt und berücksichtigt. Außerdem gingen meine Lehrer auf Flüchtlinge in meiner Klasse gut ein. Das Lernpensum wurde jeweils individuell angepasst. Um den Zusammenhalt zu fördern, gab es oft mit der ganzen Klasse Ausflüge wie Fahrradtouren, Wandertouren, Schlittschuhfahren, Cross Country Ski Touren und vieles mehr. Meine Freizeit verbrachte ich mit Sport in einem Sport Club, in welchem ich entweder selbst trainierte oder als Trainer kleine Kinder unterrichtete. Außerdem verbrachte ich viele Stunden damit, über Berge zu joggen zusammen mit dem Hund meiner Gastfamilie, oder ich war mit meinen Freunden unterwegs. Wir spielten oft Fußball oder Volleyball zusammen, gingen auf Wandertouren, zelten oder verbrachten einfach nur Zeit zusammen. Die Norweger sind generell sehr sozial veranlagt. An den Wochenenden fuhr ich gemeinsam mit meiner Gastfamilie meistens zu unserem Cottage, einem kleinen Haus, das weiter nördlich im kleinen Hamarøy steht. Das Cottage, das über eine Sauna und Highspeed-Internet verfügt, ist eine halbe Stunde Fußmarsch von den nächsten Nachbarn gelegen und hat nur ein Plumpsklo. Ein Großteil unseres Essens haben wir selbst gefischt. Im Sommer vom Motorboot aus und im Winter gingen wir mit unseren Skiern aufs Eis, bohrten ein Loch zum Eisfischen und machten es uns mit einem Kakao auf einem Rentierfell bequem.

„Um den Zusammenhalt zu fördern, gab es oft mit der ganzen Klasse Ausflüge“

Allgemein lassen sich Norweger nicht von so etwas Nebensächlichem wie dem Wetter abhalten. Wenn das Wasser zugefroren ist, geht man einfach im Bikini schneebaden. Eine meiner Lieblingsbeschäftigungen im Winter ist Snow Scooter fahren. Es ist ungefähr so wie Jetski fahren, nur noch cooler und mit besserer Aussicht. Im Frühjahr kann man dann Kanu fahren, auf Berge klettern, Höhlen erkunden und vieles mehr. Und im Sommer wird es oftmals warm genug, um an einem menschenleeren weißen Sandstrand schwimmen zu gehen. Norwegen gilt als das Land mit einigen der schönsten Stränden und Wasserfällen. Im Herbst steht dann die Rentierschlachtung an. Normalerweise leben die Rentiere komplett frei, aber einmal im Jahr werden sie von den norwegischen Ureinwohnern, den Samen, zusammengetrieben. Da der Ehemann meiner Gastschwester mit Samen verwandt ist, wurde ich eingeladen, dabei zu sein. Die riesige Rentierherde zu sehen, war eines der überwältigendsten Erlebnisse, die ich jemals hatte. Mein Schuljahr in Norwegen hat mein Leben verändert: All die Probleme von vor einem Jahr sind auf einmal zweitrangig, nur noch halb so groß oder existieren gar nicht mehr.

Leah Cayenne Gelhausen, 17, hat beschlossen, weiterhin in Norwegen zur Schule zu gehen, und wurde bereits von einer Schule angenommen, an der sie Abi mit einem sportlichen Schwerpunkt machen kann. Neben den normalen Abifächern gibt es dort auch Fächer wie beispielsweise Leadership.

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Koala Bär
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