Vom Praktikum zum Auslandssemester trotz Handicap
Es wurde dunkel, als der Flieger die Hauptstadt Finnlands erreichte, und viel mehr als Seen und Fichten konnte ich an diesem Tag im Januar 2017 nicht sehen. In dem Moment hatte ich aber auch andere Sorgen – mir war unheimlich heiß, da ich eine Thermobluse, Wollpulli, Blazer und Winterjacke gleichzeitig anhatte. Meine linke Hand war frisch im Gips und dadurch konnte ich während des gesamten Fluges von Frankfurt nach Helsinki nichts ausziehen. Wie kam es dazu?
Ich heiße Maggie und ich habe Syringomyelie. Diese neurologische Erkrankung hat mein Rückenmark beschädigt, sodass ich beim Laufen teilweise eingeschränkt bin. Zusätzlich kommt sie mit Muskelatrophie, Skoliose sowie verringerter Sensibilität einher. In meinem Alltag bin ich mobil und kann selbstständig laufen, trotzdem ist mein unsicherer Gang sichtbar. An schlechten Tagen passiert es mir, dass ich stolpere. So wie an dem Abend vor meinem Abflug, als ich mir die Hand brach. Als ich sieben Jahre davor nach Deutschland kam, hatte ich „nur“ die Wirbelsäulenverkrümmung als Diagnose. In meiner Heimat wurden MRT-Geräte erst ein Jahr, nachdem ich das Land verlassen habe, auf den Markt gebracht. Somit wurde die Syringomyelie erst spät bei mir entdeckt und vorher waren die Schwäche und das Stolpern ungeklärt. Das war Anfang 2012, zu dem Zeitpunkt fing ich auch meine erste Stelle als Werkstudentin an. Eine Zeit lang sehnte ich mich nach Sicherheit und die hatte ich durch meine Umgebung, mein Studium der Psychologie an der Goethe Uni Frankfurt und den Job, der lehrreich und interessant war. Ende 2016 war ich jedoch am Ende des Bachelorstudiums und brauchte eine neue Herausforderung. Ich informierte mich im International Office nach Möglichkeiten, mit Erasmus+ ein Praktikum im Ausland zu machen. Auf der Webseite erasmusintern.org entdeckte ich, dass in einem Start-up in Tampere, Finnland, Psychologie-Studenten gesucht wurden. Ich bewarb mich und nach einem Skype-Interview hatte ich die Zusage. Beim Ausfüllen der Unterlagen merkte ich, dass Studierenden mit Beeinträchtigung Sonderförderung zusteht (Anlage E1, Antrag für Geförderte mit Schwerbehinderung) und diese wurde mir auf der Grundlage des Schwerbehinderungsausweises (50%) zugesagt.
Als Praktikantin stand mir keine studentische Unterkunft im Wohnheim zur Verfügung. Auf der Ebay-Kleinanzeigen ähnlichen Plattform tori.fi veröffentlichte ich daher ein Gesuch und eine Finnin, die auch im Bereich der universitären Bildung und Erasmus+ tätig ist, bot mir ein Zimmer in ihrer Wohnung an. Sie empfing mich herzlich an dem Abend im Januar, nachdem ich vom Flughafen in Helsinki den Zug ins verschneite Tampere genommen hatte. Unterwegs wurde mir mit dem schweren Koffer von vielen Menschen geholfen und die Kälte war mir mehr als willkommen, da ich so warm angezogen war. Noch nie in meinem Leben hatte ich einen so langen Winter erlebt – in Tampere hatten wir Schnee bis Ende April. Kälte, Eis, Schnee, glatte Wege, Stolpern und Rutschen – das war Alltag. Und ähnlich wie in einer Expositionstherapie lernte ich dadurch, weniger Angst vor dem Rausgehen zu haben. Im Februar wagte ich eine Reise nach Lappland und besuchte Santa Claus und begab mich auf eine Husky-Safari. Ja, es war wahnsinnig kalt, um die -15 Grad während des Tages sowie -30 Grad nachts, und obwohl ich richtig angezogen war, konnte ich trotzdem nicht mehr als 15 km am Tag laufen und war ständig hungrig, da der Körper sehr viel Energie braucht, um sich warmzuhalten. Aber nach dieser Erfahrung wusste ich viel besser, wie stark mein Körper eigentlich ist. Eine andere wichtige Lehre zog ich, als ich Mitte April mit Freunden den Naturpark am See Helvettinjärvi besuchte. Wir entschieden uns, über die Steine eines gefrorenen Wasserfalls hochzuklettern. Nach ungefähr zehn Metern wusste ich, dass mir die Kraft fehlte, um weiterzukommen, aber Zurückklettern war auch nicht mehr möglich. Es waren die Freundin vor mir und der Freund hinter mir, die mir durch Ziehen, Drücken und Schleppen den Aufstieg ermöglicht haben. Als wir oben auf dem Berg ankamen, war ich zutiefst erfüllt von Dankbarkeit und stolz darauf, dass ich mich getraut hatte. Und es war in Ordnung, dass ich Unterstützung brauchte, um es zu schaffen. Viel zu oft habe ich früher versucht, alleine klarzukommen, und habe mich geschämt, um Hilfe zu bitten. Nach dieser Erfahrung war es leichter für mich, meine Schwächen zu akzeptieren und mich anderen anzuvertrauen.
Leider hatte die Firma, in der ich mein Praktikum machte, Schwierigkeiten und ich sah keine Möglichkeit mehr, dort zu bleiben. Durch meine Arbeit begeisterte ich mich aber mehr und mehr für Technologie und begann mich dafür zu interessieren, wie man Produkte mithilfe von Psychologie-Erkenntnissen für alle verbessern kann. Daher entschied ich mich, den interdisziplinären Master „Human Factors“ an der TU Berlin anstatt einen klassischen Psychologie-Master in Frankfurt zu machen. In Berlin angekommen, fiel mir etwas auf, was ich in den letzten acht Monaten in Finnland überhaupt nicht vermisst hatte – das Starren der Mitmenschen auf meine Beine. Ja, meine Beeinträchtigung ist sichtbar, dennoch kam es in Finnland so gut wie nie vor, dass ich angeglotzt oder sogar darauf angesprochen wurde. Ich merkte, wie sehr mich das störte. Die Umstellung von einer nahezu barrierefreien Stadt wie Tampere mit viel Natur, Seen und Wäldern hin zur Großstadt mit langen Laufstrecken und überfüllten Parks, Lärm und Schmutz war wirklich eine Herausforderung. Bald merkte ich, dass die Sehnsucht nach Finnland immer stärker wurde, also informierte ich mich über die Möglichkeiten, dort ein Auslandsjahr zu absolvieren. Die ehemalige Technische Uni Helsinkis, heute Aalto Universität, hat eine Kooperation mit der TU Berlin und auch einen ähnlichen Studiengang namens „Human-computer Interaction & Design“. Die Bewerbung lief deutlich komplizierter als die in Frankfurt, da ich widersprüchliche Informationen von den Mitarbeitern bekam. Das hielt mich jedoch nicht davon ab, das Auslandsjahr anzutreten und das Beste daraus zu machen. Die Aalto University wurde im Jahr 2010 als Fusion der technischen, wirtschaftlichen und der Kunstuniversität Helsinkis gegründet. Interdisziplinarität prägt den Unialltag durch offene Kurse für Studierende aller Fachrichtungen sowie Ausstellungen und Demonstrationen neuster Forschungsergebnisse. Die Wohnheime, von HOAS und AYY verwaltet, vergeben Zimmer nach Punktesystem und Studierenden mit Beeinträchtigung stehen Punkte zu. Ein Dokument auf Englisch seitens eines behandelnden Arztes genügte, um mir ein solches Zimmer zu sichern.
„Ich versuchte, diesen unglaublichen Zugang zu modernen Technologien und Arbeitsweisen bestmöglich zu nutzen.“
Die Universität hat viele Angebote zu Beratung und Hilfe; „Starting point for Wellbeing“ versucht zum Beispiel, das Studium für alle angenehmen zu machen: durch Veranstaltungen, Studienberater, Chats und Psychologen. Zusätzlich führen sie regelmäßig Studien durch, um das Wohlbefinden der Studierenden zu evaluieren. Alle Gebäude sind rollstuhlgerecht und mit Aufzügen ausgestattet. Die Digitalisierung des Uni-Alltags macht das Leben für alle angenehmer: eine App auf dem Handy funktioniert als studentischer Ausweis und die meisten Seminarräume an der Uni sind per App buchbar, sodass die Bibliothek weiterhin gemütlich bleibt. In der Bibliothek darf man sowohl mit Jacke als auch mit Tasche oder sogar Getränk rein und es gibt sowohl stille Räume als auch Ecken für Gruppenarbeiten. Die neueren Gebäude der Uni bieten auch große Bildschirme für Gemeinschaftsarbeiten. Durch das Programm „Aalto Takeout“ steht den Studierenden jede Menge Technik zur Verfügung: Kameras, Drohnen, Tripods und iPads können für verschiedene Zwecke ausgeliehen werden. Die Werkstätten stellen Instrumente für Holzverarbeitung, Design und zur Herstellung von Kleidung zur Verfügung, Keramik- sowie Glasverarbeitung sind möglich und nicht zuletzt gibt es frei zugängliche 3D-Drucker. Mehrere „VR hubs“ lassen Studierende Virtual reality explorieren. Ich versuchte, diesen unglaublichen Zugang zu modernen Technologien und Arbeitsweisen bestmöglich zu nutzen. So vertiefte ich mein Wissen in Human-Computer Interaction, arbeitete an praktischen Projekten im Bereich Usability mit Firmen, half dabei, den größten Hackathon Europas zu organisieren und war Freiwillige bei einem Tech-Festival, an dem sich die CeBIT orientieren möchte. Ich lernte Javascript, um Datavisualisierung ansprechender zu gestalten, und vor allem lernte ich, mit unterschiedlichsten Menschen in verschiedenen Kontexten zusammenzuarbeiten.
Klar, gestolpert bin ich mehrmals, aber wie ein japanisches Sprichwort sagt: Sieben Mal stolpern, acht Mal aufstehen!
Margarita Mishinova, 29, hat gerade ein weiteres Praktikum in Japan absolviert und möchte als nächstes ihren Master in „Human Factors“ an der TU Berlin abschließen und an Projekten im Bereich Medizin und Accessibility arbeiten.
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