Von Musicals und Jogginghosen
„Mama, ich geh nach Kanada!“ Mit dieser Aussage überraschte ich meine Eltern, als ich an einem Oktobertag von der Schule nach Hause kam. Im Englischunterricht waren Flyer verteilt worden, die zur JugendBildungsmesse einluden. Und ich hatte nicht nur beschlossen, der Einladung zu folgen, sondern auch, nach Kanada zu gehen. Noch vor dem Messebesuch.
Weder Kanada im Speziellen noch ein Auslandsaufenthalt im Allgemeinen waren jemals zu Hause Thema gewesen und dementsprechend verblüffte meine Ankündigung. Irgendwann später erzählte mir meine Mutter, dass sie das Ganze für einen vorübergehenden Gedanken gehalten hatte. Und tatsächlich landete der dicke Stapel mit Katalogen der Austauschorganisationen zunächst in der Schublade. Doch in den Sommerferien beschäftigte ich mich genauer mit den Broschüren, Katalogen und Webseiten und vereinbarte schließlich bei mehreren Anbietern Gesprächstermine. Nach langen Überlegungen unterschrieben wir endlich den Vertrag: Ich würde die Bernice MacNaughton High School in Moncton, New Brunswick, Kanada, besuchen. Damit begann der zweite Teil der Vorbereitungszeit: Zum einen wartete ich wie alle anderen sehnsüchtig auf eine Nachricht von meiner Gastfamilie. Zum anderen mussten noch viele Dinge erledigt werden. Beispielsweise erkundigte ich mich, wo ich in Kanada ein Cello leihen kann, besorgte Gastgeschenke und schrieb eine Packliste. Nach den Ferien besuchte ich noch drei Wochen lang die Schule in Deutschland und feierte schließlich mit meinen Freunden eine kleine Abschiedsparty.
Plötzlich merkte ich, wie viel Spaß mir mein alltägliches Leben machte, und ich fing an, darüber nachzudenken, ob das Auslandshalbjahr wirklich so eine gute Idee war. Doch da war der große Tag schon gekommen. Ich wurde um 3:45 Uhr geweckt und freute mich nur noch auf mein Kanada-Abenteuer. Wahrscheinlich war diese Freude auch der Grund, warum mir der Flug überhaupt nicht lang vorkam. Gegen 17 Uhr deutscher Zeit befanden wir uns im Landeanflug und ich stellte mit leichtem Schrecken fest, dass ich kaum etwas von dem verstand, was Leute am Flughafen zu mir sagten. Die Einreisekontrolle war trotzdem kein Problem: Ich kam zu einem sehr guten Zeitpunkt an, sodass ich nur 5 Minuten in der Schlange stand. Hinter mir nahm die Reihe der Wartenden ein beeindruckendes Ausmaß an. Die Beamtin am Schalter war sehr nett und der Flughafen gut ausgeschildert, sodass ich ohne Probleme den Weg zum Gate für den Anschlussflug nach Moncton fand. Um 17 Uhr kanadischer Zeit war der wohl aufregendste Moment meiner Zeit in Kanada gekommen: Ich traf meine Gastfamilie. Meine Gasteltern Roger und Wendy und meine zwölfjährige Gastschwester Jill waren gekommen, um mich abzuholen. Sie umarmten mich herzlich. Als wir das Flughafengebäude verließen, war es wider Erwarten wärmer als 30°C und die Sonne schien. So viel zum Thema „Kaltes Kanada!“
Zu Hause angekommen, führte mich Wendy durch das Haus und zeigte mir, wie die Waschmaschine funktioniert. Mein Zimmer lag im Keller und war sehr gemütlich. Das Bett war 140cm breit und ich hatte einen begehbaren Kleiderschrank. Am nächsten Tag fuhren wir in das Ferienhaus meiner Gastfamilie. Es liegt am größten See New Brunswicks und im Sommer trifft sich dort die ganze Familie. Daher lernte ich auch gleich meine Gastoma, meinen 21 Jahre alten Gastbruder Brad und die Familie von Rogers Bruder kennen. Es war noch genauso heiß wie am Tag zuvor, aber am See ließ es sich gut aushalten. Zwei Tage später stand mein erster Schultag in Kanada auf dem Programm. An diesem Tag gingen nur die Schüler der 9. Klasse und die International Students zur Schule. Wir mussten einen Englisch- und einen Mathetest schreiben, aber beide waren sehr einfach. Mittags veranstalteten einige 12.-Klässler eine „Rallye“ durch die Schule. Hier begann ich zu verstehen, was mit dem berühmten „school spirit“ gemeint ist. Die 12.-Klässler, die zum Helfen da waren, waren gerne in der Schule, identifizierten sich als „BMHS Highlanders“ und verbreiteten gute Laune. Zum krönenden Abschluss fuhr ich nachmittags zum ersten Mal mit einem der typischen gelben Schulbusse.
„Ich entschied mich für Drama, wo „Shrek – the Musical“ gespielt wurde“
Am nächsten Tag begann der reguläre Unterricht und alle Schüler kamen in die Schule. Ich merkte schnell, dass die Kurse, die meine „Homestay“-Koordinatorin für mich gewählt hatte, fast alle sehr einfach waren, also wählte ich beim „Guidance Counsellor“ um. Leider waren viele Kurse wie beispielsweise Kochen bereits voll. Ich entschied mich für Mathe, Gesang, Chemie, Französisch und Englisch. Der Matheunterricht war zwar immer noch langweilig, aber schon anspruchsvoller als der ursprüngliche Kurs. Mein Englischlehrer erzählte in den Stunden die meiste Zeit von seinem Leben, manchmal sprach er auch über Filme oder wir schauten Videos von berühmten Musikern oder Politikern, und so waren die Englischstunden oft sehr lustig, aber immer interessant. Die zweite Stunde, in der ich immer Gesangsunterricht hatte, wurde meine Lieblingsstunde. Der Unterricht war gut und Gesang war das einzige Fach, das ich zusammen mit meiner besten kanadischen Freundin hatte. Nach einem kurzen Video zur Einstimmung folgte üblicherweise ein kurzer theoretischer Teil und danach sangen wir in variierenden Besetzungen. Mal probten wir Adeles „Turning Tables“ als Chorstück, mal erarbeiteten wir in Gruppen ein mehrstimmiges Lied oder wir übten in der ganzen Schule verteilt an Solostücken. In den „Assemblies“, den Schulversammlungen, traten wir als Chor auf. In Kanada ist es üblich, dass man nach dem Unterricht an AGs aller Art teilnimmt. Ich entschied mich für Drama, wo „Shrek – the Musical“ gespielt wurde. Am Anfang des Schuljahres gab es ein Vorsprechen, bei dem man einen kurzen Monolog aufsagen musste und eine Passage eines Liedes vorsingen. Vor dem Vorsprechen war ich sehr nervös, obwohl ich wusste, dass jeder, der vorsprach, später auch mitwirken durfte. Ich bekam keine Sprechrolle, aber die Proben für das Musical machten mir trotzdem großen Spaß. Drama nahm viel Zeit in Anspruch, denn wir hatten nicht nur zweimal pro Woche Schauspiel-Proben nach der Schule, sondern auch Gesangs- und Tanzproben in der Mittagspause.
„Traditionell geht man Äpfel pflücken und es gibt Truthahn zum Abendessen“
Im Oktober kam die ganze Familie nach Hause, denn es war „Thanksgiving“. Traditionell geht man Äpfel pflücken und es gibt Truthahn zum Abendessen. Meine Gastgeschwister und ich verbrachten große Teile des Wochenendes damit, Wii zu spielen, und auch wenn ich sehr schlecht darin bin, machte es Spaß. Ich hatte erwartet, dass es beim Abendessen formeller zugehen würde als sonst, aber wir haben Jogginghosen getragen. Am Wochenende nach „Thanksgiving“ wurde für alle Austauschschüler aus der Provinz eine Reise nach Toronto organisiert. Wir verbrachten fünf Tage mit Sightseeing und Shopping. Außerdem fuhren wir zu den berühmten Niagarafällen, die mich wirklich beeindruckten. In der Schule fanden zudem viele Events statt: eine Party, der „Spirit Day“, an dem gegrillt und gespielt wurde, und ein Theaterausflug. An Halloween durften in der Schule Kostüme getragen werden und es gab einen Kostümwettbewerb. Leider hatte meine Gastfamilie kaum Zeit, um Ausflüge zu unternehmen, denn sie waren in mehreren verschiedenen Sportteams als Spieler und Trainer aktiv und somit an den Wochenenden oft bei Turnieren. Umso besser fand ich es, dass meine „Homestay“-Koordinatorin Pam viele Ausflüge organisierte. Mal besuchten wir andere Städte, mal gingen wir Skifahren oder Schneeschuhwandern.
„Zu meiner Überraschung bekam ich viele Geschenke von meiner Gastfamilie“
Dann kam Weihnachten und ich wurde pünktlich zu Beginn der Ferien krank. Erst an Heiligabend war ich wieder einigermaßen fit, sodass ich mit der gesamten Familie in die Kirche gehen konnte. Die Gottesdienste in Kanada waren immer sehr anders als die in Deutschland und so war auch der Heiligabendgottesdienst eine ganz besondere Erfahrung. Nachdem wir aus der Kirche kamen, gab es Schokoladenfondue, während wir „Fröhliche Weihnachten“ geguckt haben, und am nächsten Morgen fand dann die Bescherung statt. Zu meiner Überraschung bekam ich viele Geschenke von meiner Gastfamilie, beispielsweise ein Handtuch mit der kanadischen Flagge. Ich verschenkte Lebkuchen und Spekulatius, den mir meine Eltern aus Deutschland geschickt hatten. Die Zeit nach Weihnachten verbrachten meine Gastgeschwister und ich wieder mit der Wii. Mit dem neuen Jahr kam der Gedanke daran, dass meine Zeit in Kanada schon bald zu Ende gehen würde, was mich etwas traurig machte. Natürlich freute ich mich darauf, meine Freunde in Deutschland und meine Familie wiederzusehen, doch ich wusste auch, dass ich mein kanadisches Leben vermissen würde. Während der letzten Woche meines Aufenthaltes wurden die Halbjahresprüfungen geschrieben und es gab keinen normalen Unterricht mehr, sodass ich im Unterricht schon eine Woche vorher verabschiedet wurde, und ich bekam einige sehr schöne Abschiedsgeschenke. Der Abschied von meiner Gastfamilie war sehr kurz und dann saß ich schon im Flugzeug nach Deutschland.
„Bald merkte ich aber, dass ich trotz dieser enttäuschten Erwartungen eine schöne Zeit, verbunden mit vielen neuen Erfahrungen, bei ihnen verbracht habe“
Der Rückflug kam mir unendlich lang vor und ich war sehr froh, als ich endlich bei meiner Familie ankam. Am nächsten Tag begann das 2. Halbjahr, also ging ich trotz Jetlag in die Schule. Der Rückkehrer-Kulturschock blieb mir weitestgehend erspart – stattdessen wurde ich krank. Ich erinnere mich immer wieder gerne an meine Zeit in Kanada zurück. Ich habe einen farbenfrohen Indian Summer und einen für Deutsche kalten und verschneiten Winter erlebt, neue Freunde gefunden und viele einzigartige Erfahrungen gemacht, die ich nicht missen möchte. Rückblickend bin ich sehr zufrieden mit meiner Entscheidung, dieses bisher größte Abenteuer meines Lebens unternommen zu haben. Die ausgewählte Gastfamilie hatte mich zunächst sehr verblüfft, hatten doch ihre Hobbys und meine Vorlieben herzlich wenig gemeinsam. Sie waren weitaus weniger musikalisch interessiert, als ich erhofft hatte, waren sportlich engagiert – was ich bisher nie vermisst hatte – und sprachen entgegen meinen Erwartungen kein Französisch. Der bilinguale Aspekt war für meine Entscheidung, nach Kanada zu gehen, schon wesentlich. Bald merkte ich aber, dass ich trotz dieser enttäuschten Erwartungen eine schöne Zeit, verbunden mit vielen neuen Erfahrungen, bei ihnen verbracht habe. Auch wenn es weit davon entfernt war, in meinem Sinn optimal zu sein, war es, vielleicht auch gerade deshalb, sehr schön.
Johanna Hindert, 16, geht derzeit noch zur Schule, möchte aber nach ihrem Abitur Zeit in Island verbringen, bevor sie ein Lehramts-Studium mit den Fächern Englisch, Französisch und Mathematik aufnimmt.
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