Fünf Monate Schüleraustausch an der irischen Secondary School
„Ich habe keine Ahnung, worauf ich mich hier eingelassen habe.“ Dieser Gedanke ging mir durch den Kopf, als das grüne Flugzeug von Aer Lingus eine letzte Kurve über dem Dublin Airport flog und zur Landung ansetzte. In dem Moment musste ich ein wenig über mich selbst lachen. Während der gesamten Vorbereitungszeit fragten mich Freunde: „Hast du keine Angst vor der anderen Sprache, der unbekannten Familie, der neuen Schule?“ Ich antwortete jedes Mal: „Darüber kann ich mir später immer noch Gedanken machen.“
Und nun war dieser Moment plötzlich gekommen, in dem ich nicht mehr weglaufen konnte. Kaum zu glauben, dass die Idee für einen Schüleraustausch in Irland bereits zwei Jahre zuvor entstanden war. Jeder kennt das doch: Man hört ein Lied im Radio, sucht es auf YouTube, entdeckt durch neue Videovorschläge weitere Songs dieses Künstlers, und am Ende steht man mit einer neuen Lieblingsband da. In meinem Fall war es das Lied „Hall of Fame“, das mich zu The Script, einer Popband aus der irischen Hauptstadt Dublin, führte. Da fiel mir auf: „Ach, Irland hatte ich ja ganz vergessen.“ Bis zu diesem Zeitpunkt plante ich nämlich ein Auslandsjahr in England, einfach weil mir nichts Besseres einfiel. Aber nach unzähligen Stunden Recherche hatte ich mich in Großbritanniens Nachbarn verliebt und für mich stand fest: Es sollte Irland werden und sonst nichts. Ich wollte dieses nahe gelegene und doch so spannende Land unbedingt kennenlernen. Da ich in Deutschland kein Schuljahr wiederholen wollte und mir ein ganzes Jahr sehr lang vorkam, entschied ich mich, nur fünf Monate in die Fremde zu ziehen.
So bald wie möglich bewarb ich mich bei einer Organisation und hatte bereits mehrere Monate vor meiner Abreise meine Gastfamilie im County Cork, das im Südwesten der Insel liegt. Und damit hieß es „welcome“ in meinem Irland-Abenteuer! Ich kam gegen 22 Uhr an einem Sonntagabend im Januar in meinem neuen Zuhause an, und musste direkt am nächsten Morgen meine Schuluniform anziehen, von der meine Gastmutter netterweise die meisten Teile bereits besorgt hatte. Ich wusste schon vorher, dass meine Gastfamilie auf dem Land lebte, und malte mir typisch irische Wiesen voller Schafe direkt vor der Haustür aus. In den ersten Wochen nach meiner Ankunft erkundete ich die Umgebung und stellte fest, dass meine Vorstellung gar nicht so falsch gewesen war. Zwar gab es nur ein Schaf, das zudem die unangenehme Angewohnheit hatte, auf Menschen zuzulaufen und seinen Schädel in die Beine der Besucher zu rammen, doch die grünen Wiesen reichten bis zum Horizont. Als Stadtkind freute ich mich über diesen neuen Lebensraum, vor allem, da das Haus auf einem Hügel stand und man ein großes Tal überblicken konnte. Aber so schön der Ausblick auch war, irgendwann wurde es doch anstrengend, nachmittags nicht spontan einkaufen gehen oder sich mit Freunden treffen zu können. Denn auch wenn sich meine Gasteltern alle Mühe gaben, mich immer mit dem Auto zu meinem Ziel zu bringen, hatten sie natürlich auch Verpflichtungen und nicht immer Zeit. Ich war im vierten Jahr der irischen Secondary School, dem „Transition Year“, welches der deutschen zehnten Klasse entspricht. Das „TY“ ist freiwillig und soll den Schülern Zeit geben, sich zu entwickeln und sich über ihre berufliche Zukunft Gedanken zu machen.
Für mich war es das Beste, was mir hätte passieren können. Wir unternahmen unzählige Ausflüge, die mich nicht nur an neue Aktivitäten wie Autofahren oder „Airsoft“-Spiele heranführten, sondern mir auch viele Orte meiner Lieblingsinsel zeigten. Zudem boten die Ausflüge eine tolle Gelegenheit, mit meinen irischen Mitschülern Freundschaften zu schließen. Ich war glücklicherweise die einzige Austauschschülerin in meinem Jahrgang, freundete mich aber auch mit den beiden „foreign students“ aus der Jahrgangsstufe über mir an. Irische Schüler sind sehr hohem Druck ausgesetzt, vor allem in den letzten beiden Schuljahren. Das fängt bei den dicken, in großer Anzahl vorhandenen Büchern an – nicht selten öffnet jemand sein Schließfach und muss erst mal den Bücherstapel auffangen, der ihm entgegenfällt – und hört bei den Hausaufgaben nach dem langen Schultag auf. Im „TY“ war das zum Glück anders, Hausaufgaben waren für mich eine Seltenheit und ein Schließfach brauchte ich auch nicht, da mein einziges Schulbuch die Lektüre „To Kill a Mockingbird“ für den Englischunterricht war. Die Ferien und Wochenenden verbrachte ich mit Spaziergängen in der Umgebung und Reisen mit anderen deutschen Austauschschülern, die ich beim Vorbereitungsseminar kennengelernt hatte. Gemeinsam entdeckten wir die großartige Straßenband Keywest in Galway, kletterten auf den Cliffs of Moher herum, machten die Straßen Dublins unsicher und lenkten so manches Mal mit heftigen Lachanfällen ungewollt die Aufmerksamkeit auf uns.
„Wenn die Iren eines sind, dann hilfsbereit. Auch Toleranz wird in Irland großgeschrieben“
Ich habe einmal gehört, dass alle Menschen auf der Erde einander über durchschnittlich sieben Ecken kennen. In Irland beträgt diese Entfernung aus meiner Erfahrung etwa zwei bis maximal drei Personen. Die meisten meiner Freunde hatten Verwandte an der Schule: den Cousin, die Schwester oder die Cousine fünften Grades der Nachbarin des Schwagers. Man konnte praktisch nirgendwo hingehen, ohne irgendwelchen Bekannten zu begegnen. Das „Dorf-Feeling“ erlebte man auch beim Zugfahren, vor allem, wenn man umsteigen musste. Das Maximum an Informationen, das der Online- Fahrplan bekannt gab, war der Name der Zwischenhaltestelle und die Uhrzeiten, an denen die Züge ankamen und abfuhren. Zug- und Gleisnummern schienen vollkommen irrelevant, schließlich waren die Züge ja schon immer so gefahren und würden es auch weiter tun, wozu also der unnötige Aufwand. Nachdem ich das System aber einmal verstanden hatte, war das Zugfahren auf der grünen Insel eigentlich ganz einfach. Und selbst, wenn ich mich auf den zugegebenermaßen sehr kleinen irischen Bahnhöfen mit kaum mehr als drei Gleisen doch einmal verlief, konnte ich mich zur Not an meine Mitreisenden wenden, denn wenn die Iren eines sind, dann hilfsbereit. Auch Toleranz wird in Irland großgeschrieben. Natürlich gab es hin und wieder Ausnahmen, wie überall auf der Welt. Im Allgemeinen waren jedoch zum Beispiel viel weniger Außenseiter in meiner irischen Klasse als in meiner Jahrgangsstufe in Deutschland, und alle bemühten sich zumindest, niemanden offensichtlich auszugrenzen.
„Über die Schlucht spannten sich zwei Stahlseile für das ,Zip-Lining‘„
Ein Highlight in der Schulzeit war definitiv der dreitägige Campingtrip im Mai. Damit keine falschen Vorstellungen entstehen: Von den Temperaturen her fühlte es sich noch immer an wie März. Am ersten Tag wanderten wir mehrere Stunden zum Activity Centre in Castletownroche im County Cork, wo wir in Vierergruppen die Zelte aufbauten und noch am Abend zwei Aktivitäten im Programm hatten: Klettern im Hochseilparcours und „Zip-Lining“. Ich denke, unter Klettern kann sich jeder etwas vorstellen, aber das „Zip-Lining“ möchte ich einmal näher erklären. Das Activity Centre befand sich im bzw. rund um das Blackwater Castle. Der Name klingt wohl etwas spektakulärer, als es war. Fakt ist jedoch, dass dieses kleine Schlösschen auf einem Berg liegt und an drei Seiten von einer recht tiefen Schlucht umschlossen ist, durch die ein kleiner Fluss plätschert. Über diese Schlucht spannten sich zwei Stahlseile für das „Zip-Lining“. Wir bekamen einen Gurt, wie man ihn fürs Klettern benutzt, sowie einen Helm, wurden von einem Mitarbeiter startklar gemacht, und schon sausten wir am Seil über die bewaldete Schlucht auf die andere Seite, wo wir von einem anderen Mitarbeiter gebremst wurden – den ich selbst fast umgeworfen hätte, weil ich in einer Seitwärtsdrehung ankam. Nachdem ich mein Gleichgewicht wiedergefunden hatte, ging es zur zweiten Station, wo das andere Seil über die Schlucht gespannt war. Nach dem Abendessen und einem Lagerfeuer flüchteten wir vor der Kälte in die Zelte, was leider nicht viel brachte, und am nächsten Morgen krochen wir wenig ausgeruht wieder heraus.
„Da hat sich wieder gezeigt, dass man beim Schüleraustausch nie alleine ist“
In den folgenden zwei Tagen stand eine Wanderung an, außerdem Paintball, Bogenschießen, „High Swing“, eine Art übergroße Schaukel aus circa 20m Höhe, und „River Tubing“, bei dem wir in großen Schwimmreifen den Fluss in der Schlucht hinuntertrieben. Es war zwar kalt, aber aufgrund der vielen Stromschnellen auch sehr lustig. In einem viel zu kleinen Bus für 25 Personen mit Gepäck ging es am Nachmittag des dritten Tages zurück zur Schule. Wenige Wochen später hieß es für mich „goodbye Ireland“, da das Schuljahr bereits Ende Mai vorbei war. Meinen Rückflug von Cork zum Flughafen London Heathrow und weiter nach Hamburg trat ich alleine an. Doch im ersten Flugzeug fiel mir ein Mädchen mit Irlandfahne in der Hand auf, mit dem ich nach der Ankunft in London ins Gespräch kam, da wir beide den gleichen Anschlussflug suchten. Auch sie war als Austauschschülerin in Irland gewesen, und gemeinsam gelangten wir durch das Labyrinth London Heathrow in das Flugzeug nach Hamburg. Da hat sich wieder gezeigt, dass man beim Schüleraustausch nie alleine ist, wie sehr es auch manchmal den Anschein hat. Letztendlich kann ich sagen, dass sich der Auslandsaufenthalt wirklich gelohnt hat. Natürlich kann ich wie wohl jeder Austauschschüler von schlechten Momenten erzählen, in denen ich mich nach meinem deutschen Zuhause sehnte. Aber mit der Zeit wurde es besser, denn ich wusste: Letztes Mal hatte ich das Heimweh schon besiegt, dann würde es auch dieses Mal klappen. Und so wurde ich mit jeder schlechten Erfahrung stärker und das Abenteuer Ausland wurde einfacher. Um es mit dem Songtext von The Script zu sagen: „That’s how a superhero learns to fly.”
Carla Kiel, 16, wohnt in Hamburg und möchte nach der Schule wahrscheinlich im Bereich Tourismus studieren und arbeiten – und auf jeden Fall wieder nach Irland reisen.
Lust auf mehr Erfahrungsberichte?
Dann klick auf den Schüleraustausch-Koala!