Aller guten Dinge sind drei
Knapp zehn Minuten bleiben uns noch, bis wir aus dem Haus müssen. Amaury hat längst noch nicht aufgegessen und Adrien steht gähnend vor dem Badezimmerspiegel. Immerhin putzt er sich mittlerweile seine Zähne.
Verzweifelt versuche ich den Kleinsten, Amaury, davon zu überzeugen, dass ein Joghurt mit Honig doch gar nicht so schlecht schmeckt, und schaffe es schließlich, ihn zum Essen zu bringen. Parallel dazu fordere ich Adrien nun schon zum dritten Mal auf, sich die Schuhe anzuziehen. Ein Blick auf die Uhr, noch fünf Minuten. Amaury muss noch angezogen werden und aus dem Flur höre ich wieder Adrien, der mit seinem großen Bruder Maxime über den besten Platz zum Schuheanziehen streitet. Ein Klirren lässt mich zu Amaury blicken. Er hat die Joghurtschüssel umgeschmissen und grinst mich an. Auch eine Art, nicht essen zu müssen. Hätte mir jemand vor der Abreise nach Frankreich gesagt, wie anstrengend das Leben als Au-Pair sein kann, hätte ich dann abgelehnt? Ich hoffe nicht, denn dann fehlten mir viele wunderbare Erfahrungen und wertvolle Begegnungen mit tollen Menschen. Dabei fasste ich den Entschluss, als Au-Pair nach Frankreich zu gehen, ziemlich spontan. Kurz vor meinem Abitur wurde mir nämlich klar, dass es keinen Plan für die Zeit nach der Schule gab. Die Idee, für ein Jahr ins Ausland zu gehen, gefiel mir und so besuchte ich Infoveranstaltungen zum Thema und beriet mich mit Freunden, die schon eine Zeit im Ausland verbracht hatten. Französisch entwickelte sich in der Oberstufe zu einem meiner Lieblingsfächer und außerdem interessierte ich mich für das Leben und die Kultur unserer französischen Nachbarn. Die Vorstellung, Kinderbetreuungsstunden zu übernehmen, bereitete mir tatsächlich überhaupt keine Probleme, denn ich war seit drei Jahren als Trainerin in einem Sportverein tätig. Darüber hinaus ging ich regelmäßig Babysitten. Und doch war ich mir einfach nicht sicher, ob dies der richtige Weg für mich sein sollte.
Nach den schriftlichen Abiturprüfungen überlegte ich deswegen zunächst, ob ich mich nicht doch für ein Freiwilliges Soziales Jahr in Deutschland entscheiden sollte. Aber schließlich war der Wunsch, als Au-Pair nach Frankreich zu gehen, einfach größer. Also füllte ich die Bewerbungsunterlagen aus, schrieb einen Brief an eine potenzielle Gastfamilie und wartete ab, was passiert. Und dann, sogar noch vor meinen mündlichen Abiturprüfungen, bekam ich den ersten Gastfamilienvorschlag: Eine Familie mit drei Jungen, dem vierjährigen Amaury, dem siebenjährigen Adrien und dem zehnjährigen Maxime aus Dijon, einer Stadt im Burgund. Mit Jungs in dem Alter hatte ich keine Erfahrungen und die Stadt, Dijon, sagte mir bis auf den Senf ehrlich gesagt auch nichts. Als ich jedoch das Foto im Anhang öffnete und mich drei süße Kinder anlächelten, entschied ich mich, sie bei einem Skype-Gespräch kennenzulernen. Von vielen ehemaligen Au-Pairs hatte ich gehört, dass dies ein guter Weg ist, herauszufinden, ob die Familie und das Au-Pair zusammenpassen. Dem kann ich nur zustimmen. Nach dem Gespräch war ich jedenfalls so unglaublich angetan von der Familie, dass ich es kaum erwarten konnte, nach Dijon zu reisen.
Und dann war es so weit. “Partir, c‘est toujours mourir un peu”, auf Deutsch „Abschied nehmen ist immer wie ein bisschen sterben.“ Ganz so dramatisch war es vielleicht nicht, schwer fiel mir der Abschied natürlich trotzdem. Einen Tag vor meiner Abreise war ich zu meiner Verwunderung noch ziemlich entspannt. So richtig konnte ich mir wahrscheinlich einfach nicht vorstellen, was es bedeutet, ein Jahr von zu Hause weg zu sein. Dies änderte sich schlagartig am nächsten Tag, als ich meine Liebsten ein letztes Mal in den Arm nahm und alleine in den Zug stieg. Während der siebenstündigen Fahrt verwandelte sich die Wehmut allerdings bald in Aufregung und Vorfreude. Und schon stand ich, vollgepackt mit einem riesigen Koffer und zwei Rucksäcken, mitten auf dem quirligen Bahnhof von Dijon. Glücklicherweise erblickte ich ziemlich schnell meine Gastfamilie. Wie in Frankreich üblich, wurde ich sehr herzlich mit den typischen „Bisous“ begrüßt. Das Gepäck lieferten wir kurz in meinem neuen Zuhause ab, und nachdem ich auch noch gleich die Oma der Jungs kennenlernen durfte, gingen wir in ein Restaurant. Ich freute mich darauf, das erste Mal so richtig französisch zu essen, lehnte jedoch ab, als mein ältestes Gastkind mir stolz seine Weinbergschnecken anbot.
„Ich musste lernen, mich durchzusetzen und den Kindern ihre Grenzen aufzuzeigen“
Nun war ich also angekommen in meinem Leben als Französin auf Zeit. Auf Anhieb fühlte ich mich wohl in meinem neuen Zuhause. Die vielen Stadthäuser mit französischen Balkonen, pompöse Bauwerke, Akkordeonspieler und die Franzosen, die tatsächlich mit einem Baguette unter dem Arm durch die Stadt liefen, waren genau das, was ich mir vorstellte. Allerdings wurde mir auch ziemlich schnell bewusst, was es heißt, den Alltag mit drei kleinen Kindern zu meistern. Das Au-Pair-Leben bedeutete leider nicht nur Spaß und Abenteuer. Plötzlich fand ich mich mit drei fremden Kindern am Frühstückstisch wieder und musste dafür sorgen, dass sie sich nicht stritten, pünktlich zur Schule kamen und vor allem Respekt vor einem hatten. Ich übernahm eine große Verantwortung und musste mich nebenbei ja auch noch in einer völlig neuen Umgebung und Sprache zurechtfinden. Die ersten Wochen waren sehr anstrengend und es gab Momente, in denen ich an meiner Entscheidung zweifelte. Mit drei quirligen kleinen Jungen auf Französisch zu diskutieren, wer denn nun wem die Spielkarte weggenommen hat, oder klarzumachen, dass ein Sitzstreik im Garten einen nicht davor bewahrt, in die Schule zu müssen, war zu Beginn vor allem sprachlich eine große Herausforderung. Ich musste lernen, mich durchzusetzen und den Kindern ihre Grenzen aufzuzeigen. Mit den Wochen änderte sich meine Situation jedoch. Ich lebte mich in meine Aufgaben ein, begann zur Sprachschule zu gehen, freundete mich mit zwei anderen Au-Pairs an und lernte vor allem die Kinder besser kennen. Irgendwann gab es schließlich auch die Augenblicke, die jedes Au-Pair einfach nur genießt. In einer Decke zusammengekuschelt mit den Kindern im Bett zu sitzen und dabei französische Geschichten vorzulesen, die „Bisous“ vor dem Schlafengehen oder das strahlende Lächeln der Jungs, wenn sie mich vor der Schule erblickten.
„Als Au-Pair ist man irgendetwas zwischen Ersatzmama und großer Schwester“
„Und was macht man den ganzen Tag als Au-Pair, wenn man nicht gerade durch die Innenstadt schlendert, Akkordeonspielern zuhört oder einen Weinkeller besichtigt?“ Diese oder ähnliche Fragen bekam ich immer mal wieder zu hören. Na ja, verallgemeinern kann man die Aufgaben eines Au-Pairs in einer Gastfamilie sicherlich nicht. Es kommt immer auch auf die Vorstellungen der Familie an, bei der man unterkommt. Grundsätzlich ist man als Au-Pair irgendetwas zwischen Ersatzmama und großer Schwester. Dementsprechend breit gefächert sind die Aufgaben. Fast immer bereitet man das Frühstück vor, bringt die Kinder zur Schule und holt sie wieder ab, spielt mit ihnen und badet sie. Ich kochte häufig auch das Abendessen und brachte die Geschwister ins Bett, wenn die Eltern auf Geschäftsreise waren. Dazu kommen natürlich die unvorhersehbaren Aufgaben, wie Bälle aus der Gartenhecke angeln, Trostpflaster auf winzige Wunden kleben oder, wenn die Piratenschlacht in der Badewanne mal wieder etwas wilder ausfiel, ein überflutetes Badezimmer trockenlegen. Ganz nebenbei wurde ich durch die Jungen zur echten Expertin für Lego, Star Wars und Fußball. Um ein bisschen Abstand von meinem Au-Pair-Alltag zu bekommen, unternahm ich an den Wochenenden und in den Ferien immer etwas mit meinen Freunden. Dabei versuchten wir, möglichst viel von Frankreich zu sehen. Wir besuchten viele kleine Städte im Burgund, Disneyland, Paris, Versailles, Straßburg und das Lichterfest in Lyon. Selbstverständlich durften auch die vielen großen und kleinen Weinkeller und Käsereien nicht fehlen und in Dijon war die Moutarderie, in der der bekannte Senf hergestellt wird, ein absolutes Muss.
„Auf die gemeinsamen Mahlzeiten wird sehr großer Wert gelegt“
Mein persönliches Highlight war allerdings die Fahrt an die Côte d‘Azur. Meine Freundin und ich verbrachten einen Tag in Marseille, frühstückten dort am alten Hafen und besichtigten die prächtige Wallfahrtskirche Notre-Dame de la Garde. Gegen Abend fuhren wir mit einem Bus nach Nizza. Türkisblaues Wasser und strahlender Sonnenschein begrüßten uns am nächsten Morgen. Es folgten zwei unvergessliche Tage und Nächte voller guter Laune, Partys und vielen netten Menschen. Falls ihr euch fragt, wie die Menschen in Frankreich so ticken und ob sie wirklich so stur sind, wie viele Leute behaupten, so kann ich dem nur absolut widersprechen. Während der gesamten Zeit meines Frankreichaufenthalts machte ich keine einzige negative Erfahrung. Ganz im Gegenteil, ich wurde immer freundlich empfangen und häufig sogar mit einem deutschen Satz von den Franzosen überrascht. Auch Englisch wurde mir, besonders am Anfang, mehrmals angeboten. Ein Klischee stimmt jedoch, nämlich, dass Franzosen viel und lange essen. Auf die gemeinsamen Mahlzeiten wird sehr großer Wert gelegt. So kam es vor, dass wir sonntags in der Regel locker bis zu drei Stunden am Tisch saßen, redeten und aßen. Neben Vor-, Haupt- und Nachspeise gab es zum Abschluss einen Käse- und Salatgang mit Wein und abschließend einen Kaffee.
“Die Nationalfeiertage, die ich miterleben durfte, wurden begangen wie Geburtstage“
Die französischen Spezialitäten stellten sich für mich dabei als sehr gewöhnungsbedürftig heraus. Besonders die Fleischgerichte waren häufig nicht so mein Fall. Auf den Speisekarten fand man Dinge wie Schweinefüße, Kalbskopf, Mousse von der Entenleber oder aber „Andouillette“, eine Innereienwurst hauptsächlich aus dem Magen und Darm vom Schwein. Genauso wichtig wie das Essen ist den Franzosen ihr Nationalstolz. Die Nationalfeiertage, die ich miterleben durfte, wurden begangen wie Geburtstage. Die Franzosen schmückten die Straßen mit ihren Nationalflaggen, sie aßen, tranken und tanzten ausgelassen zum Teil bis spät in die Nacht. In der Erziehung wird im Allgemeinen viel Wert darauf gelegt, die Kinder so früh wie möglich mit der französischen Geschichte vertraut zu machen. So ziemlich jedes Kind kennt hier die Begriffe „Liberté“, „Égalité“, „Fraternité“ und weiß, worum es in der Französischen Revolution ging. Und so kam es bei Amaury, Adrien und Maxime auch schon mal vor, dass sie beim Spielen gelegentlich die Nationalhymne summten. Meiner Familie war es zudem sehr wichtig, ihre Kinder in die Politik des Landes einzubeziehen. Am Abend der Präsidentschaftswahl saßen wir zum Beispiel vier Stunden gemeinsam vor dem Fernseher und schauten uns Interviews der Kandidaten an. Dabei wussten die Jungen bereits sehr genau, in welches politische Lager Emmanuel Macron oder Marine Le Pen einzuordnen waren.
„War es das Abenteuer meines Lebens?“
Bleibt noch zu klären, was das Jahr als Au-Pair in Frankreich mir gebracht hat, oder was es mir bedeutet. Veränderte es mich? War es das Abenteuer meines Lebens? Ich kann nur sagen: „Une année à l‘étrangère te fait grandir!“, ein Auslandsjahr lässt dich erwachsen werden. Bevor ich die Reise nach Dijon antrat, las ich so oft den Satz: „Ein Auslandsjahr macht dich selbstbewusster und reifer.“ Und tatsächlich kann ich diese Aussage nur unterstreichen. Zu wissen, dass ich es geschafft habe, in einem anderen Land und in einer fremden Sprache allein zurechtzukommen, und ich ganz nebenbei auch noch drei kleine Jungen für mich begeistern konnte, macht mich auf jeden Fall ein bisschen stolz. Zu Anfang gab es sicherlich aber auch Situationen, in denen ich daran zweifelte, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Häufig waren das Momente, in denen ich mich etwas überfordert fühlte und ich nicht so richtig wusste, wie es weitergehen sollte. Dann machte ich mir jedoch klar, dass es komisch wäre, wenn man mal eben ins Ausland geht und alles immer nur nach Plan laufen würde. Und dass Probleme dazu da waren, gelöst zu werden. Wenn mir dann auch noch ein Siebenjähriger stolz den selbstgedeckten Frühstückstisch präsentierte oder ich von einem Franzosen ein Kompliment für meine Französischkenntnisse bekam, dann wusste ich wieder, dass es alle Mühe wert war. Ob es ein Abenteuer war? – Mais oui! Quelle question?
Ann-Kathrin Nothnagel, 21, studiert momentan Wirtschaftsfranzösisch und möchte später in den Journalismus gehen oder als Vermittlerin zwischen Deutschland und Frankreich arbeiten.
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