Bilingual in Montréal
Ich war schon immer sehr sprachaffin und lerne in der Schule seit mehreren Jahren drei weitere Fremdsprachen. Ich liebe es, neue Sprachen und ihre Akzente kennen und sprechen zu lernen, aber ich wollte nie ins Ausland.
Zum einen, da ich Angst vor Abschieden habe, und zum anderen, da ich es mir nie zugetraut hätte, für eine längere Zeit mein geliebtes und gewohntes Zuhause zu verlassen. Aber in erster Linie hielt mich tatsächlich der Abschied von meiner Familie und meinen Freunden in Deutschland davon ab, ein neues Abenteuer zu beginnen. Meine zwei Jahre ältere Schwester war für ein Jahr in Neuseeland und kehrte vor zwei Jahren mit vielen neuen und unvergesslichen Eindrücken zurück, was mich ein wenig neidisch machte. Da ich auf die Frage, ob ich auch ein Auslandsjahr machen möchte, zunächst immer mit „Nein“ geantwortet hatte, aber dann doch abenteuerlustig wurde, recherchierte ich im Internet nach möglichen Ländern, die mein Interesse wecken könnten. Ich behielt die Idee, ins Ausland zu gehen, noch ein weiteres halbes Jahr für mich und meldete mich derweil für einen einwöchigen Englandaustausch über meine Schule an. Als ich dann meine Austauschschülerin aus England empfing, erwachte in mir die Neugier auf mehr, ohne dass ich überhaupt schon den Gegenbesuch in England angetreten hatte. Nach Weihnachten beichtete ich meiner Mutter, dass ich nun doch ins Auslandsjahr gehen wollte. Sie war von dieser Entscheidung ziemlich überwältigt, dennoch stand sie mir mit Rat und Tat zur Seite und wir suchten nach einem passenden Land und der passenden Stadt für mich.
Für mich stand fest, dass ich lieber in ein spanisch- oder französischsprachiges Land wollte, obwohl Englisch eigentlich wichtiger gewesen wäre. Zur Auswahl standen Spanien, Argentinien, Costa Rica, Frankreich oder Australien und Neuseeland. Mein Favorit war Argentinien, bis ich vom bilingualen Programm meiner Organisation in der französischen Provinz Kanadas erfuhr. Ich war von dem Programm, in einer französischen Familie zu leben und zu einer englischen High School zu gehen, begeistert. So bewarb ich mich für die bilinguale Großstadt Montréal. Nach einem Bewerbungsgespräch und der darauffolgenden Zusage für das Programm ging es erst richtig los. Es folgte stapelweise Papierkram, der auszufüllen war und zurück zu meiner Organisation geschickt werden musste. Ich musste außerdem einen französischen Gastfamilienbrief schreiben und eine Fotocollage gestalten.
Nachdem all das erledigt war, ging das Warten auch schon los. Neugierig und aufgeregt ging ich jeden Tag zum Briefkasten und wartete ungeduldig auf Post. Dann endlich kam die erlösende Nachricht, in der ich meine Schule und Gastfamilie erfuhr. Meine High School war die Saint-Lambert International und meine Gastfamilie lebte in Boucherville rund 30 Minuten von der Schule entfernt. Die Gastfamilie bestand aus meiner Gastmutter und zwei Gastschwestern, 20 und 23 Jahre alt, von denen die Ältere schon ausgezogen war. Außerdem lebte dort ein kleiner Hund namens Bailey. Ich war sehr glücklich und kontaktierte meine Gastmutter sofort. Leider dauerte es mehrere Tage, bis ich eine Antwort bekam. Ein Kontakt kam vorerst leider nicht zustande, aber glücklicherweise konnten wir uns noch eine Woche vor dem Abflug zum gemeinsamen Skypen verabreden. Dabei bekam ich einen netten Eindruck von der Gastfamilie, konnte Fragen stellen und die Vorfreude stieg.
Zu dem Zeitpunkt hatte ich auch schon seit fast einem Monat Ferien und hatte mich schon von meinen Freunden verabschiedet. Der Abschied war tränenreich und mir wurde erst so richtig klar, wie ich alle vermissen würde. Drei Tage vor meinem Abflug verabschiedete ich mich von meinen Verwandten bei einem gemeinsamen Grillen und es flossen viele Tränen, obwohl ich wusste, dass ich sie wiedersehen würde. Danach ging es ans Kofferpacken. Ich hatte bereits alles auf das Gästebett gelegt und musste so nur noch die wichtigsten Sachen einpacken. Es passte alles ziemlich gut, sodass ich am Ende den Koffer noch mit 4kg Süßigkeiten für die Gastfamilie auffüllen konnte. Wenig später war es dann so weit: Mein Wecker klingelte bereits um 4 Uhr morgens. Nach einer aufregenden und viel zu kurzen Nacht hieß es fertig machen und auf zum Frankfurter Flughafen.
Während der Autofahrt musste ich immer wieder mit den Tränen kämpfen. Ich war schon immer sehr nah am Wasser gebaut und auch dieser Abschied fiel mir schwer. Ich machte mir sehr viele Gedanken und die ersten Zweifel kamen hoch. War es die richtige Entscheidung, ein Jahr in ein völlig fremdes Land, in eine neue Gastfamilie ohne Freunde und Bekannte zu gehen? War es das überhaupt wert, alles in Deutschland stehen und liegen zu lassen? Diese Gedanken versuchte ich mit positiven Hoffnungen zu füllen. Am Flughafen traf ich mich mit drei anderen Austauschschülern und gemeinsam ging es nach Montréal. Uns allen ging es ziemlich ähnlich, jedoch konnten wir es nicht abwarten, endlich zu landen. Wir wurden bei schönstem Wetter von unserem Koordinator empfangen. Alles verlief gut und endlich war der Moment eingetroffen, auf den wir so lange gewartet hatten. Mein Abenteuer startete genau dort und genau zu diesem Zeitpunkt – ein Jahr voller Höhen und Tiefen!
„Ich konnte es kaum erwarten, auf eine kanadische High School zu gehen“
Wenig später traf ich endlich meine Gastfamilie und der erste Kontakt war sehr herzlich und freundlich. Wir fuhren zusammen nach Hause und beendeten den Tag mit einem Snack auf dem Balkon. Mein Zimmer war klein, aber fein. Leider gab es keine richtige Kommode für meine Wäsche und keinen Schreibtisch, aber damit kam ich klar. Ich war total glücklich und freute mich auf die nächsten Monate. Mit ein wenig Jetlag ging es früh ins Bett und ich stand erst spät am nächsten Morgen auf. Leider ließ mein Heimweh nicht lange auf sich warten, denn meine Gastfamilie stellte sich als sehr beschäftigt heraus. Und wenn sie mal nicht bei der Arbeit waren, so waren sie mit Freunden unterwegs. Für mich blieb nicht viel Zeit übrig. Ich weinte viel und hatte gehofft, etwas von der Stadt zu sehen, aber ohne Freunde und völlig alleine in dieser fremden Umgebung war dies nicht möglich. Nach dem ersten Wochenende ganz allein in einem noch fremden Haus ging endlich die Schule los. Nachdem ich bei einem Treffen mit dem Schuldirektor schon andere Austauschschüler kennengelernt hatte und wir zusammen auch schon in Downtown und auf dem Mount Royal waren, konnte ich es kaum erwarten, noch mehr neue Leute kennenzulernen und auf eine kanadische High School zu gehen. Ich fand viele Freunde und unternahm viel. Ich kannte mich immer besser in der Stadt aus und genoss es. Doch leider lief es in meiner Gastfamilie nicht so gut, wie ich es mir vorgestellt hatte. Die Konversationen wollten nicht laufen und es wurde kaum geredet. Ich war sehr unglücklich und wendete mich an meinen Koordinator, der mich aber nicht wirklich ernst nahm und meinte, dass es an mir liegen würde. Die Enttäuschung war groß und ich versuchte, mehr zu reden. Leider war das nicht immer möglich, da selten jemand zur gleichen Zeit wie ich zu Hause war. So gab es kaum Möglichkeiten, sich besser kennenzulernen.
„Wir redeten und lachten viel miteinander“
Als es nach rund drei Monaten immer noch nicht besser geworden war, meldete sich auch meine Gastmutter bei meinem Koordinator. Die Chemie zwischen meiner Gastfamilie und mir wollte einfach nicht stimmen. Wir setzten uns zusammen und redeten, aber es änderte nichts. Nachdem ich mit meinem Koordinator endlich persönlich ins Gespräch kam und er endlich anfing, eine neue Gastfamilie zu suchen, hoffte ich darauf, endlich wechseln zu können. Er hatte bereits eine Möglichkeit, mit der ich einverstanden gewesen wäre, aber er wollte noch nach einer anderen Gastfamilie suchen. Ich weiß bis heute noch nicht, wonach genau er suchte, und schlussendlich wechselte ich dann doch zu der ersten Gastfamilie, die er aufgetan hatte. Ich war aufgeregt und wusste nicht, ob eine Gastfamilie, die nur aus einer 75-jährigen Dame bestand, besser sein würde. Meine neue Gastmutter war komplett französisch und lebt in einer Wohnung unter ihren beiden Töchtern, die beide verheiratet sind, eigene Kinder haben und auch jeweils eine deutsche Austauschschülerin aufgenommen hatten, die ich schon kannte. Mit anfänglichen Kommunikationsschwierigkeiten lernten wir uns schnell kennen und verstanden uns sehr gut. Wir aßen zusammen und spielten sehr oft abends noch stundenlang Karten. Zudem redeten wir viel miteinander und lachten dabei viel, insbesondere dann, wenn ich anfing, mich mit Händen und Füßen zu verständigen. Ich durfte bei gemeinsamen Familienfeiern wie einer „Graduation“, Ostern oder einem Geburtstag den Rest der Großfamilie näher kennenlernen. Alle nahmen mich nett auf und ich war sehr glücklich, die Gastfamilie endlich gewechselt zu haben.
„Montréal ist eine der schönsten Großstädte, die ich bis jetzt gesehen habe“
Nach einem Monat ging es für mich nach Calgary zu meinen Verwandten. Dort verbrachten wir zwei Wochen zusammen und unternahmen vieles. So war ich das erste Mal Skifahren, war mit Schlittenhunden unterwegs und erkundete einfach die Berge und Calgary. Ich verbinde diese tolle Stadt mit vielen Erinnerungen. Nach dieser Auszeit blieben mir nur noch drei weitere Monate in Montréal. Ich versuchte diese Zeit so intensiv wie möglich zu nutzen, erkundete mit meinen Freunden die Stadt und ging shoppen. Die Highlights waren das „Ziplining“, das Lasertag-Spielen und das Betrachten der Skyline vom Mt. Royal. Montréal ist eine der schönsten Großstädte, die ich bis jetzt gesehen habe, und ich hoffe, dass ich bald wieder in meine zweite Heimat zurückkehren kann. Zwischenzeitlich gab es auch an meiner kleinen High School im Süden Montréals Schulaktivitäten, wie zum Beispiel die Fashion Show, an der ich teilnahm. Wir bekamen Kleidung geliehen und sind dann auf einem Laufsteg, mit richtiger Beleuchtung und einem tollen Publikum, gelaufen. Es war ein einmaliges Erlebnis.
Mit der Zeit wurden immer mehr intensive Freundschaften geschlossen und ich wollte gar nicht mehr nach Hause. Mit dem letzten Schultag wurde mir schmerzlich bewusst, dass bald meine Familie nach Kanada kommen würde und ich dann mein zweites Leben hinter mir lassen müsste. Dieser Tag kam auch leider viel zu schnell. Nach den Abschlussprüfungen waren die Tage nur noch voller Pläne. Eine Geburtstagsparty mit Übernachtung, ein letzter Tag in meinem Lieblingsfreizeitpark La Ronde und eine Poolparty. Die letzten Fotos wurden gemacht und die letzten Umarmungen ausgetauscht. Bei mir liefen die Tränen, auch wenn ich mir einredete, dass der Abschied nicht für immer sein würde. Trotzdem fiel es mir schwer, meine neuen Freunde zurückzulassen.
“Ich bin so froh, diese Chance bekommen und diese Entwicklung durchgemacht zu haben“
Als meine Eltern mich am Ende meines Auslandsjahres abholten, rundeten wir meine Erlebnisse mit einer Rundreise durch den Osten Kanadas ab. Zuvor musste ich jedoch noch von meiner Gastfamilie Abschied nehmen. Wie erwähnt, hasse ich Abschiede, und so verlief auch dieser Abschied tränenreich und ich hoffe sehr auf ein baldiges Wiedersehen. Für uns ging es danach nach Québec City, nach Tadoussac zum „Whale Watching“, bis hoch zur Gaspésie-Halbinsel. Wir entdeckten wunderschöne Orte und reisten gemeinsam mit einem Wohnmobil mehrere tausend Kilometer. Das Wetter war teils regnerisch und teils sehr warm. Während der Reise holten wir meine Schwester in Ottawa, der Hauptstadt Kanadas, ab. Die Freude war riesig und die Familie war endlich wieder vereint. Weiter ging es durch diverse Nationalparks bis nach Toronto und zu den Niagara-Fällen. Ich liebe das Land nach wie vor und bin so begeistert, dass ich unbedingt so schnell wie möglich wiederkommen möchte, um noch mehr zu sehen. Ich bin so froh, diese Chance bekommen zu haben und diese Entwicklung durchgemacht zu haben. Ich habe so viel gelernt. Aber viel zu schnell ging es wieder mit dem Flugzeug nach Deutschland, in mein altes Zuhause, in den Schulalltag, zurück zu meiner Verwandtschaft und zu meinen Freunden. Im Flugzeug las ich mir die schönen Abschiedstexte meiner kanadischen Freunde durch und konnte gerade so verhindern zu weinen. Ein Gefühlschaos machte sich breit und ich hatte Angst vor allem, was jetzt passieren würde. Ich wäre dem Ganzen am liebsten aus dem Weg gegangen und in meinem zweiten Zuhause geblieben. Doch die Angst war umsonst, denn ich lebte mich unglaublich schnell zu Hause ein. Alles war wie immer und Probleme blieben aus. Der Kontakt zu meinen kanadischen Freunden und meiner Gastfamilie ist nicht regelmäßig, aber vorhanden. Ich habe schon mehrmals mit meinen besten Freunden geskypt und einmal mit meiner Gastmutter telefoniert. Außerdem hat mich meine deutsche Freundin aus Kanada besucht, was sehr schön war. Ich kann nur sagen, dass alles aus einem Grund passiert, und so war mein Schuljahr im Ausland die beste Erfahrung meines Lebens, an die ich mich gerne zurückerinnere.
Carolin Birkenbach, 17, besucht derzeit die gymnasiale Oberstufe und möchte nach ihrem Abitur Französisch auf Lehramt studieren.
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