Kia Ora, Aotearoa

Austauschjahr am anderen Ende der Welt

Nr. 7 / 2017, S. 22-24
  • GESCHRIEBEN VON: RAHEL HERZOG
  • LAND: NEUSEELAND
  • AUFENTHALTSDAUER: 12 MONATE
  • PROGRAMM: SCHÜLERAUSTAUSCH
  • ERSCHIENEN IN: (NIX FÜR) STUBENHOCKER.
    DIE ZEITUNG FÜR AUSLANDSAUFENTHALTE,
    Nr. 7 / 2017, S. 22-24

„Kia Ora!“ Das ist Maori und bedeutet so viel wie „Hallo“. Während meines Austauschjahres in Neuseeland habe ich unglaublich viel gesehen und gelernt und nichts beschreibt ein Austauschjahr besser als der Ausspruch: „Exchange is not a year in a life, it’s a life in a year!“

Als ich vor über zwei Jahren angefangen habe, zum Thema Schüleraustausch zu recherchieren, bin ich auf dieses Zitat gestoßen und seither habe ich es immer in meinem Hinterkopf. Jetzt, wieder zurück in der Schweiz nach zwölf wahnsinnig erlebnisreichen Monaten in Neuseeland, kann ich es nur hundertprozentig bestätigen. Die Vorfreude ist ja bekanntlich eine der schönsten Freuden. So war es auch für mich. Fast ein Jahr, bevor ich abflog, war der Vertrag unterschrieben und das große Warten ging los. Warten, bis ich Bescheid bekomme, wo in Neuseeland ich lande, welche Schule ich besuche und wer meine Gastfamilie sein wird. Monate vor meinem Abflug verschlang ich alles, was mir zum Thema Austausch und Neuseeland in die Hände kam. Ich las Blogs, Erfahrungsberichte, sprach mit ehemaligen Austauschschülern und las viele Bücher über Neuseeland. Von Zeit zu Zeit mischten sich aber auch negative Gedanken unter meine Vorfreude. Ich fragte mich, wieso ich das überhaupt mache. Schließlich ist es in der Schweiz doch auch schön. Im Gespräch mit anderen angehenden Austauschschülern wurde ich beruhigt, da es allen gleich ging. Zweifel sind ganz normal, solange die Vorfreude überwiegt. Und das hat sie ganz klar bei mir. Mit jedem Tag rückte mein Abenteuer näher und meine Vorfreude stieg. So ungefähr drei Monate vor meinem Abflug bekam ich endlich eine E-Mail von meiner Organisation bezüglich meiner Gastfamilie. Die Familie bestand aus den Eltern und einem 17-jährigen Sohn und nahm gleichzeitig mit mir auch eine Austauschschülerin aus Dänemark auf.

Der Abschied von Freunden und Familie fiel mir nicht allzu schwer. Mir war bewusst, dass ich sie vermissen werde, aber auch, dass ich sie in nur einem Jahr wiedersehen werde. Und während des Jahres blieb ich über Skype in Kontakt. Die ersten paar Tage in Neuseeland verbrachte ich in Auckland in einem Vorbereitungscamp mit allen anderen Austauschschülern aus ganz Europa, die mit mir hinflogen. Wir waren um die 50 Leute und unternahmen viele tolle Sachen in Auckland, wie Strandbesuche, Segeln und eine Besichtigung des Sky Towers. Nach drei erlebnisreichen Tagen ging es auch schon weiter nach Whangarei, wo ich den Rest des Jahres verbringen sollte. Ich kam an einem Freitag an und am Montag startete die Schule. Bevor ich also Zeit hatte, die Schweiz zu vermissen, war ich schon wieder voll beschäftigt mit Schule und außerschulischen Aktivitäten. Meine Schule war die Whangarei Girls‘ High-School. Anders als viele Austauschschüler habe ich mir die Schule nicht selber ausgesucht. Ich war erst etwas skeptisch, eine Schule mit 1.400 anderen Mädchen zu besuchen. Ich stellte mir Schule ohne Jungen ganz schön langweilig vor. Im Nachhinein kann ich aber sagen, dass ich positiv überrascht worden bin. Das Schulklima war sehr gut und die Befürchtung, dass mehr Mädchen gleichzeitig auch mehr Drama bedeuten, bestätigte sich zum Glück überhaupt nicht. Soziale Kontakte mit dem anderen Geschlecht kamen dennoch nicht zu kurz, da die „Boys‘ High“ direkt neben der „Girls‘ High“ lag. Für die Austauschschüler wurden oft auch gemeinsame Aktivitäten organisiert.

junger Mann sitzt an Holztisch und tippt auf Laptop
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Der Schulalltag in Neuseeland war völlig anders, als ich es von der Schweiz her gewohnt bin. Mein Schultag begann um 8:45 Uhr und am Nachmittag waren wir schon um 15:20 Uhr fertig. Wie an fast jeder Schule in Neuseeland bestand eine Uniformpflicht. Abgesehen davon, dass es recht kalt war, im Winter mit einem Rock herumzulaufen, hat eine Uniform fast nur Vorteile. Erstens muss man nicht so viel Kleidung mitbringen und sich während des Jahres auch weniger kaufen. Zweitens kann sich niemand über deine Kleidung lustig machen. Und zu guter Letzt spart man unendlich viel Zeit am Morgen, da man nicht überlegen muss, was man anziehen soll. Für den Unterricht belegt man sechs Fächer, von denen nur Mathe und Englisch obligatorisch sind, während die anderen Fächer frei wählbar sind. Ich hatte unter anderem Kochen, Tanzen, Computer Media Design und Outdoor Education als Fächer. Outdoor Education war eines meiner Lieblingsfächer, da wir neben wenig Theorie viel Praxis hatten. Dieses Jahr durfte ich an einem zweitägigen Kajak-Trip teilnehmen, wir gingen segeln und erkundeten, nur mit Kerzen bewaffnet, eine Höhle. Zudem bin ich stolz darauf, dass ich auch ein paar Wörter in Maori, der Sprache der Ureinwohner, gelernt habe. Ich hatte das Glück, ein halbes Jahr Maori in der Schule lernen zu dürfen, zusammen mit Schülerinnen aus der 10. Klasse. Alle meine anderen Fächer hatte ich mit der 13. Klasse, allerdings wäre Maori auf diesem Level viel zu schwierig für mich gewesen. Zu meinem Vorteil basiert das neuseeländische Schulsystem aber auf einem Kurssystem und so war es kein Problem, Klassen unterschiedlichen Levels zu besuchen.

„Ich probierte Fechten aus und trat der Kammermusik bei, mit der wir auch an einem lokalen Wettbewerb teilnahmen“

Die Schulen bieten auch viele außerschulische Aktivitäten an. Das Angebot ist meist riesig. Ich probierte Fechten aus und trat der Kammermusik bei, mit der wir auch an einem lokalen Wettbewerb teilnahmen – eines meiner persönlichen Highlights. Dadurch, dass die Schule am Nachmittag so früh endete, hatte ich viel Freizeit. Zusammen mit meiner Gastschwester aus Dänemark trat ich den Sea Scouts (See-Pfadfindern) bei und wir hatten sehr viel Spaß. Außerdem lernte ich viel Neues, wie segeln und rudern. Als langjährige Geigenspielerin entschied ich mich zudem, der lokalen Jugendmusik beizutreten. Das war eine meiner besten Entscheidungen überhaupt, da es mir wahnsinnig viel Spaß gemacht hat und ich dort sehr gute Freunde gefunden habe. Dank dieser Freunde hörte ich auch von Sistema, einem Musikprogramm mit Ursprung in Venezuela, das Kindern aus benachteiligten Familien ermöglicht, ein Instrument zu erlernen, ohne dafür bezahlen zu müssen. Ich wurde gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, dort mitzuhelfen, und obwohl ich mir nicht sicher war, ob ich dazu fähig bin, kleinen Kindern das Geigenspiel beizubringen, sagte ich zu. Ich habe meine Entscheidung nie bereut. Mein Leben wurde bereichert durch die ansteckende Freude der Kinder, die Musik und die Gesellschaft der anderen Helfer. Aus Fremden, die sich zufällig am gleichen Programm beteiligten, wurden lebenslange Freunde. Sistema fand zweimal die Woche statt und wurde ein sehr wichtiger und großer Bestandteil meines Austauschjahres. Ich würde sogar sagen, Sistema ist das Beste, was mir je passiert ist. Ich habe enorm viel gelernt über das Unterrichten, Musikkunde in Englisch, aber vor allem auch über mich selbst. Ich bin an Herausforderungen gewachsen, habe an Selbstvertrauen gewonnen und gelernt, dass alles möglich ist, wenn man nur für seine Träume kämpft und nie aufgibt.

„Nach und nach öffnete ich mich und knüpfte erste Freundschaften“

Das Leben mit einer Gastfamilie ist nicht immer einfach. Man ist gezwungen, mit völlig fremden Menschen zu leben, die eine andere Sprache sprechen und zum Teil völlig andere Wertvorstellungen und Essgewohnheiten haben. Zum Glück kam ich von Anfang an recht gut aus mit meiner neuseeländischen Familie. Was mir zunächst mehr Probleme bereitete, war das Zusammenleben mit meiner gleichaltrigen Gastschwester aus Dänemark. Die ersten zwei Monate wurden wir einfach nicht warm miteinander. Dann stand ein Umzug mit der ganzen Gastfamilie an und irgendwie änderte das alles. Von da an kamen wir viel besser miteinander aus und sie wurde eine richtig gute Freundin. Die Tatsache, dass wir das Gleiche durchmachten, schweißte uns enorm zusammen. Wir hatten die gleichen Freuden, aber auch die gleichen Herausforderungen zu meistern. Am Anfang des Jahres war ich recht schüchtern in diesem mir noch fremden Land und die Sprachbarriere machte das Ganze nicht einfacher. Schnell aber lernte ich, dass Kiwis, wie sich die Neuseeländer selbst nennen, freundliche Menschen sind, die nur das Beste für dich wollen. Nach und nach öffnete ich mich und knüpfte erste Freundschaften. Ich hätte niemals gedacht, dass sich während nur eines Jahres so tiefe Freundschaften entwickeln können. Ich habe in der Schule wundervolle Freunde gefunden, vor allem aber auch in der Jugendmusik und Sistema. Ich würde allen empfehlen, mindestens eine Freizeitaktivität zu finden, die so richtig Spaß macht. Dort trifft man auf Gleichgesinnte und der Grundstein für eine Freundschaft ist gelegt. In der Schule, insbesondere einer großen Schule, kann es etwas schwieriger sein, die richtigen Leute zu finden, mit denen man seine Mittagspausen verbringen möchte.

„Mein Jahr in Neuseeland war wundervoll, neuartig, erlebnisreich, traurig, schön, lang, kurz, unbequem, anders, toll und einfach unbeschreiblich“

Mit Heimweh und Kulturschock hatte ich glücklicherweise nie schwer zu kämpfen. Ich hatte etwas Heimweh, nachdem ich bereits drei Monate in Neuseeland war und mit Fieber im Bett lag. Eine Woche lang Bettruhe verleitet zu negativen Gedanken. Nach den ersten paar Monaten ist die anfängliche Euphorie verflogen, ein neues Leben aber noch nicht vollständig aufgebaut. In dieser Phase kann es öfters zu Heimweh kommen. Mit meiner Genesung legte sich das Heimweh aber wieder. Umgekehrt hatte ich viel mehr mit Heimweh und Kulturschock zu kämpfen, als ich in die Schweiz zurückkehrte. Alles war so gleich und doch ungewohnt und ich vermisste Neuseeland. Für mich war es einfach, die Schweiz zu verlassen, da ich wusste, dass ich meine Familie und Freunde in einem Jahr wiederhaben würde. Wann ich aber zurück nach Neuseeland kann, steht in den Sternen. Mein Jahr in Neuseeland war wundervoll, neuartig, erlebnisreich, traurig, schön, lang, kurz, unbequem, anders, toll und einfach unbeschreiblich. Man muss es erlebt haben, um es völlig zu verstehen. Gerade die schwierigen Momente haben dieses Jahr zum wertvollsten Jahr meines bisherigen Lebens gemacht. Man kann auch schöne oder schlechte Erlebnisse zu Hause haben, aber nichts ist vergleichbar mit den Erlebnissen eines Austauschschülers. Austauschschüler sind mutig und verlassen ihr bequemes und schönes Leben zu Hause, um in eine neue „Welt“ einzutauchen. Sprache und Kultur sind ihnen fremd und sie kennen niemanden. Aber weil wir so viel stärker sind, als wir jemals dachten, meistern wir jede Herausforderung und wachsen daran. Das Gefühl, dass man sich ein eigenes Leben auf der anderen Seite der Welt aufgebaut hat, ohne fremde Hilfe, ist einfach wundervoll und unbeschreiblich. Es macht all die Schwierigkeiten, die man unterwegs angetroffen hat, wett. Ich würde es sofort wieder machen und ich kann es nur weiterempfehlen. Um mit einem Zitat von Walt Disney zu schließen: „If you can dream it, you can do it!“

Rahel Herzog, 17, macht in naher Zukunft ihren Schulabschluss und möchte dann noch einmal nach Neuseeland zurückkehren und ihre Gastschwester in Dänemark besuchen.

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