Austauschjahr – Nicht nur Spiel, Spaß und Sonnenschein
Der deutsche Schriftsteller Kurt Tucholsky hat einmal gesagt: „Reisen ist die Sehnsucht nach dem Leben.“ Im Rückblick auf meinen zehnmonatigen USA-Aufenthalt scheinen genau diese Worte meine Beweggründe für die Reise am besten zu beschreiben.
Ich wollte etwas von der Welt sehen und Dinge erleben, anstatt immer nur in Büchern davon zu lesen. Ich wollte wissen, was Film und was Realität ist. Dazu kam, dass Amerika und besonders die englische Sprache mich schon lange fasziniert hatten. Wann und wie ich allerdings konkret die Entscheidung zu einem Auslandsjahr getroffen habe, weiß ich nicht mehr. Irgendwann war es einfach da, das Wissen: „Ich will nach Amerika!“ – verknüpft mit Tagträumen und Wunschvorstellungen, wie sie im Endeffekt doch jeder hat. Wer einen Austausch plant, hegt und pflegt Erwartungen an seine Zeit im Ausland. Leider werden diese jedoch oft nicht erfüllt. Woran das liegt? Meiner Meinung nach ist es ganz einfach: Viele Vorstellungen haben nichts mit der Realität zu tun. Euphorische Erfahrungsberichte, Erfolgsgeschichten und glänzende Bilder in Broschüren und Katalogen wecken völlig falsche Hoffnungen und Erwartungen. Ernüchterung trifft einen dann hart, wenn man im Gastland ankommt und es nicht aussieht wie bei „High School Musical“ und man nicht gleich am ersten Tag Freunde fürs Leben findet. Ein Austausch ist eben nicht immer Spiel, Spaß und Sonnenschein und genau aus diesem Grund habe ich mich entschieden, meinen Erfahrungsbericht etwas anders zu gestalten.
Natürlich würde ich auch gerne erzählen, dass ich die Nationalen Meisterschaften gewonnen, einen glorreichen Schulabschluss gemacht und mit meiner großen Liebe auf dem Abschlussball getanzt habe. Die Wahrheit ist jedoch: Ich bin unsportlich, durfte keinen Abschluss machen und auch nicht zum berüchtigten „Prom“. War mein Auslandsjahr deshalb ein Reinfall? Die Antwort ist ein ganz klares „Nein“. Im Gegenteil! Obwohl ich nicht behaupten möchte, dass die zehn Monate in Amerika durchweg zu den besten meines Lebens zählen, so würde ich sie doch um nichts in der Welt missen wollen. Gerade im Rückblick beginne ich zu erkennen, wie viele wertvolle Erfahrungen ich gemacht und Erinnerungen ich gesammelt habe, die mich mein Leben lang begleiten werden. Jetzt aber zum eigentlichen Auslandsaufenthalt: Nachdem ich einige abenteuerliche Erfahrungsberichte gelesen habe, würde ich sagen, dass mein Jahr in den USA eher unspektakulär war. Das begann schon bei der Vorbereitung. Alles Organisatorische lief erstaunlich glatt, einschließlich der Beantragung meines Visums, und ich bekam die Informationen zu meiner Gastfamilie bereits acht Monate vor der Ausreise, was definitiv nicht die Regel ist. Die Wartezeit bis zum Beginn meines Auslandsjahrs verging dann wie im Flug und gehört mit zum besten Teil der ganzen Erfahrung. Nicht umsonst heißt es: „Vorfreude ist die schönste Freude“. Auch der Flug, ein Einführungsseminar in New York und die ersten Tage in den USA waren super aufregend, die fremde Sprache, das unbekannte Land und die vielen neuen Leute eine Herausforderung.
Wie sich sehr schnell zeigte, sollten dies nicht die einzigen Herausforderungen bleiben. Zwar war mir bereits vor der Ausreise die religiöse Ausrichtung meiner Familie bekannt – mein Gastvater war und ist immer noch der Pastor der örtlichen Baptisten-Gemeinde –, aber es hat eine Weile gedauert, bis mir die Auswirkungen dieser Tatsache wirklich bewusst wurden. Die eher strengen, konservativen Ansichten meiner texanischen Gastfamilie haben mich so manches Mal hart auf die Probe gestellt und es mir erschwert, mich mit anderen Schülern zu verabreden. Freunde zu finden, wenn man immer vermittelt bekommt, dass das nicht gerne gesehen wird und dass die Leute, mit denen man etwas unternehmen möchte, nicht der „richtige Umgang“ sind, ist nicht einfach. Außerdem war ein Großteil der Zeit mit verpflichtenden Gottesdiensten verplant. Um dies einmal in Zahlen zu verdeutlichen: Während ich mit meiner Gastfamilie etwa 120mal in der Kirche und bei anderen religiösen Veranstaltungen war, habe ich nur etwa zehnmal etwas ohne ein Mitglied meiner Familie unternommen. So bin ich zum Beispiel mit ein paar Klassenkameraden beim Homecoming sowie bei einem Benefizlauf gewesen und habe mehrere wunderschöne Abende mit Freunden aus der Schule verbracht. Gerade diese seltenen Ausnahmen gehören zu den besten Erinnerungen, die ich an meinen USA-Aufenthalt habe, und ich denke heute noch mit viel Freude daran zurück.
„Die Ansichten meiner texanischen Gastfamilie haben mich hart auf die Probe gestellt“
Der Fairness halber möchte ich festhalten, dass meine Gastfamilie sich die größte Mühe gegeben hat, mir eine wunderschöne Zeit zu bereiten. Sie haben alles in ihrer Macht stehende getan, um mein Jahr unvergesslich zu machen, und es ist ihnen auch gelungen. Damit ich mich in meinem neuen Zuhause sofort heimisch fühlen konnte, hatte meine Gastfamilie das Zimmer, in dem ich geschlafen habe, in meiner Lieblingsfarbe gestrichen und ein paar neue Möbel sowie Bettwäsche erstanden. Außerdem wurde immer viel Rücksicht auf meine Essgewohnheiten und anderen Eigenarten genommen und bei Problemen – schulischen und teilweise auch privaten – haben mir meine Gasteltern und -geschwister stets zur Seite gestanden. Ich erinnere mich an viele tolle Momente mit meiner Gastfamilie. Bei gemeinsamen DVD- und Spieleabenden sowie beim Essen haben wir viel Spaß gehabt, und auch den einen oder anderen Ausflug unternommen, zum Beispiel in eine deutsche Kommune. Meine drei Gastgeschwister und ich haben uns super verstanden und ich hatte endlich den großen Bruder, den ich mir schon immer gewünscht hatte. Die beiden Mädchen der Familie waren zwar von Grund auf verschieden, aber ich bin mit beiden super ausgekommen, besonders als ich den Bogen raus hatte, religiöse, politische und kontroverse Themen zu umgehen.
„ich hatte endlich den großen Bruder, den ich mir schon immer gewünscht hatte“
Insbesondere der Schulalltag war für mich eine positive Erfahrung, wenn man einmal von dem wenig schmackhaften Mensaessen absieht. Der leicht zu bewältigende Unterrichtsstoff hat mir Erfolgserlebnisse beschert und besonders von den Lehrern habe ich viel Bestätigung bekommen. Das amerikanische Schulsystem ermöglicht es den Schülern, auch den Austauschschülern, ihr Potenzial optimal auszuschöpfen, auch wenn Atmosphäre und Unterricht auf den ersten Blick recht locker wirken. An amerikanischen High Schools gibt es allerdings viel mehr Verhaltensregeln, als man es von deutschen Schulen gewohnt ist. Gerade in konservativen Staaten kann der Dresscode sehr gewöhnungsbedürftig sein, ebenso wie das Verbot von Kraftausdrücken. Das gilt im Übrigen oft nicht nur für das Umfeld Schule, sondern auch für den Umgang in der Familie. Was in Deutschland als normal gilt, kann in Amerika als unhöflich aufgefasst werden. Wer sich aber an diese, doch recht einfachen, Regeln hält, sollte ohne Probleme das Beste aus seinem Auslandsjahr herausholen können.
„Gerade in konservativen Staaten kann der Dresscode sehr gewöhnungsbedürftig sein“
Bleibt noch zu sagen, dass ich neben dem „American Way of Life“ nicht zuletzt natürlich viel über mich selbst und den Umgang mit anderen Menschen gelernt habe. Ein Jahr in einer fremden Kultur eröffnet ungeahnte Einblicke und lässt neue Ansichten entstehen. Durch die Mitarbeit bei der Schülerzeitung meiner High School habe ich zum Beispiel festgestellt, was mir ein Betriebspraktikum in Deutschland nicht vermitteln konnte – nämlich, dass der Beruf des Journalisten nichts für mich ist. Und ein Jahr unter Baptisten hat mich Dinge über die Bibel gelehrt, die zwei Jahre Konfirmandenunterricht unerwähnt gelassen haben. Außerdem habe ich Deutschland noch nie so zu schätzen gewusst wie in den – zugegeben nicht wenigen – Momenten des Heimwehs, die mich während meines USA-Aufenthalts geplagt haben. Dennoch würde ich jederzeit wieder meine Koffer packen und noch einmal das Abenteuer „Amerika“ wagen, denn das Fernweh ist noch nie so heftig gewesen wie jetzt, wo ich amerikanische Luft geschnuppert habe. Eine Kleinstadt in Texas ist schließlich nicht alles, was das „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ zu bieten hat. Ich brenne darauf, andere Teile der Staaten kennenzulernen und noch mehr amerikanische Lebenserfahrungen zu sammeln, obwohl ich mittlerweile seit über einem Jahr wieder in „good old Germany“ bin.
Im Nachhinein kann ich folgendes Resümee ziehen: Texas ist definitiv kein zweites Zuhause für mich geworden und auch zu meiner Gastfamilie habe ich kaum noch Kontakt. Der Grund dafür ist allerdings keinesfalls ein Streit oder sonstiger schlimmer Vorfall, sondern einfach die Tatsache, dass wir so verschieden sind und so unterschiedliche Interessen haben. Außerdem hat es, so schön die Rückkehr war, einige Zeit gedauert, nach einem Jahr im Ausland wieder einigermaßen Anschluss in Deutschland zu finden. Es gibt heute noch Dinge, von denen ich mir wünschte, sie wären anders gelaufen, sowohl während als auch nach meinem Aufenthalt in den USA. Trotzdem kann ich nicht sagen, dass ich es bereue, zehn Monate in Amerika gelebt zu haben. Ich würde einen solchen Austausch jederzeit noch einmal machen und kann ihn nur jedem ans Herz legen. Man wächst über sich hinaus und wie schon Johann Wolfgang von Goethe schrieb: „Die Reise gleicht einem Spiel; es ist immer Gewinn und Verlust dabei, und meist von der unerwarteten Seite; man empfängt mehr oder weniger, als man hofft. Für Naturen wie die meine ist eine Reise unschätzbar: sie belebt, berichtigt, belehrt und bildet.“
Emmi de Vries, 17, lebt in Kaltenkirchen und besucht die 12. Klasse eines Hamburger Gymnasiums. Nach ihrem Abitur möchte sie Medien- und Kommunikationswissenschaften studieren, entweder komplett im Ausland oder mit der Option auf Auslandssemester.
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