Berufsausbildung in Asien
Im nächsten Monat haben Hongkong und ich unseren ersten Jahrestag! Denn vor genau einem Jahr bin ich, so kann ich im Nachhinein sagen, für meine Ausbildung in diese gewaltige, beeindruckende Stadt gestolpert.
Die Situation in der Zeit rund um die Abiturprüfungen war ganz typisch für mich: Zwischen all den Abivorbereitungen wurden viele Pläne von mir geschmiedet, aber leider keiner so ganz konkret verfolgt. Studium unbedingt, aber was genau und jetzt gleich schon? Vielleicht – der Praxiserfahrung wegen – doch eine Berufsausbildung, aber lohnt das denn? Ins Ausland? Auf jeden Fall auch, man muss sich ja international orientieren! Ich recherchierte, verwarf Pläne wieder, bewarb mich für Verschiedenes, bekam Ablehnungen und Vertröstungen sowie Zusagen. Im Juni, während der finalen Phase meiner schulischen Laufbahn, stand ich zwischen der Entscheidung: Studium in den Niederlanden oder einjähriger Au-Pair-Aufenthalt in Spanien. Ich entschied mich leichthin für Letzteres, aber es sollte doch alles anders kommen als geplant.
Nichts liegt mir ferner, als die im Folgenden geschilderte Situation zu dramatisieren: Zwei Tage vor meinem Abflug nach Spanien bekam ich eine E-Mail von einem deutschen Automobilunternehmen in Hongkong, in der mir die Aussicht auf einen Ausbildungsplatz geboten wurde. Man würde sich für mein Profil interessieren, ob ich trotz der kurzfristigen Anfrage noch bereit sei, es sei ja schon Anfang August und Ausbildungsbeginn sei im September. Ein riesiger Schock! Tatsächlich hatte ich mich im Frühjahr des gleichen Jahres mit großem Eifer für einen Platz in diesem von der Deutschen Handelskammer organisierten Auslands-Ausbildungsprogramm beworben. Es bietet jungen Menschen die Möglichkeit, in einem europäischen oder außereuropäischen Land eine komplette, regulär anerkannte Berufsausbildung nach deutschem Vorbild zu absolvieren und so Berufs- und Auslandserfahrung zu kombinieren. Ich hatte mich für den zwei Jahre dauernden Zweig „Groß- und Außenhandel“ in Hongkong beworben, sämtliche Referenzen eingereicht, Motivationsschreiben verfasst, Formulare ausgefüllt, im Folgenden monatelang gebangt und gehofft. Denn meine vorangehenden Überlegungen in Betracht ziehend, klang eine Kombination aus Auslands- und Arbeits- und Asienerfahrung mehr als verlockend, ja, nahezu optimal, und galt lange als Plan A, bevor ich die Hoffung, angenommen zu werden, schließlich aufgegeben und die anderen zur Wahl stehenden Optionen fokussiert hatte.
Nun stand ich vor einer ausgesprochen schwierigen Situation. Ich entschied, die Reise nach Spanien trotzdem anzutreten und das bevorstehende telefonische Bewerbungsgespräch mit dem Automobilunternehmen in Hongkong abzuwarten. So war ich ein nervliches Wrack, als ich in Spanien ankam. Zur allgemeinen Aufregung, bedingt durch das neue Umfeld und die fremde Sprache, kam diese zermürbende Ungewissheit über meine nahe Zukunft. Bis zum Interview vergingen einige Tage und ich überlegte in dieser Zeit, ob die gerade aufgenommene Au-Pair-Tätigkeit überhaupt zu 100% meinen Neigungen und Vorstellungen entsprach. Mein Wunsch, nach Hongkong zu ziehen, wurde riesengroß und schließlich, nach einer weiteren quälenden Woche, bekam ich endlich eine verbindliche Zusage aus Asien. Nach einem ausgiebigen Freudentänzchen ging das Neuorganisieren los. Wie bringt man einer durchaus freundlichen Gastfamilie eigentlich bei, dass man nicht dort bleiben will, weil sich eine bessere Möglichkeit aufgetan hat? Ich fand das von mir selber etwas unfair, aber der Egoismus musste siegen. Eine lehrreiche Lektion in Sachen Konfliktbewältigung.
„Das Chaos der Vorbereitung setzte sich dort zugegebenermaßen fort“
Während zwei nervenzehrender, wie im Taumel vorübergehender Wochen musste nun auf den letzten Drücker alles Mögliche geregelt werden, denn die Zeit bis September rannte mir davon. Zurück in Deutschland, wurden Flüge gebucht, mein Visumsantrag gestellt, Freunde, Verwandte und Bekannte über meine sehr kurzfristige Planänderung informiert – was zu großer Verwirrung bei den meisten Beteiligten führte. Bald verabschiedete ich mich zum zweiten Mal in kurzer Zeit von all meinen Freunden und plötzlich stand ich schon am Hamburger Flughafen und war mehr oder weniger bereit, meine Reise nach Asien anzutreten. Nach einem sehr langen Flug – Südasien ist doch eine andere Geschichte als Spanien – kam ich in Hongkong an. Das Chaos der Vorbereitung setzte sich dort zugegebenermaßen fort. Schon die ersten Schritte auf neuem Terrain verlangten ein erhöhtes Maß an Eigenständigkeit, denn in der Orientierungsphase und bei der Wohnungssuche sind die neuen Auszubildenden weitestgehend auf sich allein gestellt. Dies kann in so ungewohntem Umfeld und bei mangelnder Ortskenntnis eine nervige Sache sein.
„Irgendwie schob sich alles in die mittlerweile so gewohnten Bahnen“
Wie auch immer, vom ersten Tag an war ich vollkommen eingenommen von dieser Stadt, dem Straßenbild, der wahnsinnigen Skyline, den Stränden und den vielen Menschen. Die Wohnungssuche in heiß-schwülem, subtropischem Klima in Verbindung mit unangekündigten Wolkenbrüchen wurde dadurch aber nur wenig versüßt, verflucht sei Hongkongs September! Irgendwie schob sich nach dieser kuriosen Anfangsphase alles in die mittlerweile so gewohnten Bahnen und ich lernte nach und nach meine neue zweite Heimat kennen und auch die Liebe zu ihr wuchs zusehends. Hongkong hört sich für die meisten Deutschen ein wenig exotisch an und auch ich wurde vom eigentlichen Charakter der Stadt trotz vorangegangener ausführlicher Recherche überrascht. Als Sonderverwaltungszone und wichtigem Knotenpunkt für China und den gesamten asiatischen Markt laufen hier täglich Handels- und Finanztransaktionen in enormem Umfang ab. Dafür muss die Metropole natürlich auf Menschen aus aller Welt eingestellt sein. Dies und die Tatsache, dass Hongkong bis 1997 britische Kolonie war, führen dazu, dass neben Kantonesisch auch Englisch offizielle Amtssprache ist. Verständigungsprobleme gibt es daher eher selten oder sie sind zumindest lösbar.
Die Stadt ist so facettenreich, dass ich nur einige Attribute nennen kann: ausgesprochen international, weniger chinesisch als erwartet und manchmal doch so sehr; schillernd, protzig, imposant, stolz bis aufgeblasen, organisiert, völlig überlaufen, köstlich. Für fast jeden gibt es eine kleine Nische. Wer sich hier nach der vertrauten Heimat sehnt, der findet deutsche Restaurants und Bars inklusive heimischer Klientel. Auch auf Brot, Käse und sonstige deutsche Vollwertkost muss nicht verzichtet werden, solange man bereit ist, zu investieren. Meiner Ansicht nach ist es jedoch besser, sich all den wundervollen asiatischen und internationalen Einflüssen hinzugeben, die in diesem riesigen Schmelztiegel zusammenkommen – nicht nur in kulinarischer Hinsicht! Man erkennt das am bunten Stadtbild, wobei es durchaus Unterschiede zwischen den verschiedenen Bezirken gibt. Hong Kong Island, das Zentrum, ist durchaus westlicher geprägt als die New Territories, die sich bis zur Grenze nach China erstrecken. Dort wohnen in einem einzigen Gebäudekomplex vermutlich mehr Menschen als in meiner Heimatstadt.
„Ich selbst wohne in einem mittelgroßen Schuhkarton“
Tatsächlich gibt es nirgends auf der Welt so viele Hochhäuser wie in Hongkong, was das Ganze ein bisschen überladen erscheinen lässt. Denn eigentlich ist für die über sieben Millionen Menschen nicht genug Platz, was aber großzügig ignoriert wird. Aus diesem Grund sind die Mieten, wenn man nicht gerade in Hongkongs Hinterland leben möchte, alles andere als erschwinglich und ich selbst wohne in einem mittelgroßen Schuhkarton. Denn während hier nach außen hin größtenteils wirklich geklotzt und nicht gekleckert wird – ich wundere mich nicht mehr, wenn ein Rolls Royce neben einem Maserati und dieser neben einem Ferrari parkt –, ist die dem deutschen Standard angepasste monatliche Ausbildungsvergütung für einen adäquaten Lebensstil nicht ausreichend. Als Auszubildende muss ich, auch aufgrund der selbst zu tragenden Schulgebühren, noch aus eigener Tasche etwas dazubezahlen. Die Situation am Arbeitsplatz ist von Betrieb zu Betrieb ganz unterschiedlich, um tiefe Einblicke in die reale Weltwirtschaft zu bekommen ist der Standort Hongkong aber vermutlich ideal! Bei den ausbildenden Firmen handelt es sich neben großen Namen auch um kleine und mittelständische Unternehmen. Die meisten haben Wurzeln in Deutschland oder sind auf sonstige Art und Weise mit meinem Heimatland verbunden.
“Ein kleines Pläuschchen mit der Kollegin in der Küche und schon ist es Mittag“
Das deutsche Ausbildungssystem ist außerhalb Europas nahezu unbekannt und meinen fast ausschließlich einheimischen Kollegen habe ich das Konzept erst einmal erklären müssen. Sie wunderten sich anfangs zum Beispiel, warum ich an eineinhalb Tagen pro Woche in der Schule statt im Büro bin. Ein typischer Bürotag beginnt bei mir um 9 Uhr. Ich fahre meinen Computer hoch, lese eingegangene E-Mails. Da ich die Abteilungen in unregelmäßigen Abständen wechsle, um einen möglichst guten Gesamteinblick ins Unternehmen zu bekommen, variiert meine Arbeit von routinemäßiger Auftragsbearbeitung bis hin zur Analyse des Konkurrenzumfeldes. Ein kleines Pläuschchen mit der Kollegin in der Küche und schon ist es Mittag. Als Abteilung gehen wir zum Lunch. Es gibt Dim Sum, eine kantonesische Köstlichkeit, die aus vielen kleinen Gerichten besteht. Anschließend geht es zurück an die Arbeit, mit der ich frühestens um 18 Uhr fertig bin. Am nächsten Tag wartet die Schule, wo die Unterrichtssprache Deutsch ist. Neben den regulären Fächern des Groß- und Außenhandels wie „Außenhandelsprozesse“ oder „Kaufmännische Steuerung und Kontrolle“ lernen wir wöchentlich in „Chinese Studies“ etwas über die chinesische Geschichte, Kultur und Gesellschaft. Zudem haben wir zwei Stunden Mandarin-Unterricht. Das ist nicht genug, um nach zwei Jahren als Sprachvirtuose herauszugehen, aber für seichten Smalltalk reicht das Erlernte allemal.
„Und wo sonst kann man mit der Schule einfach mal einen Trip in eine nahe gelegene chinesische Fabrik machen?“
Wem, wie auch mir, ein bisschen mulmig in Bezug auf das Land China ist, dem sei versichert, dass Hongkong besonders in Sachen Menschenrechte, Meinungsfreiheit, Medien und Zensur nicht mit dem Festland zu vergleichen ist. Den Kontrast bemerke ich ständig, da trotz der merklichen Abgrenzung viel über den großen Nachbarn China gelernt werden kann. Dies ist auch ein zentraler Vorteil des Ausbildungsprogramms, denn neben den grundlegend zu vermittelnden Wissensgebieten des Groß- und Außenhandels wird im schulischen Teil verstärkt Wert auf aktuellen Chinabezug gelegt. Betrachtet man den stetig wachsenden Einfluss dieses mächtigen Giganten, kann jegliches Wissen in dieser Hinsicht nur von Vorteil sein. Und wo sonst kann man mit der Schule einfach mal einen Trip in eine nahe gelegene chinesische Fabrik machen und sehen, wie, wo und unter welchen Umständen unsere Alltagsprodukte hergestellt werden?
„Schließlich nimmt die Stadt jeden von Natur aus freundlich auf“
Natürlich bedeutete mein Umzug nach Hongkong eine gewaltige Umstellung für mich. Die Tatsache, dass man zwei Jahre wirklich fern von zu Hause verbringt, sollte im Vorfeld gut durchdacht werden, aber nicht zu sehr abschrecken. Mich selbst sowie die meisten meiner Mitstreiter stellt das nämlich nicht vor große Probleme, schließlich nimmt die Stadt jeden von Natur aus freundlich auf, der genug Offenheit und Neugier mitbringt. Eine nicht unerhebliche Anzahl eines jeden Ausbildungsjahrgangs entscheidet sich sogar entweder dafür, in Hongkong zu bleiben oder sich in beruflicher Hinsicht auf Asien zu konzentrieren. Auch ich spiele in Bezug auf mein anschließendes Studium mit solchen Gedanken. Rückblickend bin ich sehr froh, dass ich – trotz der anfänglichen Hindernisse und Umwege – den Schritt gewagt habe und bereue meine Entscheidung für keine Minute. Ich möchte nicht abstreiten, dass ich hin und wieder von Heimweh geplagt wurde und werde, wenn mir alles zu laut und zu stressig ist oder wenn die ganzen kleinen, schönen Sachen fehlen, die ich zu Hause so unbewusst genießen konnte. Aber wie fast alles Unangenehme hat auch das aus anderer Perspektive und mit etwas Abstand seine guten Seiten. Weihnachten verbringe ich zu Hause in Deutschland, so habe ich das ganze Jahr etwas, auf das ich mich freuen kann. Und außerdem ist es ganz leicht, Familie und Freunde nach Hongkong zu locken – ist nämlich echt toll hier!
Julia, 20, stammt aus Kappeln an der Ostsee. Sie wird ihre Ausbildung in Hongkong im Juli 2012 abschließen. Im Anschluss möchte sie gern irgendwo in Europa studieren.
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