Eine Achterbahnfahrt der Gefühle
Boston? Nein? Bosnien? Wo ist das denn? Ach, bei Kroatien! Ist da nicht noch Krieg? Warum ich ausgerechnet für zwei Jahre nach Bosnien und Herzegowina gehen wollte und nicht in die USA oder nach Frankreich, konnte sich niemand so wirklich erklären – als ich in Mostar angenommen wurde, vermutlich noch nicht einmal ich selbst.
Von Bosnien hatte ich bisher nur im Geschichtsunterricht gehört, und dann auch immer nur im Kontext von Krieg und Unruhen. Auf den Bildern, die ich online fand, sah meine zukünftige Schule aus wie eine riesige orangefarbene Torte. Alle Informationen zu Politik und Landessprache waren mehr als verwirrend: Die offiziellen Sprachen sind Bosnisch, Serbisch und Kroatisch, aber letztendlich versteht doch jeder jeden. Drei Präsidenten regieren dieses Land, das von Menschen verschiedener Ethnien und Religionen bewohnt wird und in zwei autonome Gebiete geteilt ist. Ich muss zugeben, dass mich die Ergebnisse meiner Recherche weit ahnungsloser zurückließen, als zu dem Zeitpunkt, als ich sie begonnen hatte. Im August ging es dann los, auf den Tag genau ein Jahr, nachdem ich zu meinem ersten Auslandsaufenthalt, damals nach Prag, aufgebrochen war.
Meine Busfahrt verlief quer durch Deutschland, die österreichischen und slowenischen Alpen und das ländliche Kroatien. Wer in einem dicht besiedelten Land wie Deutschland aufwächst, erwartet alle paar Kilometer das nächste Dorf oder die nächste Stadt, und so klebte ich förmlich an der staubigen Scheibe, während mein Bus sich auf schwindelerregenden Serpentinenstraßen immer weiter südlich wand. Meine ersten Eindrücke von Bosnien waren die hochragenden Minarette einsamer Moscheen inmitten der nebelverhangenen Berge, kleine Dörfer, die sich an halsbrecherische Abgründe drängten, und unter der ersten Morgensonne dampfende Bergseen. Der westliche Balkan, in welchem Bosnien liegt, ist eines der letzten Gebiete mit wilden, natürlich belassenen Flüssen und den größten Urwäldern, die der europäische Kontinent beherbergt. Fernab der lauten und schmutzigen Städte, die Kohle und Stahl produzieren, stehen die bosnischen Berge, Flüsse und Küste in einem Kontrast, der stärker kaum sein könnte. Einige Monate später brachte ich dann jeden Donnerstagmorgen damit zu, Müll aus eben diesen Flüssen und Wäldern zu ziehen, als Teil meines außerschulischen Programms und gesellschaftlichen Engagements, das ein fester Teil des Alltags an den Schulen meiner Organisation ist.
In Mostar wurde ich von brütender Hitze und von meinen deutschen und syrischen Second Years (das heißt SchülerInnen im Jahrgang über mir) empfangen, die mir meine Koffer bis in mein neues Zuhause brachten. Die ersten Tage waren vom Aufwachen bis spät in die Nacht gefüllt mit neuen Gesichtern, Schnitzeljagden durch diese fremde und verwirrende Stadt und dem ständigen Wiederholen meines Namens und Herkunftslandes. In meinem ersten Jahr teilte ich mir ein Zimmer mit einem Mädchen aus Bosnien und einem aus England, im zweiten mit einem aus China und einem aus Thailand. Zwischen Schularbeiten und Schlaf war mein Zimmer immer angefüllt mit dem Geruch nach chinesischen Nudeln oder englischem Tee, mit fremden Sprachen, wenn meine Zimmernachbarinnen mit ihren Familie telefonierten, und mit unseren Freunden aus der ganzen Welt, die jetzt auch unsere MitschülerInnen und engste Bezugspersonen waren. Schulstress, Geschirrspülen und eintöniges Kantinenessen wirken anscheinend Wunder, wenn es um Völkerverständigung geht, denn in kürzester Zeit verstanden sich Serben und Albaner, Iraner und US-Amerikaner, Israelis und Palästinenser blendend, wenn es darum ging, sich über die Menge an Hausaufgaben oder das dritte Mal Pasta innerhalb einer Woche zu beschweren. Alle zwei Wochen kamen wir während der Schulzeit für eine Stunde zusammen und diskutierten gemeinsam ausgewählte Themen wie Abtreibung, künstliche Intelligenz und die Todesstrafe. Oft spielten sich diese Diskussionen aber nicht während des Unterrichts oder in solch einem gefestigten Rahmen ab, sondern beim Mittagessen, beim Joggen oder auf der Treppe sitzend bis tief in die Nacht.
„Zwischen Schularbeiten und Schlaf war mein Zimmer immer angefüllt mit dem Geruch nach chinesischen Nudeln oder englischem Tee.‟
In Tschechien war vor allem die Sprache eine Herausforderung für mich, und das Zusammenleben mit einer völlig fremden Familie. An der Schule lief alles auf Englisch und alle in meinem Jahrgang waren genauso neu und ahnungslos wie ich. Trotzdem bin ich mir sicher, dass ich mich als Person dort weitaus mehr weiterentwickelt habe als während meines Austauschs. In einem internationalen Internat zu leben bedeutet keinen Kulturschock, es bedeutet eine ganze Reihe von Kulturschocks. Da ist natürlich das neue Land, Bosnien, dessen Landessprache ich sehr viel mühseliger lernte als Tschechisch, denn da war ja noch meine ganze „zweite Welt‟, meine „Bubble‟. In dieser „Bubble‟ sprachen zwar alle Englisch, aber da hörten die Gemeinsamkeiten auch schon auf. Von meinen lateinamerikanischen Freunden bekam ich sehr viel mehr Körperkontakt, als das in Deutschland oder dem Großteil Europas so üblich ist, meine thailändische Zimmernachbarin konnte nicht glauben, dass ich noch nie ein Flughörnchen als Haustier gesehen habe, und meine bosnische Hausmutter war völlig entgeistert, als ich mit nassem Haar die Residenz verließ, denn „es weiß doch schließlich jeder, wie viel Unglück das bringt‟. Als ich nach meinen zwei Jahren ein kleines Fotoalbum für meine Mutter zusammenstellte, schrieb ich für sie unter jedes Bild die Länder, aus denen die Personen auf dem jeweiligen Foto kamen. Ich war selbst ein wenig überrascht, wie viele verschiedene es waren, denn einmal in Mostar angekommen, hörten Leute sehr schnell auf, Deutsche, Niederländer oder Inder zu sein, und wurden dafür Namen, Gesichter, Persönlichkeiten, Erinnerungen, Streitigkeiten und Freundschaften.
„In Mostar angekommen, hörten Leute sehr schnell auf, Deutsche, Niederländer oder Inder zu sein, und wurden dafür Namen, Gesichter, Persönlichkeiten.‟
Das klingt vielleicht kitschig, aber genau so war es. Als wir uns am Tag unseres Abschlusses unter der Brücke in der Altstadt, dem Wahrzeichen der Stadt, in den Armen lagen und unsere Tränen sich mit dem strömenden Regen mischten, da war klar, dass das hier nicht mehr einfach nur ein Schulabschluss war. Es war unsere Zeit zusammen in einer „Bubble‟, in der man keinen Streit mit einer Person anfängt, weil sie eine andere Religion hat, sondern weil sie mal wieder das Bad nicht richtig geputzt hat. In der man zusammen auf Berge klettert und Ruinen erkundet, campen geht und in winzigen Hostelzimmern übernachtet, um die restlichen Teile des Landes kennenzulernen. In der man Proteste startet, Kunstausstellungen organisiert, Hilfsprojekte für Flüchtende auf der Balkanroute ins Leben ruft und Müll aus Flüssen zieht. In der man nachts Schularbeiten erledigt, weil es tagsüber einfach so viel wichtigere Dinge zu erleben gibt.
„Ich nehme aus diesen so intensiven Jahren viele unheimlich schöne Erinnerungen mit, wobei einige durchwirkt sind mit einem bittersüßen Unterton.“
Meine Zeit in Mostar war vieles und kein Semester glich dem anderen. Dafür waren sie alle eins: intensiv. Ich habe unheimlich enge Freundschaften geschlossen, aber in manchen Fällen war es trotzdem schwer, oft auch, weil man so ganz alleine ohne erwachsene Bezugspersonen ist. Im zweiten Jahr hatte ich dann aber zum Glück eine wundervolle Tutorin, die mir in allen Belangen geholfen hat, ob mit meinen Projektwochen, bei der Bewerbung für meine zukünftige Uni, oder einfach, wenn der schulische Stress mal zu viel wurde. Dann gab es Kuchen, Kartenspiele und aufmunternde Anekdoten oder auch einen Filmeabend mit der ganzen Tutorengruppe. Meine Organisation hat es sich zum Ziel gesetzt, durch Bildung junge Menschen zusammenzubringen, um die Welt zum Besseren hin zu verändern. Aber gelingt das? Ich nehme aus diesen so intensiven Jahren viele unheimlich schöne Erinnerungen mit, wobei einige durchwirkt sind mit einem bittersüßen Unterton. Viele Erinnerungen und neu gelernte Dinge über die aktuelle Lage unserer Welt sind hart zu schlucken und lassen mich oft mit einem Gefühl der Ohnmacht zurück. Als junge, unerfahrene Menschen hatten meine MitschülerInnen und ich die Vision, dass wir in unserer Zeit in Mostar die Welt verändern könnten. So einfach klappt das natürlich nicht, aber mit jeder Suppe, die in einer Flüchtlingsunterkunft gekocht wurde, mit jeder Freundschaft, die zwischen Bosniern, Kroaten und Serben an unserer Schule geschlossen wurde, mit jeder Geschichte aus Vorkriegs- oder Kriegszeiten einer Person aus Mostar, die wir zu hören bekamen, mit jedem Stück Plastik, das wir aus den Flüssen und Büschen zogen, wurde uns nicht nur die strukturelle Ebene dieses kaputten Systems bewusst, sondern auch die persönliche und emotionale, auf der wir versuchen müssen, es zu reparieren.
Mostar war wunderschön in seinen Sonnenaufgängen und in langen philosophischen Gesprächen bei Nacht. Mostar war anstrengend durch den Schulstress und durch gelegentliches Heimweh. Aber vor allem hat Mostar es geschafft, mein Zuhause zu werden. Mein Zuhause in Form einer orangefarbenen Tortenschule, in Form von wilden Bergen, in Form von dutzenden von Gesichtern, Stimmen und Geschichten.
Rena Hänel, 19, studiert momentan europäische Studien an der Universität von Amsterdam mit Plänen für einen Masterstudiengang in europäischem und Umweltrecht und bereitet sich auf einen Austausch nach Russland in den kommenden Semestern vor.
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