Stadt der Gegensätze

Ein Semester im Kosmos Istanbul

weltweiser · Am Bosporus
GESCHRIEBEN VON: MARIA BORNER
LAND: TÜRKEI
AUFENTHALTSDAUER: 6 MONATE
ERSCHIENEN IN: (NIX FÜR) STUBENHOCKER.
DIE ZEITUNG FÜR AUSLANDSAUFENTHALTE,
NR. 4 / 2014, S. 56-57

Istanbul: Menschenmassen drängen über die bekannte Straße Istiklal Caddesi, die aufgeregt bimmelnde Straßenbahn versucht, sich einen Weg hindurch zu bahnen. Türkinnen in kurzen Röcken staksen auf ihren hohen Absätzen umher, bleiben im aufgerissenen Pflaster stecken. Maiskolbenverkäufer preisen lautstark ihre Ware an, laute Popmusik schrillt aus den Geschäften, die Luft ist voller Essensgerüche. Dicke türkische Mamas ziehen eine Heerschar an Kindern durch das Gedränge hinter sich her.

Eine Abbiegung nach rechts, die Gasse hinunter, gelangt man in eine andere Welt: halb verfallene Häuser, spielende Kinder auf den fast leeren Straßen, zwischen den Häusern gespannte Wäscheleinen, im Wind flatternde Teppiche. Tarlabaşı, ein armes Viertel, das wohl im Zuge der Gentrifizierung verschwinden wird, steht im starken Kontrast zum pulsierenden Herzen des modernen Istanbuls. Diese Gegensätze sind es, die mich am meisten an dieser Stadt faszinieren.

Ich hatte mich entschieden, für ein Semester in diesen Kosmos einzutauchen und Geschichte und Kommunikation an der Bilgi Universität in Istanbul zu studieren. Da ich mich an meiner Heimatuniversität in Erfurt im Nebenfach auf die Geschichte des Nahen Ostens spezialisiert hatte, erschien mir ein Aufenthalt in Istanbul eine willkommene Möglichkeit, nach dem Bachelorstress im 7. Semester neue Erfahrungen zu sammeln, sich fernab der Heimat zurechtzufinden, eine fremde Sprache zu lernen und auf eigenen Beinen zu stehen. Meine Universität unterstützte mich sehr bei der Vorbereitung des Aufenthaltes, beim Ausfüllen aller Formulare und der Beantragung der Erasmus-Förderung. Nach der Visumsbeschaffung, der formellen Einschreibung an der Universität und dem tränenreichen Abschied von meinen Freunden, Verwandten und meinem Partner ging es schließlich zum Flughafen. In Istanbul angekommen, holte mich meine Tutorin Ayşe ab und brachte mich zum Taksimplatz, wo ich meinen zukünftigen Mitbewohner Mustafa traf. Das WG-Zimmer hatte ich glücklicherweise über die Facebook-Gruppe der Bilgi Universität gefunden, doch mir war nicht ganz wohl bei dem Gedanken, bei einem 30-jährigen Mann einzuziehen, den ich noch nie vorher gesehen hatte. Jedoch stellte sich schnell heraus, dass meine Befürchtungen vollkommen unbegründet waren, denn Mustafa war ein toller Mitbewohner! Er hatte mir ein wunderschönes Zimmer hergerichtet, trug sofort meinen Koffer in den dritten Stock und machte sich in den ersten Tagen Sorgen, ob ich auch immer den Weg nach Hause finden würde.

Bevor die Orientierungswoche an der Universität begann, nutzte ich die Zeit, um mich in der Stadt zurechtzufinden. Bei dem Verkehr, den vielen Autos, Menschen, Hunden und Katzen war es ein Wunder, dass ich nicht angefahren wurde! Zunächst lief ich einfach drauflos, schaute mir Moscheen und den großen Basar an, fuhr auf die asiatische Seite hinüber, schlenderte über die Galatabrücke und wurde von einem netten Teppichhändler zum Mittagessen bei seiner Familie eingeladen. In dieser Zeit war ich geradezu erschlagen von den Eindrücken, da es so viel zu sehen gab. Wenn ich morgens aufstand, konnte ich mich gar nicht entscheiden, was ich zuerst unternehmen sollte. Mit Semesterbeginn war es mit den einsamen Wanderungen durch die Stadt vorbei, stattdessen begann das soziale Leben mit Kennenlernabenden, gemeinsamer Kursauswahl, Partys und Ausflügen. Die Bilgi Universität war sehr gut organisiert, insbesondere das Erasmus Office, welches wunderbare Trips und Veranstaltungen für die internationalen Studenten arrangierte. Außerdem hatte man dort immer ein offenes Ohr für alle Probleme. Es machte sich jedoch auch schnell bemerkbar, dass die Bilgi Universität eine private Hochschule ist, viele Studenten fuhren mit teuren Autos vor, gingen in High Heels zur Vorlesung und kauften sich überteuertes Essen in den campuseigenen Restaurants und Cappuccino bei Starbucks.

junger Mann sitzt an Holztisch und tippt auf Laptop
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Das Studium gestaltete sich sehr angenehm, auch wenn es wesentlich verschulter und starrer war als gewohnt – Anwesenheitspflicht, wöchentliche Tests über die Onlineplattform und konsequente Vorbereitung waren an der Tagesordnung. Die meisten Lehrveranstaltungen waren dafür weniger anspruchsvoll als an meiner Heimatuniversität. Das lag allerdings auch an der teils mangelnden Motivation meiner Kommilitonen. Interessanterweise wählten einige Studenten ihre Studienfächer nicht selbst, sondern deren Eltern, weshalb sich die Betroffenen nicht unbedingt für ihr Fach begeistern konnten. Meine Dozenten waren größtenteils sehr nett und kompetent und ich konnte einige neue Impulse aus den Seminaren mitnehmen. Durch ihren privaten Status ist die Universität sehr viel unabhängiger, sodass auch die Dozenten ihre Gedanken frei äußern können. Beispielsweise erörterte mein Geschichtsprofessor mit uns den Genozid an den Armeniern 1914, der in der Türkei nicht offiziell anerkannt wird.

„Ich fühlte mich von Anfang an willkommen!“

Es handelte sich um einen komplett englischsprachigen Studiengang, d.h. die türkischen Studenten erhielten am Ende auch einen englischen Abschluss. Leider ist der Englischunterricht in der Türkei nicht sehr gut, sodass sich viele Studenten kaum trauten, den Mund aufzumachen. Daher erklärten sich manche Dozenten dazu bereit, entgegen der Vorschriften auf Türkisch zu unterrichten. Das führte in einigen Veranstaltungen dazu, dass nur aufgrund der anwesenden Erasmus-Studenten auf Englisch unterrichtet wurde, was Frust auf beiden Seiten hervorrief. Die einheimischen Studenten waren jedoch sehr interessiert und freundlich gegenüber den internationalen Studenten, ich kam immer schnell ins Gespräch, wurde gegrüßt und eingeladen. Ich fühlte mich von Anfang an willkommen! Natürlich gehörte nicht nur das Studieren zum Erasmus-Semester, sondern auch eine Menge Freizeitaktivitäten. Meine ersten Erfahrungen mit dem Istanbuler Nachtleben sammelte ich bei studentischen Veranstaltungen und Partys. Als wir am ersten Abend nachts um 3 Uhr aus dem Club kamen, war ich überwältigt, dass die Straßen im Zentrum genauso voll waren wie tagsüber. Auf dem Taksimplatz herrschte genauso viel Verkehr wie nachmittags um 16 Uhr – das Herz dieser Stadt schläft einfach nie.

„Die Gastfreundschaft der Türken beeindruckte mich sehr!“

Mit vier anderen Mädels reiste ich nach Izmir, Pamukkale und Denizli. An jedem Ort übernachteten wir bei Verwandten oder Freunden von Kommilitonen. Die Gastfreundschaft der Türken beeindruckte mich sehr! In den Familien wurden wir ganz selbstverständlich mit offenen Armen empfangen und wie Staatsgäste versorgt. Besonders denkwürdig war der Besuch in Denizli bei der Familie eines Bekannten, die in sehr einfachen Verhältnissen auf dem Land wohnte. Die Mutter kochte ein wunderbares Abendessen für uns, welches wir auf dem gepolsterten Boden zu uns nahmen, und alles wirkte sehr urig. Am nächsten Morgen standen wir früh auf, da das Opferfest begangen werden sollte. Jede religiöse Familie schlachtet an diesem Tag mindestens ein Schaf oder eine Kuh, verarbeitet diese und verteilt das Fleisch an Nachbarn, Freunde und Bedürftige. Wir durften bei der Schlachtung der vier Schafe im Vorgarten der Familie dabei sein. Trotz meines flauen Magens war es eine interessante Erfahrung! Alles in allem hatten wir eine ganz wunderbare Reise, die eine willkommene Abwechslung zum Universitätsalltag darstellte.

„Die Freundlichkeit, Höflichkeit und Hilfsbereitschaft der Menschen hat mich tief beeindruckt“

Rückblickend möchte ich keinen Moment meiner Zeit in Istanbul missen – ich habe so viel gesehen und gelernt und kann kulturelle Unterschiede inzwischen viel besser verstehen. Die Freundlichkeit, Höflichkeit und Hilfsbereitschaft der Menschen, die als selbstverständlich aufgefasst wird, hat mich tief beeindruckt. Die Menschen gehen offener miteinander um, die Familie hat einen ganz anderen Stellenwert als hierzulande und es wird viel mehr Wert auf die Gemeinschaft und bestimmte Normen gelegt. Das ist vermutlich der Grund, warum die Türkei in Westeuropa als so konservativ wahrgenommen wird. Allerdings möchte ich nichts beschönigen, der türkische Staat ist trotz aller Modernisierungen noch immer sehr intolerant. Darüber hinaus habe ich mich in die türkische Sprache verliebt. Sie ist sehr schön und verlangt eine ganz andere Logik, da sie viel bildlicher ist als alle anderen Sprachen, mit denen ich mich bisher beschäftigt habe. Außerdem liebe ich das türkische Essen, von Mercimek Köftesi über Dolma, Kumpir, Lahmacun bis zu Baklava habe ich alles probiert. Neben dem Essen habe ich auch die Teekultur für mich entdeckt: Cay trinken, Tavla, türkisches Backgammon, spielen und über das Leben philosophieren, das ist eine ganz wunderbare Art, seinen Sonntag zu verbringen!

Maria Borner, 23, macht zurzeit ihren Master Communication Management in Leipzig und freut sich darüber, wieder eine andere Stadt zu entdecken und neue Bekanntschaften schließen zu können.

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Koala Bär
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