Türkische Gastfreundschaft: Verbunden für ein Leben lang
Unter einem Austauschjahr stellen sich viele Jugendliche einen Aufenthalt in den USA vor, mit High School, New York und „American Dream“. Aber ein Austauschjahr kann auch anders aussehen. Ganz anders.
Im Spätsommer nach der 10. Klasse war es für mich nun so weit: Zusammen mit den anderen sieben Austauschschülern meiner Organisation stand ich am Frankfurter Flughafen. Mein Traum sollte endlich wahr werden. Ein Traum, der mich nicht zu einem Schüleraustausch nach Amerika führen sollte, sondern in das Land des Döners und des schwarzen Tees, in das Land der Machos und der Gastarbeiter, in das Land zwischen Orient und Okzident – in die Türkei. Vorurteile hatten mich in dem halben Jahr vor meinem Abflug nahezu verfolgt. Nachdem ich mir zum hundertsten Mal die Ängste von Bekannten und Verwandten angehört hatte, die mich für völlig verrückt hielten und noch nicht davon überzeugt waren, mich nach einem Jahr lebend wiederzusehen, stieg ich voller Zuversicht und Vorfreude ins Flugzeug. Ich wollte mir ein eigenes Bild machen und selbst herausfinden, welche Klischees stimmen und welche nicht. Ohne ein einziges Kopftuch im Gepäck und mit naturblonden Haaren auf dem Kopf machte ich mich also auf den Weg – auf den Weg ins beste Jahr meines Lebens.
Das Jahr war eine unbeschreibliche Erfahrung. Ich wohnte in Karadeniz Ereğli, einer Kleinstadt am Schwarzen Meer circa fünf Stunden von Istanbul und etwa viereinhalb Stunden von Ankara entfernt. Ich besuchte eine türkische Schule und lernte das türkische Leben in zwei Gastfamilien kennen, da ich nach einem halben Jahr die Familie wechselte. Am Anfang war alles sehr ungewohnt. Immer war es laut, dauernd war etwas los und ich war ständig von Menschen umgeben. Ich glaube, ich habe in meinem gesamten Austauschjahr nie alleine in einem Zimmer geschlafen! Der Kulturschock der ersten zwei Monate ging schnell vorüber, und je besser ich die Sprache lernte, desto mehr gewöhnte ich mich an all das Ungewohnte. Vor meiner Ankunft konnte ich nur ein paar Brocken Türkisch und da die Bevölkerung von Ereğli zum großen Teil kein Englisch spricht, wurde ich sozusagen ins kalte Wasser geworfen. Rückblickend betrachtet war das ein immenser Vorteil, da ich nach drei Monaten schon fließend Türkisch konnte, eine Sprache, die dem Deutschen, Englischen oder Französischen nicht im Geringsten ähnelt.
Meine Schule nahm mich begeistert auf. Ich war „alman kız“, die Deutsche, und nach dem ersten Tag schon der Star. Alle 900 Schüler kannten und grüßten mich oder wollten mit mir befreundet sein. Bis zu meinem letzten Tag wurde ich noch von mir unbekannten Leuten angesprochen, die mich so gut zu kennen schienen, als würden wir uns schon seit Jahren kennen. In der Schule unterstützten mich meine Freunde sehr. Sie brachten mir Türkisch bei und halfen mir, dem Unterricht zu folgen. Das türkische Schulsystem ist sehr anspruchsvoll und die Schüler bereiten sich vier Jahre lang auf eine Prüfung vor, die für sie über die Aufnahme an einer Universität und damit über den weiteren Lebensweg entscheidet. Eine Herausforderung für Austauschschüler: Selbst nach Überwindung der Sprachbarriere hat man in den meisten Fächern kaum eine Chance, den Stoff auch nur in Ansätzen zu verstehen. Viele der Gastschüler nutzten die Zeit in der Schule zum Lesen, Musik hören oder Ausschlafen und unternahmen in ihrer Freizeit oft etwas mit anderen Austauschschülern. In meinem Ort lebte nur eine Amerikanerin und wir machten gelegentlich etwas zusammen, aber meistens war ich mit meinen türkischen Freunden unterwegs. Ich wollte die Kultur so kennenlernen und übernehmen, wie sie war, und alle Seiten des Lebens türkischer Jugendlicher mitbekommen. Deshalb nahm ich auch das zeitintensive Lernen für die Schule in Kauf. Es hat mir viel gebracht – vor allem in Chemie und Mathe habe ich sehr viel gelernt.
„Ich wurde mehrmals gefragt, ob Hitler denn der Atatürk der Deutschen sei“
Nicht nur im Bereich der Schulsysteme unterscheidet sich die Türkei von Deutschland. Anders als hier spielt Nationalstolz eine große Rolle. Viele Türken verehren ihren Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk mit Leib und Seele und sind stolz darauf, als Türken geboren worden zu sein. In der Schule wird zweimal die Woche die Nationalhymne gesungen. Atatürk zu Ehren gibt es eine Menge Feiertage, wie zum Beispiel seinen Todestag oder den von ihm eingeführten Tag der Jugend und des Sports. Das ist natürlich besonders für Deutsche sehr gewöhnungsbedürftig, genauso wie die Tatsache, dass sich meinem Eindruck nach kaum ein Türke mit dem Holocaust und der Geschichte des Zweiten Weltkriegs auskennt. Ich wurde zum Beispiel mehrmals gefragt, ob Hitler denn der Atatürk der Deutschen sei. Eine solche Aussage schockierte mich natürlich im ersten Moment zutiefst und stimmte mich sehr traurig und nachdenklich. Doch mit der Zeit lernte ich, dass die meisten Leute so etwas nicht böse meinten. Sie wussten einfach nichts über die Zeit, weil das Thema in der Schule erschreckenderweise nicht zum Stoff gehört. Also begann ich, selbst zu erklären und zu informieren. Erfolgreich, denn die meisten waren sehr überrascht und hatten nun verstanden, warum ich so verstört reagiert hatte.
„Die Türkei ist ein Land, das sich fortwährend entwickelt und irgendwo zwischen Tradition und Moderne seinen Platz zu finden versucht“
Viel weniger gewöhnungsbedürftig war überraschenderweise der Religionsunterschied. Zwar durfte ich wieder und wieder von den Vorzügen von Schweinefleisch erzählen oder das christliche Bild von Jesus als Gottes Sohn erklären, aber ansonsten war es nicht schwierig, ein ganzes Jahr als einzige Christin unter Muslimen zu leben. Ich erkannte, dass die beiden Religionen sich gar nicht so unähnlich sind und vieles eine einfache Auslegungssache ist. Die meisten Türken in meinem Umfeld trugen sowieso weder Kopftuch, noch beteten oder besuchten sie die Moschee. Als laizistischer Staat, also ein Land, das die strikte Trennung von Religion und Staat vorsieht, verbietet die Türkei das Kopftuch in allen öffentlichen Gebäuden wie zum Beispiel Schulen. Vielleicht zehn der rund 450 Mädchen an meiner Schule banden es sich nach Schulschluss für den Nachhauseweg wieder um. Die Türkei ist ein Land, das sich fortwährend entwickelt und irgendwo zwischen Tradition und Moderne seinen Platz zu finden versucht. Das ist oft schwierig nachzuvollziehen und ich denke, dass man nur nach einer längeren Aufenthaltszeit beginnt, dieses Land und seine Menschen wirklich zu begreifen.
Meine Zeit ging vorbei wie im Flug – vor allem die letzten drei Monate, das Highlight meines Jahres. Diese letzte Zeit war vor allem unvergesslich, weil ich die Gastfamilie gewechselt hatte und nun bei Dilaras Familie wohnte. Dilara war von Anfang an meine beste Schulfreundin gewesen und jetzt sollten wir Schwestern werden. Zuerst hatte ich ein bisschen Angst davor, dass sich der Umzug vielleicht negativ auf unsere Freundschaft auswirken könnte, weil wir nun ständig zusammen sein würden. Diese Befürchtung war jedoch absolut unbegründet. In nur drei Monaten wurden wir von besten Freundinnen zu weit mehr, zu Schwestern fürs Leben. Auch mit ihrer Familie verstand ich mich so gut, dass sie wahrhaftig zu meiner zweiten Familie wurde. Dilara wurde zu meiner wichtigsten Bezugsperson und ich weiß, dass ich mit ihr über alles reden kann und dass es ihr genauso geht. Wir hatten so viel Spaß zusammen und haben so viel erlebt, dass ich beim Gedanken an sie und unsere gemeinsame Zeit jederzeit anfangen könnte zu weinen. Viel zu schnell hieß es für mich wieder: zurück nach Deutschland. Ich jedoch wollte bleiben und selbst mehrere Monate nach meiner Rückkehr schwächte sich dieser Wunsch nicht wirklich ab. Ich wollte wieder zurück in die Türkei, nach Ereğli, zu Dilara und ich vermisste all das unbeschreiblich. Es wurde selbstverständlich, dass Dilara und ich jeden Sonntag telefonierten. Zudem verbrachte ich die ganzen nächsten Sommerferien in der Türkei und Dilara wird nach ihrem Schulabschluss drei Monate lang bei meiner Familie in Deutschland leben.
„Wir wurden von besten Freundinnen zu weit mehr, zu Schwestern fürs Leben“
Mein Jahr ist vorbei und es wird sich so nicht noch einmal wiederholen lassen. Was geblieben ist, sind die Erinnerungen mit all den positiven und auch negativen Erfahrungen, aus denen ich eine Menge gelernt habe. Ich spreche fließend Türkisch und träume selbst heute noch manchmal in dieser wunderbaren Sprache, in der ich mich ebenso zu Hause fühle wie in dem Land, in dem sie gesprochen wird und das ich mit ganzem Herzen vermisse. Die Gastfreundschaft, die Herzlichkeit der Menschen, die Offenheit, mit der sie dem Fremden begegnen, und die Wärme, mit der sie mich aufgenommen haben, hat mich tief bewegt und für immer mit diesem Land verbunden. Als ich am Ende meines Jahres in den Bus nach Istanbul stieg, um von dort zurück nach Deutschland zu fliegen, kippten meine Familie und meine Freunde mir Wasser hinterher. Das ist eine alte türkische Tradition nach dem Sprichwort „su gibi git, su gibi gel”, was so viel bedeutet wie „geh wie Wasser, komm wie Wasser”. Und so wird es sein. Mein Leben lang.
Jennifer Hecht, 18, lebt in Meckenheim und besucht dort die 13. Klasse eines Gymnasiums. Nach dem Abitur würde sie gern einen Freiwilligendienst im Ausland machen. Anschließend möchte Jennifer studieren und noch einmal für zwei Auslandssemester in die Türkei gehen.
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