Weltabitur in England
„Du schaffst das doch eh nicht!“ oder „Zwei Jahre sind doch viel zu lang. Das hältst du bestimmt nicht durch!“ Solche und ähnliche Aussagen wurden mir an den Kopf geworfen, nachdem ich mich dazu entschlossen hatte, für zwei Jahre nach England zu gehen, um dort meinen Schulabschluss zu machen.
Zugleich bekam ich aber auch viel positives Feedback. „Das ist eine mutige Entscheidung!“ und „Halt durch, du wirst es auf keinen Fall bereuen.“ Im August ging es los. Zusammen mit meinem Vater fuhr ich im Auto nach Hastings. Im Gepäck hatte ich neben Klamotten viele Erwartungen, Ideen und Vorsätze. Ich wollte all den Zweiflern in Deutschland zeigen, dass ich es schaffen konnte und wollte. Natürlich war mir die Entscheidung nicht leicht gefallen, bedeutete sie doch, dass ich meine Familie und alles Vertraute zurücklassen musste. Aber von Anfang an ließ ich mir offen, im Zweifelsfall schon nach einem Jahr zurück nach Deutschland zu gehen. Zudem half mir die Gewissheit, geografisch nicht allzu weit weg von zu Hause zu sein. Nach dem ersten Jahr kann ich auf viele Erfahrungen zurückblicken. Aufgegeben habe ich nicht und plane auch noch das letzte Jahr „durchzuhalten“, obwohl das Verabschieden nach den Schulferien anstrengend ist und schwer fällt. Trotz vieler Momente des Zweifelns habe ich an meiner Entscheidung festgehalten. Zurück könnte ich jetzt auch gar nicht mehr, dazu fühle ich mich viel zu wohl. Ich habe in Hastings nicht nur Freunde gefunden, die mir sehr wichtig sind, sondern auch eine zweite Familie.
Ich hatte Glück, eine sehr nette junge Familie zugewiesen zu bekommen: Carolin und Chris mit ihren beiden Söhnen David, fünf Jahre, und Lucas, drei Jahre alt. David und Lucas sind wahrscheinlich verantwortlich dafür, dass mein Englisch sich so schnell verbessert hat. Sie nahmen keine Rücksicht auf mich, stellten einfach Millionen Fragen und redeten pausenlos. Ich fand mich schnell in den Familienalltag ein und fühlte mich bald als Teil der Familie. Gleich zu Beginn stellte ich klar, dass ich im Haushalt mithelfen wollte, wie man es eben tut in einer Familie. So mache ich mein Zimmer selbst sauber, bügle meine Wäsche oder helfe in der Küche. Regelmäßig koche ich für die ganze Familie und verbessere auf die Art und Weise meine Kochkünste. Zugleich entlaste ich meine Gastmutter und komme an „Mama-Essen“, denn ich koche viele Gerichte, die ich aus meiner eigenen Kindheit kenne. Carolin ist selbst keine Engländerin. Sie ist in Schweden aufgewachsen, mit einem deutschen Vater. Sie versteht zwar Deutsch, aber wir sprechen eigentlich nur Englisch miteinander und ich freue mich darüber, dass sie meine Fehler korrigiert. Ihre zwei Söhne erzieht sie auf Schwedisch und inzwischen kann auch ich das ein oder andere Wort verstehen und sprechen. Weil Carolin das Gefühl kennt, neu in einem Land zu sein und dort zu leben, hat sie meine anfänglichen Ängste, Probleme und Erfahrungen sehr gut nachvollziehen können.
Mit Freunden hatte ich ähnliches Glück wie mit meiner Gastfamilie. Obwohl gerade am Anfang der Kulturunterschied doch zu spüren war, passte ich mich schnell an und wurde Teil einer Gruppe englischer Mädchen. Mittlerweile haben wir viel zusammen durchgemacht, von betrügenden Freunden und blöden Eltern bis hin zu Schulproblemen und Führerschein. Auch meinen achtzehnten Geburtstag feierten wir gemeinsam. In den Herbstferien waren meine englischen Freundinnen sogar zu Besuch in meiner Heimatstadt Köln und ich konnte ihnen endlich all das zeigen, von dem ich bisher nur erzählt hatte. Ein großes Thema während des ersten Jahres war das Heimweh. Es gab Phasen, in denen ich gar nicht mit meinen Eltern reden wollte, weil alles so spannend und neu war. Es gab aber auch Phasen, in denen ich starkes Heimweh hatte und alles in England doof und langweilig fand. Gerade in solchen Momenten hatte ich Probleme, mich zu integrieren, und machte alles Englische schlecht. Nachdem meine Freundinnen mich einmal darauf angesprochen hatten, wurde mir erst bewusst, dass ich ihre ganze Lebensweise beleidigte. Das hatte ich doch gar nicht beabsichtigt! Sobald klar war, dass einzig und allein mein Heimweh der Grund für meine Aussagen und Beschwerden war, war wieder alles in Ordnung. Damit solche Missverständnisse gar nicht erst wieder aufkommen können, nahm ich mir vor, allen sofort Bescheid zu geben, sollte mich das Heimweh wieder einmal überkommen.
„Wie kannst du dir zwei Jahre in England überhaupt leisten?“
Mein Leben in England besteht natürlich nicht nur aus Freunden und Gastfamilie, sondern eben auch aus Schule. Eine der Fragen, die ich in diesem Zusammenhang immer wieder gestellt bekomme, ist die nach der Finanzierung: „Wie kannst du dir zwei Jahre in England überhaupt leisten?“ Klar, ich weiß, dass England bekannt ist für teure private Internatsschulen. Ich selbst gehe jedoch auf eine staatliche Schule, an der ausschließlich Anmeldegebühren anfallen. Natürlich erhält in England die Gastfamilie Geld. Für ein Einzelzimmer mit Frühstück und Abendessen sowie den Wasser- und Stromverbrauch etc. zahle ich circa 120 Euro pro Woche an meine Gastfamilie. Zusätzlich bekomme ich von meinen eigenen Eltern ein Taschengeld, von dem ich meine Hobbys, das Ausgehen, Schulsachen oder Taxifahrten bezahle.
„Im Rahmen von CAS engagiert man sich im kreativen, sportlichen oder sozialen Bereich“
An meiner Schule kann man entweder die A-Levels machen oder alternativ mit dem Erwerb des International Baccalaureate Diplomas abschließen. Die britischen A-Levels sind am ehesten mit dem deutschen Fachabitur vergleichbar, da man nur vier bzw. drei Fächer belegt und sich somit früh spezialisiert. Wenn man nicht genau weiß, was man später machen will, dann kann das International Baccelaureate als Schulabschluss die bessere Alternative sein, da eine Spezialisierung bewusst vermieden wird. Als IB-Schüler wählt man insgesamt sechs Fächer aus den Fachbereichen Literatur, Fremdsprachen, Gesellschaftswissenschaften, Naturwissenschaften und Technik, Mathematik und Informatik sowie der Fächergruppe Kunst, Musik, Theater, Film bzw. Tanz. Aus allen Fachbereichen muss mindestens ein Fach belegt werden, ausgenommen die letztgenannte Fächergruppe. Einige Kurse – in der Regel drei – belegt man auf einem höheren Level, dem „higher level“, die restlichen Kurse auf einem Standardniveau. Zum Lehrplan gehören zusätzlich die folgenden drei „core requirements“: das Verfassen einer Facharbeit, der Besuch des Kurses „Theory of Knowledge“, der dem Bereich der Philosophie zugeordnet werden kann, und die Teilnahme an den sogenannten „CAS-Aktivitäten“. Die Abkürzung steht für „Creativity, Action, Service“. Im Rahmen von „CAS“ engagiert man sich im kreativen, sportlichen oder sozialen, also ehrenamtlichen Bereich.
Der Schulalltag ist anstrengend und da ich das International Baccelaureate mache, habe ich immer viel zu tun. Als Fächer belege ich Englisch, Kunst, Biologie und Geschichte auf dem „higher level“ sowie Mathe und Spanisch auf dem „standard level“. Unsere Lehrer duzen wir und es herrscht ein tolles Lernklima. In Deutschland habe ich mich immer nur gelangweilt; große Klassen, schlechte Ausrüstung und dumpfe Lehrer waren für mich nie interessant genug. Jetzt aber genieße ich das Lernen. In jedem Klassenraum gibt es Computer, Beamer und ein Activeboard, also einen riesengroßen Bildschirm mit Touchscreen, der als Tafel dient. An meiner Schule entscheiden sich derzeit nur relativ wenige einheimische Schüler für den IB-Abschluss. Meine „IB-Mitstreiter“ kommen also größtenteils aus aller Welt. Die Tatsache, dass viele verschiedene Kulturen aufeinandertreffen, macht den Unterricht besonders interessant. Meine Mitschüler kommen aus Nepal, Sambia, Simbabwe, Indien, Estland und Österreich.
„Ich habe eine Erfahrung gemacht, die mir keiner mehr nehmen kann“
Noch weiß ich nicht, wie mein Schulabschluss ausfallen wird. Unsere finalen Ergebnisse sind größtenteils an ein letztes großes Examen im Mai geknüpft, sodass das Endergebnis auch von der persönlichen Tagesform und ziemlich viel Glück abhängt. Selbst wenn es nicht der beste Abschluss der Welt wird, habe ich eine Erfahrung gemacht, die mir keiner mehr nehmen kann. Ich bin selbstständiger geworden. Keiner steht hinter mir und sagt, wie etwas funktioniert, gemacht oder organisiert werden muss. Ich bin für mich und die Organisation meines Alltags und meiner Hobbys selbst verantwortlich, auch wenn meine Gastfamilie mich natürlich unterstützt. Dieses langsame Unabhängigwerden tut mir sehr gut. Wenn ich beispielsweise später mit dem Studium beginne, werde ich nicht mehr ins kalte Wasser geworfen, sondern bin es schon gewohnt, mein Leben selbst zu organisieren. Und um noch einmal auf die Menschen zurückzukommen, die an mir gezweifelt haben: Ich weiß, dass ich es schaffen kann und ich bereue es auf keinen Fall, diesen Schritt gewagt zu haben!
Lisa Brausem, 18, besucht das englische Sussex Coast College in Hastings und schließt dort im Frühsommer 2011 mit dem International Baccalaureate ab. Sie plant, anschließend ein Jahr Auszeit zu nehmen, um zu reisen und ihr Spanisch zu verbessern. Studieren möchte sie gern in den Niederlanden.
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